Gesammelte Werke. Robert Musil

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Название Gesammelte Werke
Автор произведения Robert Musil
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788026800347



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wie Bäume in der Ebene. Der Raum windet sich gleich einem Fluß zwischen ihnen in die Tiefe. Ein Uhu schleift zwischen ihnen nach Hause; wahrscheinlich war’s eine Krähe oder Taube. Die Häuser stehn kreuz und quer; seltsame Umrisse, abstürzende Wände; gar nicht nach Straßen geordnet. Die Stange am Dach mit den sechsunddreißig Porzellanköpfen und den zwölf Verspannungsdrähten, die ich verständnislos zähle, steht vor dem Morgenhimmel als ein völlig unerklärliches, geheimnisvolles oberstes Gebilde. Ich bin jetzt ganz wach, aber wohin ich mich auch wende, gleitet der Blick um Fünfecke, Siebenecke und steile Prismen: Wer bin dann ich? Die Amphore am Dach mit eisengegossener Flamme, tagsüber eine lächerliche Ananas, verächtliches Geschöpf schlechten Geschmacks, stärkt in dieser Einsamkeit mein Herz wie eine frische Menschenspur.

      Endlich kommen zwei Beine durch die Nacht. Der Schritt zweier Frauenbeine und das Ohr: Nicht schauen will ich. Mein Ohr steht auf der Straße wie ein Eingang. Niemals werde ich mit einer Frau so vereint sein wie mit dieser unbekannten, deren Schritte jetzt immer tiefer in meinem Ohr verschwinden.

      Dann zwei Frauen. Die eine filzig schleichend, die andere stapfend mit der Rücksichtslosigkeit des Alters. Ich sehe hinab. Schwarz. Seltsame Formen haben die Kleider alter Frauen. Die da streben zur Kirche. Längst ist ja die Seele um diese Stunde schon in Zucht genommen, und ich will nun nichts mehr mit ihr zu tun haben.

      Schafe, anders gesehen

      Zur Geschichte des Schafes: der Mensch findet heute das Schaf dumm. Aber Gott hat es geliebt. Er hat die Menschen wiederholt mit Schafen verglichen. Sollte Gott ganz Unrecht haben?

      Zur Psychologie des Schafes: der sichtbar gestaltete Ausdruck hoher Zustände ist dem der Blödheit nicht unähnlich.

      In der Heide bei Rom: Sie hatten die langen Gesichter und die zierlichen Schädel von Märtyrern. Ihre schwarzen Socken und Kapuzen an dem weißen Fell gemahnten an Todesbrüder und Fanatiker.

      Ihre Lippen, wenn sie über dem kurzen, spärlichen Gras suchten, zitterten nervös und stäubten den Ton einer erregten Metallsaite in die Erde. Schlossen sich ihre Stimmen zum Chor, so klang es wie das klagende Gebet der Prälaten im Dom. Sangen aber ihrer viele, so bildeten sie einen Männer-, Frauen-und Kinderchor. In sanften Rundungen hoben und senkten sie die Stimmen; wie ein Wanderzug im Dunkel war es, den in jeder zweiten Sekunde das Licht traf, und es standen dann die Stimmen der Kinder auf einem immer wiederkehrenden Hügel, während die Männer das Tal durchschritten. Tausendmal schneller rollten Tag und Nacht durch ihren Gesang und trieben die Erde dem Ende entgegen. Manchmal warf sich eine einzelne Stimme empor oder stürzte hinab in die Angst der Verdammnis. In den weißen Ringeln ihrer Haare wiederholten sich die Wolken des Himmels. Es sind uralte katholische Tiere, religiöse Begleiter des Menschen.

      Noch einmal im Süden: Der Mensch ist zwischen ihnen doppelt so groß als sonst und ragt wie der spitze Turm einer Kirche gegen Himmel. Unter unseren Füßen war die Erde braun, und das Gras wie eingekratzte graugrüne Striche. Die Sonne glänzte schwer am Meer wie in einem Spiegel von Blei. Boote waren beim Fischfang wie zu Sankt Petri Zeiten. Das Kap schwang den Blick wie ein Laufbrett zum Himmel und brach lohgelb und weiß, wie zur Zeit des verirrten Odysseus, ins Meer.

      Überall: Schafe sind ängstlich und blöd, wenn der Mensch naht; sie haben Schläge und Steinwürfe des Übermuts kennengelernt. Aber wenn er ruhig stehen bleibt und in die Weite starrt, vergessen sie ihn. Sie stecken dann die Köpfe zusammen und bilden, zehn oder fünfzehn, einen Strahlenkreis, mit dem großen, lastenden Mittelpunkt der Köpfe und den andersfarbigen Strahlen der Rücken. Die Schädeldecken pressen sie fest gegeneinander. So stehen sie, und das Rad, das sie bilden, regt sich stundenlang nicht. Sie scheinen nichts fühlen zu wollen als den Wind und die Sonne, und zwischen ihren Stirnen den Sekundenschlag der Unendlichkeit, der im Blut pocht und sich von einem Kopf zum andern mitteilt wie das Klopfen von Gefangenen an Gefängnismauern.

      Sarkophagdeckel

      Irgendwo hinten am Pincio, oder schon in Villa Borghese, ruhen zwei Sarkophagdeckel aus unedlem Stein zwischen den Büschen im Freien. Sie stellen keine Kostbarkeit dar, sie liegen umher. Lang hingestreckt lagert auf ihnen das Ehepaar, das sich einst zum letzten Andenken hat abbilden lassen. Man sieht viele solcher Sarkophagdeckel in Rom; aber in keinem Museum und in keiner Kirche machen sie solchen Eindruck wie hier unter den Bäumen, wo sich die Figuren wie auf einer Landpartie ausgestreckt haben und eben aus einem kleinen Schlaf erwacht zu sein scheinen, der zweitausend Jahre gewährt hat.

      Sie haben sich auf den Ellbogen gestützt und sehen einander an. Es fehlt nur der Korb mit Käse, Früchten und Wein zwischen ihnen.

      Die Frau trägt eine Frisur mit kleinen Locken, – gleich wird sie sie ordnen, nach der letzten Mode vor dem Einschlafen. Und sie lächeln einander an; lang, sehr lang. Du siehst weg: und noch immer tun sie es ohne Ende.

      Dieser treue, brave, bürgerliche, verliebte Blick hat die Jahrhunderte überstanden; er ist im alten Rom ausgesandt worden und kreuzt heute dein Auge.

      Wundere dich nicht darüber, daß er vor dir andauert; daß sie nicht wegsehen oder die Augen senken: sie werden nicht steinern dadurch, sondern menschlich.

      Hasenkatastrophe

      Die Dame war gewiß erst am gestrigen Tag aus der Glasscheibe eines großen Geschäfts herausgetreten; niedlich war ihr Puppengesichtchen; man hätte mit einem Löffelchen darin umrühren mögen, um es in Bewegung zu sehn. Aber man trug selbst Schuhe mit honigglatten, wachswabendicken Sohlen zur Schau, und Beinkleider, wie mit Lineal und weißer Kreide entworfen. Man entzückte sich höchstens am Wind. Er preßte das Kleid an die Dame und machte ein jämmerliches kleines Gerippe aus ihr, ein dummes Gesichtchen mit einem ganz kleinen Mund. Dem Zuschauer machte er natürlich ein kühnes Gesicht.

      Kleine Hasen leben ahnungslos neben den weißen Bügelfalten und den teetassendünnen Röcken. Schwarzgrün wie Lorbeer dehnt sich der Heroismus der Insel um sie. Möwenscharen nisten in den Mulden der Heide wie Beete voll weißer Schneeblüten, die der Wind bewegt. Der kleine, weiße, langhaarige Terrier der kleinen, mit einem Pelzkragen geschmückten weißen Dame stöbert durch das Kraut, die Nase fingerbreit über der Erde; weit und breit ist auf dieser Insel kein anderer Hund zu wittern, nichts ist da als die ungeheure Romantik vieler kleiner, unbekannter, die Insel durchkreuzender Fährten. Riesengroß wird der Hund in dieser Einsamkeit, ein Held. Aufgeregt, messerscharf gibt er Laut, die Zähne blecken wie die eines Seeungeheuers. Vergebens spitzt die Dame das Mündchen, um zu pfeifen; der Wind reißt ihr das kleine Schällchen, das sie hervorbringen möchte, von den Lippen.

      Mit solch einem stichligen Fox habe ich schon Gletscherwege gemacht; wir Menschen glatt auf den Skiern, er blutend, bis zum Bauch einbrechend, vom Eis zerschnitten, und dennoch voll wilder, nie ermattender Seligkeit. Jetzt hat dieser hier etwas aufgespürt; die Beine galoppieren wie Hölzchen, der Laut wird ein Schluchzen. Merkwürdig ist an diesem Augenblick, wie sehr solche flach auf dem Meer schwebende Insel an die großen Kare und Tafeln im Hochgebirge erinnert. Die schädelgelben, vom Wind geglätteten Dünen sind wie Felsenkränze aufgesetzt. Zwischen ihnen und dem Himmel ist die Leere der unvollendeten Schöpfung. Licht leuchtet nicht über dies und das, sondern schwemmt wie aus einem versehentlich umgestoßenen Eimer über alles. Man ist jedesmal erstaunt, daß Tiere diese Einsamkeit bewohnen. Sie gewinnen etwas Geheimnisvolles; ihre kleinen weichwolligen und -fedrigen Brüste bergen den Funken des Lebens. Es ist ein kleiner Hase, den der Fox vor sich hertreibt. Ich denke: eine kleine, wetterharte Bergart, nie wird er ihn erreichen. Eine Erinnerung aus der Geographiestunde wird lebendig: Insel – eigentlich stehen wir da auf der Kuppe eines hohen Meerbergs? Wir, zehn bis fünfzehn lungernd zusehende Badegäste in farbigen Tollhausjacken, wie sie die Mode vorschreibt. Ich ändere meinen Gedanken noch einmal ab und sage mir, das Gemeinsame wäre nur die unmenschliche Verlassenheit: Verstört wie ein Pferd, das den Reiter abgeworfen hat, ist die Erde überall dort, wo der Mensch in der Minderheit bleibt; ja, gar nicht gesund, sondern wahrhaft geisteskrank erweist sich die Natur im Hochgebirge und auf kleinen Inseln. Aber zu unserem Erstaunen hat sich die Entfernung zwischen dem Hund und dem Hasen verringert; der Fox holt auf, man hat so etwas noch nie gesehen, ein Hund, der den Hasen einholt! Das wird der erste große Triumph der Hundewelt! Begeisterung beflügelt den Verfolger, sein Atem jauchzt in Stößen, es ist keine Frage mehr, daß er binnen