Название | Handbuch des Strafrechts |
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Автор произведения | Jörg Eisele |
Жанр | |
Серия | |
Издательство | |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783811449664 |
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Der rechtliche Bereich der Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit in den §§ 223 bis 231 StGB und die tatsächlichen Phänomene der Gewalt überschneiden sich großflächig, sind aber nicht deckungsgleich. Einerseits ist Gewalt auch in anderen Tatbeständen Deliktsmerkmal, sodass diese Normen ebenfalls Gewalt bestrafen. Andererseits definieren sich die Körperverletzungsdelikte über das Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit und erfassen somit auch Handlungen, die nicht der klassischen Gewaltkriminalität zugeordnet werden, wie etwa Verletzungen im Straßenverkehr. Seit jeher besteht im deutschen Rechtskreis die Tendenz, die Verletzungsdelikte auf körperliche Eingriffe zu beschränken und seelische Verletzungen außer Betracht zu lassen. Eine Ausnahme hiervon bildet lediglich der Tatbestand des § 225 StGB (1933 eingeführt als § 223b StGB). Die jüngere Entwicklung deutet allerdings auf eine Änderung in dieser Frage zumindest außerhalb der klassischen Körperverletzungsdelikte hin, wie der Tatbestand der Nachstellung (§ 238 StGB, vgl. Rn. 120 f.) und die Rechtsprechung zu Mobbing-Fällen (Rn. 36) zeigen.
1. Abschnitt: Schutz von Leib und Leben › § 4 Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit › B. Grundlagen
I. Verfassungsrechtliche Vorgaben aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG
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Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG verbürgt als Grundrecht die körperliche Unversehrtheit verfassungsrechtlich, unabhängig von der Staatsbürgerschaft. Diese Verankerung des Schutzes der körperlichen Unversehrtheit ist verfassungshistorisch relativ neu, der einfachrechtliche Rechtsgüterschutz ist älter. So ist das ausdrückliche Grundrecht des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG verfassungsrechtliches Novum des Grundgesetzes, bis dahin erfolgte der Schutz des Rechtsguts nur einfachrechtlich durch das Strafrecht.[8] Gleichwohl war das Recht auf körperliche Unversehrtheit auch vor dem Grundgesetz verfassungsrechtlich nicht irrelevant, sondern wurde als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt. Diese wurde jedoch durch die nationalsozialistischen Herabwürdigungen, beispielsweise des sog. lebensunwerten Lebens, in extremer Weise untergraben, weshalb sich eine ausdrückliche Normierung im Grundgesetz empfahl.[9]
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Als Grundrecht ist Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG in erster Linie ein Abwehrrecht, das vor nicht nur geringfügigen Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit schützt.[10] Damit besteht auch außerhalb des strafrechtlichen Verbotes der §§ 223 ff. StGB ein grundgesetzlicher Abwehranspruch bezüglich Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit zumindest gegenüber dem Staat.[11] Neben dem Abwehranspruch folgt aus dem Grundrecht aber auch ein Schutzanspruch der einzelnen Person, welcher sowohl durch präventive polizei- und ordnungsrechtliche Vorschriften, als auch durch das repressive Strafrecht erfüllt werden kann,[12] da die herrschenden Strafzwecktheorien Straftatbeständen (auch) eine präventive Funktion[13] beimessen. Dementsprechend können die §§ 223 ff. StGB als eine konkretisierende Ausgestaltung der aus dem Grundrecht folgenden Schutzpflicht verstanden werden. In jüngerer Zeit wurde der Schutzanspruch beispielsweise durch das Gewaltschutzgesetz vom 11. Dezember 2001[14] umgesetzt, wie auch durch die polizeirechtlichen Befugnisse zur Wohnungsverweisung.[15] Zusammengefasst kann Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG als Auftrag an den Gesetzgeber gelesen werden, die Bürger*innen vor rechtswidrigen Angriffen auf die körperliche Unversehrtheit auch durch das Strafrecht zu schützen, wobei die konkrete Umsetzung – wie stets – dem Gesetzgeber überlassen ist.[16]
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Die Fassung des Schutzgutes in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG entspricht dem des Rechtsguts in den §§ 223 ff. StGB, sodass die verfassungsrechtlichen Vorgaben weder eine erweiternde noch eine restriktive Auslegung der Körperverletzungstatbestände nahelegen.[17] Beispielsweise kann dem Grundrecht kein Auftrag an den Gesetzgeber entnommen werden, rein psychische Belastungen strafrechtlich als Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit zu erfassen. Die Auslegung des Grundrechts und der §§ 223 ff. StGB, die jeweils die körperliche Unversehrtheit schützen, erfolgt vielmehr synchron.[18] Dies ändert freilich nichts daran, dass das Verständnis vom Umfang des Schutzanspruchs erheblichen Veränderungen unterliegt, wie etwa die ältere Rechtsprechung des BGH zum körperlichen Züchtigungsrecht von Lehrkräften bzw. von Eltern gegenüber Kindern zeigt. Danach war die körperliche Züchtigung zwar tatbestandsmäßig, aber gerechtfertigt.[19]
II. Begriff, gesellschaftliche Bewertung und Formen der Gewalt
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Wie in der Einführung dargestellt, überschneiden sich der Anwendungsbereich der §§ 223 ff. StGB und das gesellschaftliche Phänomen der Gewalt großflächig. Dementsprechend kommt für die Relevanz, das Verständnis und die Entwicklung dieses Deliktsbereiches der Frage erhebliche Bedeutung zu, was gesellschaftlich unter Gewalt verstanden und wie Gewalt bewertet wird.
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Der Begriff „Gewalt“ unterliegt hinsichtlich seines Verständnisses einem massiven Wandel im Zeitverlauf und wird in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen unterschiedlich ausgefüllt.[20] So werden in der Soziologie, die zwar grundsätzlich für einen weiten Gewaltbegriff steht, im Detail unterschiedlich weite Gewaltbegriffe vertreten.[21] Danach lassen sich zunächst verschiedene Formen der Gewalt unterscheiden. Eine erste Differenzierung trennt zwischen personaler und struktureller Gewalt. Unter den Begriff der strukturellen Gewalt fallen gesellschaftliche Rahmenbedingungen bzw. Zwangsmerkmale der sozialen Systeme. Dies können beispielsweise bestimmte Pflichten sein, die die Gesellschaft den einzelnen Personen auferlegt, wie Steuerpflichten, die Wehrpflicht oder grundsätzlich der Druck, der über Hierarchien ausgeübt werden kann.[22] Die personale Gewalt lässt sich weiter in die physische und psychische Gewalt ausdifferenzieren. Die physische Gewalt lässt sich ihrerseits unterteilen in Gewalt gegen Personen und Gewalt gegen Sachen (Vandalismus).
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In der Kriminologie wird regelmäßig auf die verschiedenen Formen der Gewalt nach der benannten soziologischen Kategorisierung verwiesen, es findet sodann eine Konzentration auf personale Gewalt statt, insbesondere auf solche gegenüber anderen Menschen.[23] Der rechtliche Gewaltbegriff ist noch enger. Der Gewaltbegriff des Strafgesetzbuches, welcher insbesondere im Rahmen der Nötigung (§ 240 StGB, vgl. → BT Bd. 4: Brian Valerius, Nötigung, Bedrohung und Zwangsheirat, vgl. § 5 Rn. 30 ff.) sowie der Raubdelikte (§§ 249 ff. StGB) eine Rolle spielt, wird nach überwiegender Auffassung als körperlich wirkender Zwang zur Überwindung eines geleisteten oder erwarteten Widerstands[24] verstanden. Es handelt sich dabei um einen eher engen Gewaltbegriff, der die personale physische Gewalt gegen Personen umfasst.[25] Der statistische Gewaltbegriff des Bundeskriminalamts (BKA) in der PKS wiederum definiert Gewaltkriminalität als Summenschlüssel und fasst darunter ausschließlich physische Gewalt gegen Personen und dabei nur schwere Gewaltdelikte wie Mord, Totschlag, Vergewaltigung und sexuelle Nötigung,