Gesammelte Werke. Robert Musil

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Название Gesammelte Werke
Автор произведения Robert Musil
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788026800347



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und aufrecht durchs Zimmer zu gehn. Selbst wenn ich nur meine Hand hervorziehe und unter den Kopf lege, muß ich sie rasch wieder zurücknehmen. So unheimlich ist es, daß sie daliegt in der fremden Welt, ohne daß ich sie sehe. Sie ist gar nicht mehr meine Hand; ich muß sie rasch unter die Decke ziehn und wieder anheilen lassen.

      Thomas seinen Gedanken verfolgend: Wir saßen in einem Schrank und unsre Halsadern glucksten vor Aufregung. Er unterbricht sich. Aber Unsinn, wir sind keine Kinder mehr. Auf die von Regine abgeschrittenen Muster deutend. Man kommt nie aus dem Vorgezeichneten heraus. Manchmal ist mir, als wäre alles schon in der Kindheit beschlossen gewesen. Steigend, kommt man immer wieder an den gleichen Punkten vorbei, dreht sich über dem vorgezeichneten Grundriß im Leeren. Wie eine Wendeltreppe.

      Regine mit halb gespieltem, halb wirklichem Entsetzen auf die emporführende Treppe deutend: Da ist sie! Ich mag sie nicht sehn! Sie verbirgt sich am Diwan.

      Thomas selbst erschrocken: Kannst du erschrecken! Er setzt sich brüderlich ungeniert zu ihr. Heute nacht habe ich geträumt; von dir. Wir saßen wieder in einem Schrank –

      Regine: Aber wie dein Herz klopft. Durch den Rock.

      Thomas: Aber gleicht denn dieses Zimmer nicht einem Schrank? Ist denn dieses ganze leergewordene Haus nicht wie ein ausgeräumter Schrank? So wird man wieder zurückgedreht.

      Regine richtet sich halb auf, von einem beängstigenden Gedanken erfaßt: Was werden wir jetzt machen?!

      Thomas: Nichts, Regine. Die vergoldeten Nüsse hängen nie an den wirklichen Bäumen. Man sucht sie bloß dort; was merkwürdig genug ist. Ich habe mir vielleicht einigemal in jedem Jahr heimlich gewünscht: Marias Abwendung. Loslassen, leise durch die Weite wandernde Begleitmusik zu einem Marsch, der noch gar nicht vor sich geht. So wie du bist. Sie sieht auch wahrscheinlich nur etwas wie Sterne, an Tragstangen schwankend; Blätter, durch deren Schlaf Licht wie mit Händen fährt. Aber es mag schön an so etwas zu denken sein –

      Regine: Und ist holprig durch solche Nacht zu gehn? Braver Thomas! Sie legt sich wieder hin.

      Thomas: Nein, unsinnig, unsinnig beides! So ziellos, so zwecklos das Ganze!

      Regine: Warte. Ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, wie das früher bei mir war. Ich lag unter einem Gebüsch und nahm einen Käfer in den Mund. Der stellte sich tot. Und mein Puls zählte. Und ich sagte mir, bei einer bestimmten Zahl wird er als kleiner Prinz aus meinem magisch erleuchteten Mund heraustreten. Ja, das war noch Zauberei. Einen Teil der Welt verschlucken. Dann spuckte ich das Ding aus, wenn die Zahl vorbei war, aber dachte mir doch das nächstemal das gleiche, denn ich hatte ein geheimnisvolles Gefühl von mir. So habe ich gelebt. Lange. Dann wurde es immer gewöhnlicher. Ja. Immer zweckloser. Immer sinnloser.

      Thomas: Spürst du nicht, daß es von den Wiesen herein nach Fischen riecht? Ein unanständiger Geruch. Er steht hinter ihrem Kopf. Und wenn ich dich anschaue, so verkehrt, bist du wie eine plastische Karte, ein gräßlicher Gegenstand, keine Frau.

      Regine: Hast aber nachts mit Herzklopfen geträumt, daß wir in einem Schrank saßen?

      Thomas: Du warst älter als du bist, so alt wie Maria, und zugleich sahst du aus wie vor fünfzehn Jahren. Du schriest so wie gestern, aber es war leis und schön. Wir sind ganz ruhig gesessen. Dein Bein lag an meinem wie ein Boot an seinem Landungssteg; dann wieder wie das süße glitzernde Hin-und Herrinnen des Winds in den Wipfeln. Das war Glück.

      Regine: Aber wie soll man das tun?

      Thomas: Tun? Ich weiß nicht. Aus Verzweiflung einander aufschneiden und sich in fremdem Innern wälzen wie ein Hund auf dem Aas?

      Regine: Das Ende war vorgezeichnet! Wir wissen nicht, was wir tun sollen! Wir werden immer wieder vor dieser Wand stehn! Ich kann nicht mehr!

      Thomas hält ihren Kopf fest und küßt sie: Dich kann ich küssen: Verkommene Schwester. Unsre vier Lippen sind vier Würmer, nichts sonst!

      Regine: Ich möchte dich mit den weichsten Teilen meines Körpers umschließen. Wie er mich umschließt. Weil ich dich immer lieb hatte. Wie mich. Aber nicht mehr. Nicht mehr.

      Thomas: Ah … erst stand dieser Kuß weit vor mir lockend. Nun ist er ebensoweit hinter mir, brennend. Hindurchgekommen sind wir nie. Nie. Nie. Du fühlst das!

      Fräulein Mertens ist eingetreten und hat das mitangesehn. Sie will sich eben empört zurückziehn, als die beiden sie bemerken.

      Fräulein Mertens: Oh, Regine, Sie haben sich rasch getröstet; ich wollte fortgehn, ohne ein Wort zu sagen. Eine mir unverständliche Auffassung herrscht in diesem Haus.

      Regine und Thomas brechen in ein etwas erzwungenes Lachen aus.

      Thomas: Verstehen Sie, das war keine Liebesszene, was Sie überrascht haben. Das war eine Anti-Liebesszene. Das war eine Sozusagen-Verzweiflungsszene.

      Fräulein Mertens: Ich maße mir kein Urteil an.

      Thomas: Worüber waren wir verzweifelt, Regine?

      Regine noch im Ton: Wir waren darüber verzweifelt, daß uns nichts mehr übrigblieb, daß wir uns wieder benehmen mußten wie als Schulkinder. Aus der Rolle fallend. Mertens! Hören Sie, lassen Sie mich nicht allein! Ich brauche jemand, der meinen Kopf hält. Thomas würde traurig neben mir sitzen, wenn ich sterbe, und mir erklären, daß ich ihn dabei nur störe. Er würde verlangen, daß ich als Sterbende ihm ausdrücken helfe, warum dieser Augenblick nur eine glanzlose körperliche Katastrophe ist, während Angst und Trauer zu seinen beiden Seiten so verzaubert glühn.

      Thomas: Aber sei doch nicht albern.

      Fräulein Mertens: Ich reise abends. Ich werde den Rest dieses Tags außer Haus verbringen. Treiben Sie bitte nicht bis zum Ende Scherz mit mir; Sie denken nicht ans Sterben.

      Regine: Aber Mertens! Habe ich nicht immer daran gedacht?

      Fräulein Mertens: Ich weiß nicht, woran Sie gedacht haben, während Sie mir einen herrlichen Glauben vorspiegelten, der sich in der engen Wirklichkeit nicht zufrieden gab. Ich bin einer Illusion unterlegen. Denn auch ich habe einst den Geliebten verloren; aber ich habe ihm durch einundzwanzig Jahre reine Treue gewahrt bis heute. Ab.

      Thomas: Da hast du’s! Das Laster ist Schmutz. Aber die Tugend ist auch nur frisch genießbar!

      Regine: Nun wird sie wirklich gehn. Maria, Josef, sie –: Die Ordnung weicht zurück wie das Fleisch beim Skorbut von den Zähnen; nun müssen sie bald ausfallen.

      Thomas: Warum läßt du dich niederdrücken! Selbst von so einer Person. Sie sitzen geduckt fern voneinander und können den Versuch nicht wieder aufnehmen.

      Regine trotzig: Weil ich nicht weiß, was ich tun soll. Verstehst du denn nicht, ich habe immer etwas tun müssen. Nun weiß ich nichts mehr. Komm! Nein, bleib! Das Geheimnis: ich mitten zwischen alldem – ist zu Ende.

      Thomas: Nichts behält in der Nähe die Leuchtkraft und bei liebloser Betrachtung; Leuchtwürmchen: fängst du eins, ist es ein lichtloses graues Würstchen! Aber das zu wissen, gibt ein verteufelteres Gefühl als zu poesein: Gotteslaternchen!

      Regine: Für mich haben Gedanken wenig Reiz.

      Thomas: Da hast du vielleicht recht. Dagegen ist vielleicht wenig zu sagen … Aber dann kann ich dir nicht helfen.

      Regine: … Als ich von euch fortging, nach Johannes, besaß ich noch Mut. Irgendeine Erwartung; ich nannte sie, falsch natürlich: Trauer.

      Thomas: Hunger war es natürlich.

      Regine: Ja, Mut. Aber was kam, war ein endloses Quellen von leeren Stunden. Ich verstehe einfach nicht, wie die andren Menschen es machen, sie richtig auszufüllen.

      Thomas: Sie schwindeln natürlich; sie haben einen Beruf, ein Ziel, einen Charakter, Bekannte, Manieren, Vorsätze, Kleider. Wechselseitige Sicherungen gegen den Untergang in den Millionen Metern Raumtiefe.

      Regine: