Название | Die Verlängerung |
---|---|
Автор произведения | Theo Beck |
Жанр | |
Серия | |
Издательство | |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783960086086 |
Also, bei mir blieb es immer, dieses Gefühl von Atemnot, es blieb alle Jahre mein Begleiter. Immer war sie der Bremser. Die Leistungsgrenze als Marathonläufer zum Beispiel. Und später habe ich dieses Gefühl eines Sauerstoffmangels schwächer, aber viel öfter bemerkt. Immer häufiger waren die Anfälle mit der Zeit geworden. Schon lange weiß ich, dass das die Extrasystolen sind, Herzrhythmusstörungen. Kenne ich nun wirklich lange genug. Habe mich schon daran gewöhnt. Dr. Freitag, mein Internist, hat mir bei den regelmäßigen Untersuchungen immer gesagt, man müsse nichts unternehmen. Mein Befinden sei maßgebend. Das ging so lange, bis er eine Verengung in der Halsschlagader entdeckte. Aber auch dann war nur eine tägliche Pille zur Blutverdünnung erforderlich, ein Aggregationshemmer, sagte er. Er war Herzspezialist und hatte natürlich recht, dass mein Befinden mein Maßstab sein müsse. Das kann ich auch heute noch bestätigen. Jetzt, wo ich mich da immer noch liegen sehe. Ich empfinde jetzt eigentlich nichts mehr, außer dieser herrlich wohltuenden Ruhe, dem angenehmen hellen Licht um mich herum, dem klaren, kein bisschen diffusen Bild. Nur die Freiheit fehlt mir, das Glück, unabhängig vom Willen der Menschen zu sein.
Na klar. Bei dem Wort Freiheit drängt sich sofort der Hans wieder auf meinen Bildschirm. Er ist ein Synonym für Freiheit. Natürlich kenne ich auch den Grund dafür. Er war nicht besonders ängstlich, im Gegenteil, meistens auf Abenteuer und Wettkampf aus. Nehmen wir zum Beispiel seine Zeit in den Trümmern. Sein Häuserblock war der erste, der wieder aufgebaut worden war. Das war nach dem Umzug nach Hamburg. Warum waren sie denn schon wieder umgezogen?
Ach ja, der Chef seines Vaters. Der Zweigstellenleiter der Reichsbank. Ein richtiger Widerling. Er ärgerte und schikanierte seinen Vater, so oft es ging. Heute würde man das Mobbing nennen. Es ärgerte ihn wohl, dass sein Vater einen guten Ruf in der Zentrale hatte. Er war nach bestandener Prüfung der damals jüngste Angestellte im gehobenen Dienst der ganzen Deutschen Reichsbank. Aber er war sensibel und nicht besonders ehrgeizig, hatte schon früh ein Herzleiden bekommen und versäumte deshalb, den nächsthöheren beruflichen Abschluss zu machen, der Grund dafür, dass ihm nun ein Vorgesetzter aus dem Rheinland das Leben schwer machen konnte. Seine Frau sorgte sich um ihn. Er war zu defensiv, um zu kämpfen. Schließlich fuhr sie, ohne ihn zu informieren, in die Zentrale nach Hamburg und bat den damaligen Direktor, Dr. Clasen hieß der, um ein Gespräch. Sie liebte ihren Mann und ihre Kinder, und sie war mutig. Vielleicht hatte Hans einiges davon geerbt. Dr. Clasen hörte sich ihre Sorgen an und versprach ihr, ihren Mann nach Hamburg zu versetzen. So kam der Umzug.
Aber woher kam mein Umzug? Der aus meinem Bett in dieses hier? Das ist mir immer noch nicht eingefallen. Bis in die Kriegszeit kann ich sehen, aber nicht die wenigen Minuten vor dem Krankenhaus. Ärgerlich ist das! Vielleicht muss ich mich noch mehr anstrengen, mehr suchen, mehr nachdenken!
Da ist der Junge wieder, kommt aus der anderen Seite des Waldes raus und geht quer über die Wiese. Dort muss der Bach sein. Ist ja gut zu erkennen an den Pappeln, Erlen und anderen durstigen Seelen. Hans geht an ihm entlang und steigt in ein niedriges Gehölz aus Büschen und Laubhölzern. Ganz schön schwierig mit den kurzen Hosen. Aber irgendetwas treibt ihn. Immer weiter stapft er, dem Bach folgend, manchmal wie ein Storch im Salat, um den Brennnesseln zu entgehen, bis er sein Ziel, den kleinen Tümpel mit der Pfefferminze, erreicht hat. Er braucht sich die Pflanzen gar nicht näher anzusehen. Schon der Geruch dort macht ihn sicher. Na klar, das riecht sogar bis zu mir hier her! Von da aus kennt er den Weg genau. Da war er schon einmal. Ein paar Büschel reißt er aus, nimmt sie unter dem Arm mit, dann geht er in Richtung seines Hauses. Es wird auch Zeit. Man wird ihn schon vermissen. Er lässt das Bummeln, seine Schritte werden schneller. Er versucht zu laufen. Die Pfefferminze unter dem Arm stört ihn, muss aber mit. Sie ist ja die Begründung für sein Ausbleiben.
Eine Viertelstunde später hat er die drängende Zeit schon wieder vergessen. Ein Seitenweg lockt ihn vom Weg ab. Wo mag der hingehen? Erst ein paar Kurven, dann sieht er ein kleines, weiß gestrichenes Haus. Sieht aus wie ein Hexenhaus. Aber das schreckt ihn nicht. Leise geht er darauf zu, schaut nach rechts, erkennt eine kleine, grün angestrichene Holzhütte und als er auf die zugeht, bleibt er plötzlich stehen. Was stört ihn? Er müsste doch an die Zeit denken, die verrinnt, während er dort rumspökert!
Jetzt geht er zögerlich einige Schritte auf etwas zu, das ihn magisch anzieht. Da liegt vor ihm ein Bombentrichter. Aber nicht leer wie die meisten! Hans kennt die Bombentrichter. Er weiß, die sind dort gar nicht so selten. Im weiteren Umkreis der Stadt werfen die Tommys immer mal wieder ihre gefährliche Fracht vorzeitig ab, wenn sie merken, dass sie nicht zu ihrem Ziel kommen. Vielleicht weil die Flak zu gefährlich wird oder weil das Wetter schlecht oder der Treibstoff knapp wird. Hans weiß auch, dass man an den Bomben nicht spielen darf, einen weiten Bogen um sie machen muss. Sie könnten noch scharf sein. Und jetzt geht er doch in den Trichter! Steigt hinab in die Gefahr!
Was ist das? Ein Bombentrichter aus Papier? Hans setzt sich mitten hinein in diese bedruckte und unbedruckte Welt. Er bestaunt einen gewaltigen Papierhaufen, mit dem er als Erstklässler noch nicht viel anfangen kann. Aber spannend ist es, sich die Blätter anzusehen, sie hochzuwerfen in den Wind, sich von ihnen beregnen zu lassen. Natürlich denkt er nicht daran, dass unter ihnen vielleicht noch eine Bombe liegen könnte. Er springt vom Kraterrand hinein in die Papierwelt, mal im Schlusssprung, dann mit Anlauf und lässt sich von den Blättern, den Druckwerken und sogar von jungfräulichem Papier auffangen.
Hans, denk an die Zeit! Die warten doch schon auf dich! Das könnte Backpfeifen geben!
Da liegt er in den papiergewordenen Gedanken, wühlt sich hinein, bedeckt sich mit ihnen und träumt in die Sonne. Ein unbeschriebenes Blatt! Jetzt versinkt er ganz in dem Papier. Sein Gesicht ist von einem großen, aufgefalteten Bogen DIN A3 verdeckt.
Ich kann mich noch so sehr anstrengen, aber zu lesen, was da drauf steht, gelingt mir nicht. Doch, jetzt, in diesem Augenblick, in dem die Sonne darauf scheint, erkenne ich es – das ist ja meine Patientenverfügung! Die Freiheit! Die Urkunde zur Loslösung aus der Macht der weißen Götter hier, auf die ich sehnsüchtig gewartet habe. Meine Dokumentation vom Nachtschrank, in der die Patientenverfügung lag, deckt den Kopf des Jungen zu.
Eigentlich kann das gar nicht sein. Das bilde ich mir bestimmt nur ein. Die Papiere können nicht zugleich hier und da sein. Das wäre ja wie in der Quantentheorie. Aber warum sehe ich das dann?
„Habe ich dir schon einmal erklärt. Weil du das willst.“
Ist mir früher doch nicht passiert! Da habe ich auch nur das gesehen, was tatsächlich war!
„Glaubst du. Und früher! Früher hast du gelebt.“
Und jetzt? Sag mal, bin ich tot?
„Vielleicht. Das kommt drauf an. Herr Dr. Mohr zum Beispiel war eben der Meinung, dass du noch lebst. Angela aber glaubt, du seiest tot. Es gibt keine einheitliche Definition dafür. Es gibt viele Tode. Hirntod, Herztod, den Zelltod, den Tod durch die Desorganisation der Organe oder des Nervensystems. Das Sterben ist ein Prozess.“
Aha. Das dauert also. Und obwohl ich da in dem Bett wie tot aussehe, bin ich hier und sehe. Vielleicht bin ich da im Bett nur teiltot. Aber das müssten doch die Ärzte wissen.
„Auch sie glauben nur zu wissen. Und sie sind sich uneinig, je nach Land, Kultur, Religion und anderen Mythologien.