Gesammelte Werke. Robert Musil

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Название Gesammelte Werke
Автор произведения Robert Musil
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788026800347



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gesessen habe und wo meine Mutter und wo sie. Sie sahen sich alles genau an und erboten sich, mir dieses oder jenes Stück abzukaufen. Sie sind so gründlich, diese Menschen in der Provinz, und einmal sagte einer zu mir, nachdem er alles eingehend untersucht hatte: Es ist doch schrecklich, wenn binnen wenigen Wochen eine ganze Familie ausgerottet wird! – mich selbst rechnete keiner hinzu. Wenn ich allein war, saß ich still und las Kinderbücher; ich hatte auf dem Dachboden eine große Kiste voll von ihnen gefunden. Sie waren verstaubt, verrußt, teils vertrocknet, teils von Feuchtigkeit beschlagen, und wenn man sie klopfte, schieden sie immerzu Wolken von sanfter Schwärze aus; von den Pappbänden war das gemaserte Papier geschwunden und hatte nur Gruppen von zackigen Inseln zurückgelassen. Aber wenn ich in die Seiten eindrang, eroberte ich den Inhalt wie ein Seefahrer zwischen diesen Fährnissen, und einmal machte ich eine seltsame Entdeckung. Ich bemerkte, daß die Schwärze oben, wo man die Blätter wendet, und unten am Rand in einer leise deutlichen Weise doch anders war, als der Moder sie verleiht, und dann fand ich allerhand unbezeichenbare Flecken und schließlich wilde, verblaßte Bleistiftspuren auf den Titelblättern; und mit einemmal überwältigte es mich, daß ich erkannte, diese leidenschaftliche Abgegriffenheit, diese Bleistiftritzer und eilig hinterlassenen Flecken seien die Spuren von Kinderfingern, meiner Kinderfinger, dreißig und mehr Jahre in einer Kiste unter dem Dach aufgehoben und wohl von aller Welt vergessen! – Nun, ich sagte dir, für andere Menschen mag es nichts Besonderes sein, wenn sie sich an sich selbst erinnern, aber für mich war es, als ob das Unterste zu oberst gekehrt würde. Ich hatte auch ein Zimmer wiedergefunden, das vor dreißig und mehr Jahren mein Kinderzimmer war; es diente später für Wäscheschränke und dergleichen, aber im Grunde hatte man es gelassen, wie es gewesen war, als ich dort am Fichtentisch unter der Petroleumlampe saß, deren Ketten drei Delphine im Maul trugen. Dort saß ich nun wieder viele Stunden des Tags und las wie ein Kind, das mit den Beinen nicht bis zur Erde reicht. Denn siehst du, daß unser Kopf haltlos ist oder in nichts ragt, daran sind wir gewöhnt, denn wir haben unter den Füßen etwas Festes; aber Kindheit, das heißt, an beiden Enden nicht ganz gesichert sein und statt der Greifzangen von später noch die weichen Flanellhände haben und vor einem Buch sitzen, als ob man auf einem kleinen Blatt über Abstürzen durch den Raum segelte. Ich sage dir, ich reichte wirklich nicht mehr unter dem Tisch zur Erde.

      Ich hatte mir auch ein Bett in dieses Zimmer gestellt und schlief dort. Und da kam dann die Amsel wieder. Einmal nach Mitternacht weckte mich ein wunderbarer, herrlicher Gesang. Ich wachte nicht gleich auf, sondern hörte erst lange im Schlaf zu. Es war der Gesang einer Nachtigall; aber sie saß nicht in den Büschen des Gartens, sondern auf dem Dach eines Nebenhauses. Ich begann mit offenen Augen zu schlafen. Hier gibt es keine Nachtigallen – dachte ich dabei – es ist eine Amsel.

      Du brauchst aber nicht zu glauben, daß ich das heute schon einmal erzählt habe! Sondern wie ich dachte: Hier gibt es keine Nachtigallen, es ist eine Amsel, erwachte ich; es war vier Uhr morgens, der Tag kehrte in meine Augen ein, der Schlaf versank so rasch, wie die Spur einer Welle in trockenem Ufersand aufgesaugt wird, und da saß vor dem Licht, das wie ein zartes weißes Wolltuch war, ein schwarzer Vogel im offenen Fenster! Er saß dort, so wahr ich hier sitze.

      Ich bin deine Amsel, – sagte er – kennst du mich nicht?

      Ich habe mich wirklich nicht gleich erinnert, aber ich fühlte mich überaus glücklich, wenn der Vogel zu mir sprach.

      Auf diesem Fensterbrett bin ich schon einmal gesessen, erinnerst du dich nicht? – fuhr er fort, und nun erwiderte ich: Ja, eines Tags bist du dort gesessen, wo du jetzt sitzt, und ich habe rasch das Fenster geschlossen.

      Ich bin deine Mutter – sagte sie.

      Siehst du, das mag ich ja geträumt haben. Aber den Vogel habe ich nicht geträumt; er saß da, flog ins Zimmer herein, und ich schloß rasch das Fenster. Ich ging auf den Dachboden und suchte einen großen Holzkäfig, an den ich mich erinnerte, weil die Amsel schon einmal bei mir gewesen war; in meiner Kindheit, genau so, wie ich es eben sagte. Sie war im Fenster gesessen und dann ins Zimmer geflogen, und ich hatte einen Käfig gebraucht, aber sie wurde bald zahm, und ich habe sie nicht gefangengehalten, sie lebte frei in meinem Zimmer und flog aus und ein. Und eines Tags war sie nicht mehr wiedergekommen, und jetzt war sie also wieder da. Ich hatte keine Lust, mir Schwierigkeiten zu machen und nachzudenken, ob es die gleiche Amsel sei; ich fand den Käfig und eine neue Kiste Bücher dazu, und ich kann dir nur sagen: ich bin nie im Leben ein so guter Mensch gewesen wie von dem Tag an, wo ich die Amsel besaß; aber ich kann dir wahrscheinlich nicht beschreiben, was ein guter Mensch ist.

      Hat sie noch oft gesprochen? – fragte Aeins listig.

      Nein, – erwiderte Azwei – gesprochen hat sie nicht. Aber ich habe ihr Amselfutter beschaffen müssen und Würmer. Sieh wohl, das ist schon eine kleine Schwierigkeit, daß sie Würmer fraß, und ich sollte sie wie meine Mutter halten –; aber es geht, sage ich dir, das ist nur Gewohnheit, und woran muß man sich nicht auch bei alltäglicheren Dingen gewöhnen! Ich habe sie seither nicht mehr von mir gelassen, und mehr kann ich dir nicht sagen; das ist die dritte Geschichte, wie sie enden wird, weiß ich nicht.

      Aber du deutest doch an, – suchte sich Aeins vorsichtig zu vergewissern – daß dies alles einen Sinn gemeinsam hat?

      Du lieber Himmel, – widersprach Azwei – es hat sich eben alles so ereignet; und wenn ich den Sinn wüßte, so brauchte ich dir wohl nicht erst zu erzählen. Aber es ist, wie wenn du flüstern hörst oder bloß rauschen, ohne das unterscheiden zu können!

      Vorstufen zum Nachlaß zu Lebzeiten

      Die Maus auf Fodara vedla (später: Die Maus)

[30. Oktober 1921]

      Fodara vedla, ladinische Alpe, tausend Meter und mehr über bewohnter Gegend, und noch viel weiter abseits von ihr! Wer hat da eine Bank hingestellt?

      Wer auf dieser Bank sitzt, sitzt fest. Der Mund geht nicht mehr auf. Das Atmen wird fremd; wird ein Vorgang der Natur; oh, wird nicht Atem der Natur, sondern – wenn man merkt, daß man atmet – etwas Angetanes wie eine Schwangerschaft.

      Das Gras ist noch vom Jahr vorher, so blutleer, als ob man eben einen Stein davon weggewälzt hätte. Rings sind Buckel und Mulden ohne Sinn und Zahl; Knieholz und Alpe. Aus ihrer brandenden Ruhe wird der Blick immer wieder an das runde gelbe Felsenriff hochgeworfen und rinnt in hundert Blicke zersplittert ab. Es ist nicht übermäßig hoch, aber darüber ist noch das blaue Nichts. So wüst und unmenschlich ist die Welt noch immer wie in den Schöpfungszeitaltern.

      Die kleine Maus hat sich darin ein System von Laufgräben angelegt. Maustief, mit Löchern zum Verschwinden und anderswo wieder aufzutauchen. Sie huscht im Kreis, steht, huscht im Kreis weiter. Die Menschenhand sinkt von der Lehne der Bank: ein Auge, so groß und schwarz wie ein Spennadelkopf richtet sich hin. Ist es dieses sich drehende kleine lebendige Auge oder die Unbeweglichkeit der Berge?

      Gottes Wille geschieht? Oder der Wille einer kleinen Feldmaus, vor dem du zitternd unvorbereitet stehst?

      Man weist den Gedanken an Gott als unzuständig ab. Fragt sich exakt: Wirkte es die Beweglichkeit des Auges oder die Unbeweglichkeit der ungeheuren Berge? – Und hilflos merkt man: das ist ganz das gleiche.

      Begräbnis in A. (später: Slowenisches Begräbnis)

[25. Dezember 1921]

      Auch mein Zimmer war sonderbar. Pompejanisch Rot mit türkischen Vorhängen; die Möbel hatten Risse und Fugen, in denen sich der Staub wie feinste Geröllrinnen und -bänder hinzog; dadurch war es stellenweise voll jener übermächtigen Tatsächlichkeit der Hochgebirgshalden, die so ungeheuer da sind, und in gar kein Geschehen mehr verflochten sind, und nur vom Steigen und Sinken der Flut des Lichts und der Dunkelheit bespült werden.

      Als ich das Haus zum erstenmal betrat, war es ganz vom Gestank verwester Mäuse erfüllt. In das Vorzimmer, das meines von dem der Lehrerinnen trennte, warfen diese alles, was sie nicht mehr liebten oder des Aufhebens nicht mehr für wert hielten; künstliche Blumen, Speisereste, Fruchtschalen, zerrissene schmutzige Wäsche, die das Reinigen nicht lohnte. Selbst mein Diener beklagte sich, als ich ihn Ordnung schaffen hieß, und doch war die eine schöner als ein Engel, und ihre ältere Schwester war zärtlicher als eine Mutter und malte ihr die Wangen täglich mit naiven Rosenfarben, damit ihr Antlitz außerdem