Название | Die Verlängerung |
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Автор произведения | Theo Beck |
Жанр | |
Серия | |
Издательство | |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783960086086 |
„Mann“, sagt Erich, „ist schon sechs, ich muss nach Haus.“
„Find ich nicht gut“, sagt Hans ärgerlich.
„Lass man“, sagt Micha, „ich muss auch los. Wenn ich nicht pünktlich bin, nimmt meine Mutter den Holzlöffel, das zieht richtig. Da kommt schon der Abendzug nach Ahrensburg. Wir anderen sind dann morgen dran. Versprochen ist versprochen.“
Und nun sehe ich sie, wie sie gemütlich über die Trümmer nach Hause ziehen, während der laute Personenzug schnaufend hinter ihnen verschwindet. Aber ihm kommt schon ein anderer entgegen. Das kann gar nicht sein, das ist viel später. Viele Jahrzehnte später. Das ist ganz durcheinander, das muss ich noch einordnen. In dem Regionalexpress ist Hans schon über sechzig Jahre alt, sieht man ja ganz deutlich an seinen Haaren. Also, mein Lieber, mit dem Auftritt musst du noch warten. Nun mach nicht so ein ungeduldiges Gesicht, das hat doch Zeit. Ich habe hier doch viel Zeit!
„Das ist sowieso eine schlechte Angewohnheit von ihm, seine Ungeduld.“
Das auch noch! Wo kommst du denn schon wieder her? Ich denke, du bist tot?
„Ich bin so lange, wie du denken kannst. Mindestens. Vielleicht auch darüber hinaus.“
Jedenfalls brauchst du dich hier nicht einzumischen. Dich hat keiner gefragt.
„Das ist das Gute an mir. Ich melde mich, wenn dein Bild schief hängt, auch ungefragt. Seine Ungeduld begleitet ihn, seit er Chef ist. Nicht weil sein Auftritt in deinem Kopfkino sich verzögert, ist er ungehalten. Er muss auf die Fahrkartenkontrolle des Zugbegleiters warten, damit er sein Nickerchen ungestört halten kann. Deshalb seine ungeduldige Mimik.“
Das werden wir gleich sehen. Ich zoome das Bild jetzt. Einordnen kann ich das ja noch später.
„Idealist! Später? Wann und wo soll das sein?“
Na, hier, wo wir sind!
„Hier bist du in deiner Cloud, in deinen Visionen, deinen Träumen oder Erscheinungen, nicht in der Wirklichkeit.
Aber ich kann den Hans doch wirklich sehen!
„Ja, in deiner Erinnerung.“
In seiner Wohnung angekommen, zieht Hans sich gleich den Pyjama an. Der bedeckt die Oberschenkel.
„Willst du nichts essen?“, fragt seine verwunderte Mutter. „Hier ist dein Teller mit den Broten. Und hast du deine Schularbeiten schon gemacht?“
Nervig, denkt Hans, muss sie danach wieder fragen? Er hatte vor, die Aufgaben am Morgen schnell von seinem Platznachbarn abzuschreiben. Jetzt wühlt seine Mutter im Ränzel.
„Hast du deine Klassenarbeit zurückgekriegt? Hast mir nichts davon gesagt. Was hast du denn gekriegt?“
Das auch noch! Die Berichtigung muss er ja auch noch machen!
„Ne drei. Musst du noch unterschreiben“, sagt Hans. Rechnen fällt ihm leicht. Darin ist er ganz gut. „Eigentlich ist das ne zwei, aber er hat die Zahlen nicht richtig gelesen. Außerdem war ich als Erster fertig!“
„Deine Zahlen kann man nicht richtig lesen, weil du so schmierst! Anstatt als Erster fertig zu sein, hättest du dir lieber mehr Mühe geben sollen, ordentlich zu schreiben! Fix ist nix! Eine Sauklaue ist das! Die Ohren hätte er dir langziehen sollen!“
„Pf! Der doch nicht. Prigge doch nicht“, sagt Hans und schiebt sich das nächste Brot rein. „Macht mir auch nichts“, rotzt er noch kiebig hinterher.
„Großmaul!“
Ich hab gar nichts gesagt, also misch dich nicht ein.
„Ich höre, was du denkst. Auch jetzt noch. Da unten liegst du steif und bleich mit glasigen Augen und hier vor mir siehst du in das Leben des Jungen. Kannst du ja machen. Ist ja in Ordnung. Aber erinnere dich auch an die nicht so glorreichen Stunden. Sie gehören dazu, gerade wenn man so alt ist wie du. Der Blick des Verstandes fängt an scharf zu werden, wenn der Blick des Auges an Schärfe verliert. Kommt dir bekannt vor, der Satz, nicht wahr? Ist schon älter als wir beide. Ich sehe jedenfalls noch scharf genug, wie er im Schlafsaal vor Herrn Prigge steht, in Erwartung einer saftigen Ohrfeige.“
Genau. Da steht Hans im Pyjama vor seinem Bett. Schon vor einer Stunde sollte Nachtruhe sein im Schlafsaal. Alle Jungen liegen in ihren Betten und sehen auf ihn und Klassenlehrer Prigge.
„Du hast eben gesprochen, Hans“, sagt Prigge, „gibst du es zu?“ Er musste an der Tür gelauscht haben.
„Ja.“
Eine kurze Aushohlbewegung und peng. Sein Kopf fliegt bei dem Aufprall zur Seite. Er fühlt das Brennen. Seine Zähne beißen aufeinander. Prigge sieht ihn noch böse an. Dann schickt er ihn mit einer drehenden Daumenbewegung ins Bett.
„Joachim Küssler, komm her!“
Küssler kommt nach vorn.
„Hast du gesprochen?“
Küssler schweigt.
„Hast du gesprochen? – Du willst nichts sagen? Gut. Komm mit in mein Zimmer!“
Er geht mit Küssler aus dem Saal und macht das Licht aus. Prigges Zimmer ist gleich nebenan. Man hört nicht, was er sagt. Aber auch von Küssler hört man nichts. Alles lauscht in die Dunkelheit. Platsch!
Stille.
Wieder peng. Noch mal platsch. Längere Pause. Nichts ist zu hören. Hans meint, es wäre zu Ende, und glaubt, gleich käme Küssler zurück. Aber dann, wieder platsch und platsch und platsch. Immer wieder.
Einige Augenblicke später geht die Tür auf. Küssler geht im Dunkeln zu seinem Bett und kriecht unter die Bettdecke.
Keiner sagt mehr was. Es bleibt ruhig im Schlafsaal.
„Aufstehen!“
Als Hans wach wird, merkt er, dass gerade der Morgen graut.
„Aufstehen“, ruft Prigge, „Trainingsanzug und Turnschuhe anziehen. Draußen antreten!“
„Ihr lauft hinter mir her. Dicht aufschließen“, befiehlt er.
Da sieht man die Horde im fahlen Licht durch das leicht wellige Gelände trotten. Frühlauf. Nach einer halben Stunde bleibt Prigge stehen. Er mustert seine Truppe. Sieht jeden Einzeln scharf an.
„Jetzt laufen wir wieder zurück“, sagt er. „Und das von gestern Abend wollen wir vergessen.“
In lockerem Trab verschwindet die Horde zwischen den Birkenstämmen.
Hans schließt zu Joachim Küssler auf. „Joachim, hast du keine Kopfschmerzen?“, fragt er ihn.
„Warum?“
„So oft, wie der dich geohrfeigt hat. Konnte man ja hören. Ich hab gezählt. Zwölfmal.“
Küssler zögert einen Augenblick. „Sollen wir ja vergessen.“
„Ja und? Bei zwölf Ohrfeigen?“
„War nicht mein Kopf, Mann. War mein Arsch. Musste mich auf den Bauch legen. Die Hose hat er runtergezogen, weil ich das nicht wollte.“
Hans sieht ihn entsetzt von der Seite an.
„Hat ihm wohl Spaß gemacht“, sagt Küssler noch, dann gibt er Gas.
Jetzt tauchen sie wieder vor dem Heideschwimmbad auf. Aber nicht mehr im Morgengrau. Die Sonne steht hoch über den Bäumen und alle haben ein eingerolltes Handtuch unter dem Arm. Sie laufen auch nicht mehr, sondern latschen in kleinen Gruppen durch die Drehtür der