Название | Handbuch des Strafrechts |
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Автор произведения | Jörg Eisele |
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Год выпуска | 0 |
isbn | 9783811449664 |
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Mit dem Problem der schwierigen Feststellbarkeit der Wirkung von Einzelursachen in einer Gemengelage verschiedener potenzieller Ursachen musste sich der BGH im sog. Holzschutzmittelfall befassen. Insbesondere ging es um die Frage, ob und wie der*die Tatrichter*in Feststellungen zu Kausalverläufen treffen kann, auch wenn die wissenschaftliche Diskussion sehr umstritten ist und im Verfahren durch Sachverständige nicht eindeutig geklärt werden konnte. In dieser Lage bedarf es nach dem BGH zumindest konkreter Feststellungen zu einer Mitverursachung des in Frage stehenden Stoffes an der kausalen Bewirkung des Taterfolges,[324] was letztlich eine typische Forderung aus der dogmatischen Kategorie der kumulativen Kausalität darstellt.[325] Bei der Bewertung der in der Beweisaufnahme gewonnenen Erkenntnisse eröffnet der BGH aber einen Beurteilungsspielraum. Danach hat der*die Richter*in alle Erkenntnisse verschiedener Fachrichtungen sowie alle relevanten Indizien in einer Gesamtschau zu würdigen, wobei nach Maßstab des § 261 StPO die richterliche Überzeugungsbildung keine absolute Gewissheit, sondern ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit voraussetzt, das keinen vernünftigen Zweifel bestehen lässt.[326] In anderen Worten reicht es für die richterliche Feststellung zur kausalen Bewirkung eines Körperverletzungserfolges durch ein komplex wirkendes Produkt aus, wenn das Gericht in einer Gesamtwürdigung der wissenschaftlichen Erkenntnisse überzeugt davon ist, dass ein bestimmtes Produkt zu einem bestimmten Körperverletzungserfolg geführt hat, auch wenn zu den Details des Wirkungsvorganges in der Wissenschaft keine eindeutige Meinung festzustellen ist. Dies gilt, solange die Annahme nicht den Gesetzen der Logik und dem gesicherten wissenschaftlichen Erfahrungswissen widerspricht.[327] Zudem darf die verbleibende Unsicherheit nicht zu Lasten des*der Angeklagten gehen. Praktisch wird somit betont, dass eine Verurteilung ausschließlich auf dem Überzeugungsbild des Gerichts (§ 261 StPO) beruht und möglich ist, auch wenn die sachverständige Wissenschaft den Sachverhalt nicht einhellig bewertet. Die Klärung von komplexen wissenschaftlichen Fragestellungen ist nicht Aufgabe des Strafverfahrens.
1. Rechtfertigungsgründe, erlaubte Verletzungen
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Körperliche Misshandlungen bzw. tatbestandsmäßige Gesundheitsschädigungen indizieren die Rechtswidrigkeit der Körperverletzungshandlung, da der Schutz des verletzten Rechtsguts einziger Zweck der Norm ist. Bei Vorliegen eines die Norm einschränkenden, selbstständigen Rechts der handelnden Person zur zulässigen tatbestandlichen Beeinträchtigung des Tatopfers kann deren Handeln jedoch gerechtfertigt sein. Dem kommt im Kontext der Körperverletzungsdelikte im Vergleich zu anderen Tatbeständen eine besonders herausragende Bedeutung zu. Zum einen handelt es sich häufig um interaktive Geschehensabläufe zwischen mehreren Personen, in denen verschiedene Parteien einschlägige Handlungen vornehmen, die es anschließend rechtlich zu bewerten gilt. Zum anderen kann der*die Rechtsgutsinhaber*in angesichts der Dispositionsbefugnis (Rn. 28) recht weitgehend Beeinträchtigungen in Form von Körperverletzungen gestatten.
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Ein solches Recht zur Körperverletzung kann zum einen aufgrund gesetzlicher Rechtsfertigungsgründe bestehen. Hier ist insbesondere an die Notwehr (§ 32 StGB, § 227 BGB) und das Festnahmerecht (§ 127 Abs. 1 StPO) zu denken. Weiterhin kann eine Körperverletzung bei Handeln durch Amtsträger*innen durch öffentlich-rechtliche Eingriffs- und Befugnisnormen gerechtfertigt sein (Rn. 115 ff.). Zum anderen können ungeschriebene (durch Gewohnheitsrecht anerkannte) Rechtfertigungsgründe das Handeln rechtfertigen. Dies ist der Fall, wenn eine rechtfertigende Einwilligung oder eine Pflichtenkollision vorliegen. Der Einwilligung kommt im Rahmen der Körperverletzungsdelikte eine besondere Bedeutung zu (Rn. 92 ff.).
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Besondere Relevanz entfaltet bei den Körperverletzungsdelikten der Rechtfertigungsgrund der Notwehr (§ 32 StGB, § 227 BGB). Diese Erlaubnisnorm enthält das Recht der einzelnen Person, sich oder einen*eine Dritte*n gegen einen rechtswidrigen Angriff in einer an sich verbotenen Weise zu verteidigen, indem die Individualrechtsgüter der angreifenden Person verletzt werden.[328] Als Sinn und Zweck der Norm wird überwiegend der Schutz von Rechtsgütern sowie das allgemeine Rechtsbewährungsprinzip genannt.[329] Eine Handlung ist dann durch Notwehr gerechtfertigt, wenn ein gegenwärtiger, rechtswidriger Angriff vorliegt (sog. Notwehrlage) und die angegriffene Person sich auf erforderliche und gebotene Art und Weise dagegen verteidigt (sog. Notwehrhandlung). Ein Angriff gilt auch dann als rechtswidrig, wenn die angreifende Person von einem vermeintlichen Festnahmerecht nach § 127 Abs. 1 StPO ausgeht, tatsächlich aber kein dringender Tatverdacht besteht.[330] Die Verteidigungshandlung muss von einem Verteidigungswillen getragen sein und sich gegen Rechtsgüter der angreifenden Person richten (ansonsten evtl. § 34 StGB). Dabei ist die Person, die rechtswidrig angegriffen wird, grundsätzlich berechtigt, dasjenige Abwehrmittel zu wählen, das eine endgültige Beseitigung der Gefahr gewährleistet. Demnach kann auch die sofortige, das Leben der angreifenden Person gefährdende Notwehrhandlung gerechtfertigt sein. Die Notwehr als Rechtsfertigungsgrund kommt selbst bei der schweren Körperverletzung nach § 226 StGB und bei Tötungsdelikten in Betracht, wenn zur Abwehr massiver Angriffe ähnlich massive Verteidigungshandlungen notwendig waren, und im Grundsatz unabhängig davon, ob der*die sich Verteidigende die Folge fahrlässig oder vorsätzlich herbeigeführt hat.[331] Einschränkungen des Notwehrrechts ergeben sich jedoch bei Absichtsprovokationen, den Angriffen von erkennbar schuldlos Handelnden, ggf. auch bei völlig unerheblichen Angriffen und bei Angriffen in engen persönlichen Beziehungen.[332] Die Notwehrhandlung kann nach den Umständen des Einzelfalles hier sozialethisch („gebotene Notwehrhandlung“) soweit eingeschränkt werden, dass zunächst aus den genannten Billigkeitsgründen, insbesondere bei schuldhaft provozierter Notwehrlage, zunächst ausgewichen werden muss oder nur Schutzwehr geleistet werden darf, bevor es legitim ist, final zur Trutzwehr überzugehen.[333] Doch auch hier müssen substanzielle Einbußen, wie oftmals bei Körperverletzungsdelikten, im Zweifel nicht hingenommen werden.[334]
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Ein eigenständiger Rechtfertigungsgrund in Form des sog. Züchtigungsrechts der Eltern kann heutzutage nicht mehr angenommen werden.[335] Nach früher h.M. war das Handeln der Erziehungsberechtigten, die ihren minderjährigen Kindern von einem bestimmten Erziehungszweck getragene körperliche Misshandlungen zufügten, nicht rechtswidrig.[336] Das Züchtigungsrecht war aufgrund landesrechtlicher Bestimmungen oder als Gewohnheitsrecht auch für Lehrer*innen anerkannt.[337] Der Rechtfertigungsgrund entfiel endgültig mit Inkrafttreten des Gesetzes zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung im Jahr 2000.[338] Durch das Gesetz wurde der § 1631 Abs. 2 BGB grundlegend geändert.[339] Der Wortlaut lässt für Zweifel keinen Raum mehr: „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“ Daran ändert auch das Erziehungsrecht aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG nichts.[340] Jede die Bagatellgrenze überschreitende Handlung bedeutet daher, dass der Tatbestand erfüllt ist. Die körperliche Züchtigung von Kindern