Morde am Hinterkreuz. Madina Fedosova

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Название Morde am Hinterkreuz
Автор произведения Madina Fedosova
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Год выпуска 0
isbn 9785006700512



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Hofes wohnen.”

      Hans, der mit dem Aufräumen fertig war, trat an ihren Tisch heran, sein Gesicht war ernst. “Josef, du hast recht”, sagte er. “Dieser Andreas hat völlig den Verstand verloren. Es würde mich nicht wundern, wenn er etwas Schreckliches anstellt. Wir müssen den Sheriff benachrichtigen.”

      “Und was wird der Sheriff tun?”, grinste Fritz skeptisch. “Andreas ist ein reicher Bauer, er wird immer einen Weg finden, sich freizukaufen. Und wir werden dann damit leben müssen…”

      “Trotzdem muss man etwas unternehmen”, beharrte Hans. “Man darf nicht schweigen. Sonst wird es eine Katastrophe geben.”

      Aber wie es in kleinen Dörfern oft der Fall ist, überwanden Angst und Misstrauen das Pflichtgefühl. Niemand wollte sich einmischen, niemand wollte den Zorn von Andreas Gruber auf sich ziehen. Alle zogen es vor, so zu tun, als sei nichts geschehen, und hofften, dass der Sturm vorüberziehen würde.

      Und draußen im Dunkel der Nacht stand die alte Eiche, Zeuge vieler Generationen von Grabener Einwohnern. Ihre Äste, wie knochige Finger, reckten sich zum Himmel, und die Blätter raschelten, als ob sie mahnende Worte flüsterten. Aber niemand hörte sie.

      Bald füllte sich die Schänke “Zur alten Eiche” wieder mit Lärm und Fröhlichkeit. Die Musikanten spielten eine neue Melodie, die Leute begannen zu tanzen, und das Leben schien wieder seinen normalen Gang zu gehen. Aber unter der Maske der Fröhlichkeit verbarg sich Angst und Besorgnis. Alle spürten, dass etwas nicht stimmte, dass ein dunkler Schatten über Graben lag, der diesen ruhigen und friedlichen Winkel Bayerns bald verschlingen sollte.

      Die Bewohner des Dorfes klammerten sich trotz des Streits in der Schänke und der über ihnen schwebenden Besorgnis noch immer an die Hoffnung auf eine bessere Zukunft und glaubten, dass die wirtschaftlichen Schwierigkeiten und der finstere Schatten von Andreas Gruber bald vorübergehen würden. Im Innersten hegte jeder von ihnen den Traum von der Rückkehr zu einem ruhigen und beschaulichen Leben, in dem man keine Angst um seine Angehörigen haben und nicht bei jedem nächtlichen Geräusch zusammenzucken musste. Sie arbeiteten weiterhin fleißig auf den Feldern, in der Hoffnung auf eine gute Ernte, beteten in der Kirche und baten Gott um Schutz, und versuchten, nicht an das Schlechte zu denken.

      In dieser widersprüchlichen Atmosphäre, in dem stillen bayerischen Dorf Graben, fernab von Großstädten und lauten Hauptverkehrsstraßen, wo Hoffnung glimmte, aber Angst reifte, entfaltete sich die Tragödie des Hofes Hinterkaifeck. Sie brach wie ein Blitz aus heiterem Himmel in ihr Leben ein, zerstörte die Illusion von Sicherheit und Frieden und erschütterte nicht nur das kleine Graben, sondern ganz Deutschland mit ihrer Grausamkeit und Rätselhaftigkeit. Gerüchte über das grausame Verbrechen, über unschuldige Opfer, über das Böse, das sich im Herzen des bayerischen Landes eingenistet hatte, verbreiteten sich wie ein Lauffeuer und säten Panik und Entsetzen.

      Die Tragödie von Hinterkaifeck veränderte das Leben der Einwohner von Graben für immer. Das Vertrauen und die gutnachbarlichen Beziehungen, die so lange die Grundlage ihrer Existenz gebildet hatten, waren zerstört.

      Die Nachbarn begannen, sich gegenseitig misstrauisch anzusehen und befürchteten, dass sich hinter der Maske eines rechtschaffenen Bürgers ein wahres Monster verbergen könnte. Die Angst nistete sich in ihren Herzen ein und ließ sie nachts nicht ruhig schlafen. Und selbst Jahre später, als die Wunden der Tragödie etwas verheilt waren, lebte die Erinnerung an Hinterkaifeck in jedem Haus weiter und erinnerte daran, wie zerbrechlich das Leben ist und wie leicht es zerstört werden kann. Diese Tragödie hinterließ einen unauslöschlichen Eindruck in der Geschichte dieses kleinen, unscheinbaren Winkels Bayerns, ihn von einem Symbol der Ruhe und des Friedens in ein Symbol des Schreckens und des Rätsels zu verwandeln, das bis heute nicht vollständig gelöst werden konnte.

      Nicht so sehr die Gerüchte über Kriminalität und Gesetzlosigkeit, über Hyperinflation und Hunger, die aus den Großstädten kamen – diese Nachrichten kamen bruchstückhaft an, als würde jemand versuchen, von einem Albtraum zu erzählen, aber keine Worte finden – sondern die unerklärliche, eisige Angst, die in der Luft hing, ließ die Menschen bei jedem Geräusch zusammenzucken und ihre Türen nachts fest verschließen.

      Alt-Grete, deren Gesicht von tiefen Falten durchzogen war wie eine Karte zukünftigen Unheils, saß am Fenster und beobachtete die hereinbrechende Dämmerung, und flüsterte der Nachbarin, sich bekreuzigend:

      “Man sagt, in München ist es ganz schlecht… Es gibt kein Brot mehr”, flüsterte Alt-Grete, und ihre Stimme zitterte, als ob sie fror, obwohl es in der eingeheizten Stube warm war. Sie wandte den Blick vom Fenster ab, hinter dem sich die purpurrote Dämmerung verdunkelte, als wollte sie der herannahenden Gefahr nicht ins Gesicht sehen.

      “Und was wird als Nächstes passieren?”, fragte die Nachbarin, Frau Schmidt, ängstlich, und knetete nervös das Kreuz an ihrer Brust. In ihren Augen spiegelte sich Urangst, als würde sie die Ankunft von etwas Schrecklichem spüren, das sie nicht erklären konnte.

      Grete schwieg, lauschte der Stille, die nur durch das Knistern des Holzes im Ofen unterbrochen wurde. “Als Nächstes…”, krächzte sie schließlich, und ihre Stimme klang unheilvoll, wie das Krächzen einer Krähe. “Als Nächstes wird es noch schlimmer werden. Hunger – das ist noch nicht das Schlimmste. Das Böse… es ist schon hier. Es versteckt sich im Schatten, wartet auf seine Zeit. Und bald wird es auf die Jagd gehen. Beten Sie, Frau Schmidt. Beten Sie, dass es uns verschont. Aber ich fürchte… ich fürchte, unsere Gebete werden nicht erhört werden.”

      Und am äußersten Rand des Dorfes, einen halben Kilometer von Graben entfernt, am Rande des unheimlichen Hexenwaldes, stand der Hof Hinterkaifeck. Er hob sich von den ordentlichen und gepflegten Häusern Grabens ab wie ein dunkler Fleck auf hellem Grund. Ein Ort, über den hinter vorgehaltener Hand getuschelt wurde, ein Ort, den man besonders nach Sonnenuntergang mied.

      Der Hof Hinterkaifeck… Es gab böse Gerüchte darüber, dass das Land dort verflucht sei, dass die Ernte nie gut sei und dass das Vieh oft ohne ersichtlichen Grund sterbe. Wie man in Graben erzählte, wohnte dort nicht nur das Böse, sondern etwas Altes und Mächtiges, etwas, das man besser nicht stören sollte. Man sagte, dass man in Mondnächten seltsame Lichter über dem Hof sehe und aus dem Wald schreckliche Schreie zu hören seien. Der Hof Hinterkaifeck ist ein Ort, an dem das Licht endet und die Dunkelheit beginnt.

      Kapitel 4

      Der Hof am Waldrand

      Der 4. April 1922 – ein Datum, das für immer als eingebranntes Stigma im Gedächtnis von Graben und ganz Bayern haften bleiben sollte. An diesem Tag wurde der friedliche Schlaf des Dorfes brutal von einer schrecklichen Nachricht unterbrochen, die wie Totengeläut durch die Gegend hallte. Alle Bewohner des Hofes Hinterkaifeck, der nur wenige Kilometer von Graben entfernt lag, aber in einer ganz anderen Welt als der, die in dem friedlichen Dorf herrschte, waren auf grausame Weise ermordet worden.

      Die Nachrichten über dieses Ereignis, die geflüstert wurden, nahmen schreckliche, erschreckende Details an. Zuerst wollte man es nicht glauben, man dachte, es seien Hirngespinste, Schauermärchen. Aber als sich die Gerüchte bestätigten, erstarrte das Entsetzen die Herzen.

      Obwohl es in der Geschichte Deutschlands schon viel größere Verbrechen gegeben hatte, zeichnete sich die Tragödie von Hinterkaifeck durch ihre besondere, abgründige Düsternis aus. Sie erschütterte nicht nur die Öffentlichkeit, sondern berührte auch die verborgensten Winkel der menschlichen Seele.

      Die mit unglaublicher Grausamkeit begangenen Morde schienen die dunkelsten, wildesten Seiten der menschlichen Natur freizulegen. Der Schatten dieses Bösen lag über Graben und vergiftete die Luft mit Angst und Misstrauen.

      Alles – die Kulisse des abgelegenen, von Wald umgebenen Hofes, der von der Welt abgeschnitten war, die Chronologie der schrecklichen Ereignisse, die sich über mehrere Tage hinzogen, die Art der Tötung – Schläge mit einer Hacke, vor denen es kein Entrinnen gab, selbst das Schicksal der Leichen der Toten, die am Tatort zurückgelassen und den Angehörigen lange vorenthalten wurden – alles war buchstäblich von einer erdrückenden Ausweglosigkeit durchdrungen. Als hätte der Tod selbst beschlossen, ein grausames Spiel zu spielen und seine