Название | Handbuch des Strafrechts |
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Автор произведения | Jörg Eisele |
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Издательство | |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783811449664 |
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Die hypothetische Einwilligung wird von vielen Seiten nicht nur wegen der Einordnung als weiterer Rechtsfertigungsgrund durch die Rechtsprechung kritisiert, sondern auch als strafrechtliche Rechtsfigur an sich. Durch die Einordnung der hypothetischen Einwilligung als Rechtfertigungsgrund würden die Grundprinzipien der geltenden Rechtfertigungsdogmatik untergraben. Bei den bisherigen Rechtfertigungsgründen müssen die Voraussetzungen für eine Rechtfertigung objektiv vorliegen, es reicht eben nicht aus, dass die Voraussetzungen hätten vorliegen können, so wie bei der hypothetischen Einwilligung.[424] Auch ist das Verhältnis zur mutmaßlichen Einwilligung problematisch; für diese scheint neben der hypothetischen kein Anwendungsbereich mehr. Wird die hypothetische Einwilligung als Rechtfertigungsgrund anerkannt, so sei es nicht mehr notwendig, die Einwilligung des Opfers vorab einzuholen.[425] Die Voraussetzung der mutmaßlichen Einwilligung, dass eine Zustimmung des Patienten vor dem Eingriff nicht (rechtzeitig) eingeholt werden konnte, wird insofern durch die hypothetische Einwilligung ausgehöhlt. Weiterhin erweist sich als problematisch und wird kritisiert, dass bei der hypothetischen Einwilligung der hypothetische Wille des*der Betroffenen rückblickend konstruiert werden muss, was einer dem Strafrecht fremden (nachträglichen) Genehmigung entspricht.[426] Der*die Patient*in muss im Nachhinein entscheiden, ob er*sie bei ordnungsgemäßer Aufklärung im Vorfeld in die Behandlung eingewilligt hätte oder nicht. Die Strafbarkeit hängt somit wesentlich von der späteren Aussage des*der Patienten*Patientin ab.[427]
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Wenngleich die hypothetische Einwilligung als Rechtsfigur von der Literatur weithin abgelehnt wird, ist doch anerkannt, dass die Unwirksamkeit der Einwilligung in einen medizinisch sinnvollen Eingriff alleine wegen mangelhafter Aufklärung eine praktisch problematische Fallgruppe darstellt. Daher bemühen sich verschiedene Autoren*Autorinnen um eine andere Lösung bzw. eine alternative Einordnung der Rechtsfigur anstelle der Konstruktion als Rechtfertigungsgrund.[428] Manche Stimmen wollen die hypothetische Einwilligung etwa als Strafausschließungs- oder Strafaufhebungsgrund einstufen,[429] andere das Problem auf der Ebene des Tatbestands behandeln. Kuhlen hat hingegen ein Zurechnungsmodell entwickelt.[430] Er sieht in der hypothetischen Einwilligung keinen Rechtfertigungsgrund, sondern überträgt zur Lösung der Problematik die Figur der objektiven Zurechnung von der Tatbestandsebene auf die Ebene der Rechtswidrigkeit. Demnach sei bei einem Rechtfertigungsmangel gesondert zu prüfen, ob der Taterfolg objektiv zurechenbar auf diesem Mangel beruht, zwischen beiden also ein Schutzzweck- und Pflichtwidrigkeitszusammenhang besteht. So soll es beim ärztlichen Heileingriff darauf ankommen, ob ein Zusammenhang zwischen dem Aufklärungsmangel und dem tatbestandlichen Erfolg besteht. Fehlt es daran, so soll das objektive Erfolgsunrecht entfallen und lediglich noch eine Strafbarkeit des*der Arztes*Ärztin wegen Versuchs in Betracht kommen. Das Zurechnungsmodell von Kuhlen und andere durch die Literatur entwickelte Modelle[431] wurden von der Rechtsprechung indes bislang nicht übernommen.
4. Amtsbefugnisse im Besonderen
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Beim Handeln von Amtsträgern*Amtsträgerinnen kommt Amtsbefugnissen als speziellen Rechtfertigungsgründen eine besondere Bedeutung zu. Amtsträger*innen ist im Rahmen ihrer dienstlichen Tätigkeit unter bestimmten Voraussetzungen die Verwirklichung strafrechtlicher Tatbestände gestattet,[432] darunter auch die Anwendung von körperlicher Gewalt einschließlich der tatbestandlichen Verwirklichung der §§ 223 ff. StGB. Zum Zweck der Strafverfolgung beispielsweise sind tatbestandliche Körperverletzungen in Form körperlicher Eingriffe zulässig, wenn diese der Sachverhaltserforschung dienen. Dies bestimmt § 81a StPO bezüglich der beschuldigten Person, bei anderen Personen sind Eingriffe nur sehr eingeschränkt nach § 81c Abs. 2 StPO möglich. Ein gerechtfertigtes Handeln kann zudem bei strafprozessualen Festnahmen nach § 127 StPO vorliegen, außerdem bei Behandlungen nach Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB oder bei einer als notwendig befundenen Kastration nach § 2 KastrG.[433] Auch ein Schusswaffengebrauch durch Amtsträger*innen kann gerechtfertigt sein, eine dementsprechende Befugnis ist für Vollzugsbeamte*Vollzugsbeamtinnen des Bundes in §§ 9 ff. UZwG geregelt, für Soldaten*Soldatinnen und zivile Wachpersonen der Bundeswehr in §§ 15 ff. UZwBwG und für Polizeivollzugsbeamte*Polizeivollzugsbeamtinnen der Länder in den jeweiligen Länderpolizeigesetzen.[434] Generell ist bei derartigen staatlichen Eingriffen der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz strikt zu beachten (vgl. § 4 UZwG).
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Liegt für die jeweilige Handlung eine derart gesetzlich normierte Erlaubnis – aus öffentlich-rechtlicher Sicht eine Rechtsgrundlage, aus strafprozessualer Perspektive eine Amtsbefugnis, materiell-strafrechtlich ein Rechtfertigungsgrund[435] – vor und sind deren Voraussetzungen erfüllt, so ist die tatbestandsmäßige Handlung gestattet.[436] Für Betroffene solcher Maßnahmen besteht dann eine Duldungspflicht.[437] Scheitert die Rechtfertigung mittels der Amtsbefugnis, etwa weil deren Voraussetzungen nicht vorgelegen haben, kann die Tatbestandsverwirklichung durch das Amtsträger*innen handeln jedoch zur Strafbarkeit nach den §§ 223 ff. StGB führen.[438] Der Nichteintritt der rechtfertigenden Wirkung der Amtsbefugnis kann sich dabei aus ganz verschiedenen Umständen ergeben, zumal die Grenzen zwischen rechtmäßigem und rechtswidrigem Eingriffshandeln mitunter schmal und fließend sind. Auf die Art des Fehlers kommt es nicht an. Formelle Fehler führen ebenso wie materielle Fehler zur Rechtswidrigkeit und zum Scheitern der Rechtfertigung.[439] So stellt etwa die zwangsweise Verabreichung von Brechmitteln einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK dar[440] und ist daher nicht nach § 81a Abs. 1 S. 2 StPO gerechtfertigt.[441]
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Umstritten ist die Frage, ob und inwieweit sich Amtsträger*innen neben den beschriebenen Amtsbefugnissen auch auf die allgemeinen Rechtfertigungsgründe, insbesondere die Notwehr nach § 32 StGB, berufen können, wenn sie sich selbst oder eine*n Dritte*n während der Dienstausübung verteidigen.[442] Relevant wird die Frage insbesondere beim polizeilichen Schusswaffengebrauch. Diese intensiv in Grundrechte eingreifende Form des unmittelbaren Zwangs ist mit speziellen Ermächtigungsnormen in den Polizeigesetzen des Bundes (vgl. § 10 UZwG) oder der Länder geregelt. Für die Abwehr rechtswidriger Angriffe sind die handelnden Amtsträgern*Amtsträgerinnen streng an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebunden. Damit sind die Möglichkeiten des*der Hoheitsträgers*Hoheitsträgerin enger gefasst als das allgemeine Notwehrrecht, das einen (erforderlichen) Waffeneinsatz grundsätzlich ohne Abwägung der Güter zulässt.[443] Fraglich ist also, wie der Fall von Amtsträgern*Amtsträgerinnen zu beurteilen ist, die zur eigenen Verteidigung oder der Verteidigung einer dritten Person im Rahmen der Erforderlichkeit ihre Waffe gebrauchen, deren Verhalten jedoch unverhältnismäßig ist, die Grenzen ihrer Amtsbefugnisse daher übersteigt, sodass die öffentlich-rechtlichen Voraussetzungen nicht vorliegen.
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Das Ergebnis, dass gerade von Berufs wegen zur Gefahrenabwehr verpflichtete Amtsträger*innen in ihren Verteidigungsmöglichkeiten stärker eingeschränkt sein sollen als jede im Rahmen von § 32 StGB handelnde Privatperson, erscheint auf den ersten Blick nicht zufriedenstellend. Aus diesem Grund vertritt insbesondere die