Название | Die Verlängerung |
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Автор произведения | Theo Beck |
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Издательство | |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783960086086 |
„Gestern Abend um 18.00 Uhr, Ewald.“
Sie duzt ihn wieder, wie gestern Abend. Sonst, wenn andere dabei waren, hat sie ihn immer mit „Herr Doktor“ angeredet.
„Es hat noch Zeit, denke ich. Es ist nicht unüblich, eine längere Reanimationsphase einzurichten. Lässt sich schon vertreten.“
„Aber wir machen doch gar nichts mehr mit ihm. Und wenn wir noch lange warten, stirbt er zu früh.“
Mohr sieht sie mit gerunzelter Stirn an. Er schüttelt den Kopf. „Zu früh? Wofür zu früh?“
„Für die Anstaltsleitung. Ich meine zur Nutzung.“
Mohr schüttelt wieder unwillig den Kopf. „Ich möchte dem Schöpfer noch Zeit geben“, sagt er. Dr. Ewald Mohr ist schon lange Mitglied im Kirchenvorstand.
Jetzt lassen die mich doch tatsächlich da liegen! Sie tun wirklich alles für mich. Wie lange schon? Und wie bin ich hierhergekommen? Genau! Das ist die Frage! Noch mal: Ich lag doch vorher noch in meinem Bett! In meinem Bett im Heim oder dem im Haus? Da bin ich mir nicht sicher. Aber das muss ja wohl in meinem Haus gewesen sein, wo ich immer oder wenigstens meistens geschlafen habe. Aber, das hier ist nicht mein Haus! Oder ist das vielleicht schon so lange her, dass ich es doch vergessen habe? Ist mir ja in letzter Zeit öfter passiert. Die vielen Bilder von dieser Klinik kenne ich, von den Menschen, die hier zu mir kamen und wieder gingen, die wenigen, die mich besuchten, und die vielen, die mich besichtigen wollten, Bekannte und Unbekannte, und die vielen Bilder von den Behandlungen, alles muss in meine hiesige Zeit passen. In diesen unendlich kleinen Augenblick zwischen diesem Bett und dem in meinem Haus. Los, denk nach, wo war noch der Anfang? Richtig, mein Haus. Oder?
Genau weiß ich das im Moment wieder nicht.
Aber jetzt, da ich mich sehr, sehr anstrenge, nähern sich doch viele Bilder. Ganz so wie Räume mit geöffneten Türen, die mit Szenen gefüllt sind, nebeneinander, unordentlich angeordnet, richtig, wie auf meinem Desktop. Auch versetzt, teilweise übereinander, ich sag ja, wie bei Windows. Vielleicht kann ich sie zoomen, wenn ich sie anklicke? Da sind ja auch welche, die ich gar nicht kenne. Was soll das? Da war ich gar nicht! Oder habe ich das auch schon wieder vergessen? Also, mal langsam, immer der Reihe nach. Keiner drängelt sich hier vor! Eine Ausstellung von Bildern meiner verschwundenen Zeit? Alles hat seine Zeit. Wichtige Zeit. Viel Zeit? Jahre vielleicht?
Ich weiß es nicht. Nur dass es nicht solche Stunden waren, die mit Leichtigkeit dahinplätschern wie viele andere, kaum erwähnenswerte. Nein, diese hier waren mit Gewicht und Charakter versehen, prägend und abschließend. Nein, falsch, eben nicht abschließend, ich liege hier ja noch! Ja, dieses Haus hat immer alles im Griff. Auch mich. Bestimmt auch meine Vorfahren.
Ist hier nicht auch Großvater unter schrecklichen Schmerzen am Brand gestorben, wie man damals noch die Durchblutungsstörungen nannte? Linkes Bein. Ja, ich weiß, als ganz kleiner Junge habe ich ihn einmal im Krankenhaus besucht, zusammen mit meiner Mutter und meiner Oma. Das war doch auch hier! Er jammerte vor Schmerzen. Es war Krieg. Schmerzmittel gab es, wenn überhaupt, nur an der Front.
„Weine nicht so viel“, hat seine harte Ehefrau zu ihm gesagt. Sie hatte im Laufe ihres Lebens gelernt, mit Schmerzen umzugehen. Sechzehn Kinder hatte sie ihm geboren, wovon immerhin neun diesen Vorgang überlebt hatten. Ihr Fritz war ein großer, gut aussehender Mann gewesen.
Meine Mutter redete ihrem Vater gut zu, er solle sich das Bein abnehmen lassen. Sie würde ihn dann zu sich nehmen, aufs Land, nach Holm-Seppensen, wo wir während der Kriegszeit wohnten. Da wäre er dann bei den Kindern in einem Rollstuhl.
Eine Woche später ist er von seinen Schmerzen erlöst worden. An die Beerdigung erinnere ich mich nicht mehr.
Aber meine Mutter, hat man die nicht in der gleichen Klinik behandelt? Vor vielen Jahrzehnten. Damals waren es zunächst noch ihre Nieren, also andere Abteilung. Aber ich weiß noch sehr genau, wo die lag. Ich habe sie oft dort besucht, als ich noch ein Junge war, damals.
Mit meiner Mutter verband mich viel. Sie liebte ihren Sohn mehr als alle anderen Kinder. „Mein Jung!“ war ein stehender Ausdruck von ihr und sie gab sich dabei keine besondere Mühe, ihre Regung mütterlichen Stolzes zu verbergen: Ihr blonder, frischer und unternehmungslustiger Sohn, der mit seinem jungenhaften Selbstbewusstsein die Liebe seiner Mutter als etwas ganz Normales empfand und diese auch gelegentlich ungekünstelt erwiderte.
Und nun erkenne ich einen mageren Elfjährigen mit hellblauen, wachen Augen und den damals noch üblichen sehr kurzen Lederhosen, wie er, wo immer es geht, laufend die ansteigende Martinistraße besiegt. Dabei überholt und umkurvt er alle Leute, die häufig genug erschreckt, aber unnötig stehen bleiben.
Ja, das ist Hans, an den erinnere ich mich sofort. Er nimmt sich immer solche kleinen Herausforderungen vor. Immer spornt ihn sein Ehrgeiz an. In der Schule auch. Allerdings nur in der Sportstunde. Die Grundfächer sind ihm zu langweilig. Und immer spricht er mit sich selbst, wenn er alleine unterwegs ist, und das ist gar nicht so selten. Seine Fantasie und sein Tatendrang sind unerschöpflich.
An einem Wochenende zum Beispiel fuhr er alleine, ohne dass die Eltern davon wussten, von Harburg mit der Straßenbahn zur Hamburger Kirmes, dem „Dom“, der damals noch klein und poplig auf dem Stintfang abgehalten wurde. Er hatte eine Mark Taschengeld bekommen, wie jeden Sonntag. Fünfzehn Pfennige kostete die Bahn, mit der er eine Stunde fuhr, um an sein Ziel zu kommen. Von Harburg bis zu den Hamburger Landungsbrücken. Als es Abend wurde und höchste Zeit zur Rückfahrt, stellte er mit Schrecken fest, dass er nur noch fünf Pfennige hatte und eine gerade angeschleckte Zuckerstange, die die Barreserven zu weit erschöpft hatte, um für die Straßenbahn genügend Fahrgeld zu behalten. Er schlich sorgenvoll hinter den Wagen der Fahrsteller herum und überlegte, wie er nun nach Hause kommen sollte. Etwa betteln? Der einzige Wertgegenstand, den er besaß, war die Zuckerstange. Und siehe da, schon der erste Junge, den er ansprach, war bereit, das gute Geschäft einzugehen. Für zehn Pfennige wechselte der nur wenig benutzte süße Gegenstand den Besitzer.
Aber jetzt geht der Junge durch die verstreut liegenden Gebäude der Krankenhausanlage, mit Armen und Händen führt er eine offensichtlich angeregte Diskussion, er nimmt den Eingang zur Abteilung INTERN 2 und, da er drei Stockwerke hochmuss, sogleich wieder einen Wettkampf mit der Treppe an und gewinnt natürlich. Dann ist er etwas außer Atem wieder bei seiner Mami, drückt sie und darf auf ihrem Bett sitzen. Er erzählt ihr, wie schnell er hergekommen ist. Und als er wieder geht, hat er Geld für die Heimfahrt bekommen und eine Mutter im Krankenbett gelassen, die trotz aller Krankheitssorgen mit ihrer nicht heilen wollenden Nierenbeckenentzündung ein ganzes Stück glücklicher ist als vor seinem Besuch. Natürlich nimmt er nicht die Bahn. Das Geld geht für ein Eis drauf, das er an einem Kiosk noch auf dem Gelände der Uniklinik kauft.
Seine Mutter hat ihm gerade von ihrer Kindheit erzählt, von den vielen Geburten und den vielen Geschwistern. Sehr einfache, fast ärmliche Verhältnisse waren das, aber rechtschaffen. Der Opa war Zigarrendreher gewesen. Ein großer, schlanker Mann mit gedrehtem Schnurrbart. Seine Frau hieß Henriette Auguste, genannte Brauer. War also nicht ganz geklärter Herkunft. Auf einem Familienbild, das Hans kennt, war nicht zu erkennen, dass sie ziemlich klein geblieben war. Man hatte sie auf einen Schemel gestellt, den die Kinderschar davor verdeckte. Und seine Mutter war das jüngste Kind. Als sie heiratete, einen sehr jungen Beamten der Reichsbank in höherer Laufbahn, waren alle überrascht gewesen. Die Nachbarin hatte neidisch bemerkt: „Watt, n Piepenmoker Deern n Richsbankkasseer?“ Auf dem gebleichten, gerahmten Familienbild war sie noch ganz klein gewesen und fix beleidigt, weil man ihr gerade vorher dafür die Haare abgeschnitten hatte.
Hans ist froh, dass er kurze Haare und einen Scheitel hat. Eine gute halbe Stunde hat er wieder bis nach Hause zu laufen. So lange müssen die verhassten Schularbeiten noch warten. Kaum ist er aus dem Krankenhaustor raus, da rennt er wieder los. Schon bald ist er nicht mehr zu sehen.
2. Schulzeit
Den Raum, in dem ich hier liege, sehe ich genau. Alles in Weiß. Der Fußboden