Название | Giuseppe Verdi. Leben, Werke, Interpreten |
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Автор произведения | Christian Springer |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783844240665 |
Ein Wagnis und eine Neuerung: Das libretto in prosa
M
acbeth ist in diesem kulturellen Klima ein Unikum ebenso wie ein Wagnis. Ein Wagnis deshalb, weil Verdi, der Englisch nicht spricht oder liest, in seinem Bestreben, eine Erneuerung der Oper herbeizuführen, auf die sprachlich schwerfällige, nicht gerade erstklassige Prosa-Übertragung von Carlo Rusconi angewiesen ist. Sie ist zudem mehr eine Bearbeitung als eine Übersetzung: Rusconi hat nicht nur Szenen umgestellt, sondern den Shakespeare-Text eigenmächtig gekürzt und ergänzt.
Um aus einem solchen Text ein gutes und für die Komposition geeignetes Libretto herzustellen, bedarf es einer erfahrenen Hand, die nicht nur die Vorstellungen des Komponisten, sondern auch die Erfordernisse und Möglichkeiten der Opernbühne genau kennt. Dabei kommt eine neue Lösung zum Tragen, denn es handelt sich um Verdis eigene, geschickt disponierende Hand. Beim Macbeth praktiziert der Komponist erstmals jene Vorgangsweise des libretto in prosa, die er bis zur Aida (1871) beibehalten und vervollkommnen wird. Er erstellt nicht etwa für seinen Librettisten nur ein Szenario der neuen Oper, sondern fertigt von eigener Hand ein komplett ausgearbeitetes Prosalibretto an, das sein Textdichter nur mehr entsprechend seinen metrischen Vorgaben und sonstigen Wünschen zu versifizieren hat.[300]
Das Meer in einem Löffel einfangen
A
ls Librettisten für das Macbeth-Experiment zieht Verdi seinen Freund Francesco Maria Piave heran. Es ist dies seine dritte Zusammenarbeit mit ihm und die bis dahin unkonventionellste und bedeutendste. Verdi vertraut Piave, der einer seiner wenigen engen Freunde ist und mit dem er einen offeneren und freieren Umgang pflegt als beispielsweise in den 1880er und 1890er Jahren mit Arrigo Boito. Dazu kommt, daß der 1810 geborene venezianische Librettist fast gleich alt wie Verdi ist, mit ihm auf Augenhöhe verkehrt und ihn zweifellos besser versteht als der um fast dreißig Jahre jüngere Boito, der die Generationenbarriere zwischen ihm und Verdi nie recht überwinden kann.
Von Piave wurde gesagt: „Er ist ein Meister im Verkürzen und Verkleinern. Er versteht es, das Meer in einem Löffel einzufangen“. Was damit gemeint ist, wird aus folgendem Beispiel ersichtlich. Wenn es bei Shakespeare in der Szene, in der Macbeth vom Tod seiner Frau erfährt (V,5), heißt:
Life’s but a walking shadow; a poor player,
That struts and frets his hour upon the stage,
And then is heard no more: it is a tale
Told by an idiot, full of sound and fury,
Signifying nothing.
und die deutsche Übersetzung von Schlegel/Tieck lautet:
Leben ist nur ein wandelnd Schattenbild; ein armer Komödiant,
Der spreizt und knirscht sein Stündchen auf der Bühn’,
Und dann nicht mehr vernommen wird: ein Märchen ist’s,
Erzählt von einem Dummkopf, voller Klang und Wut,
Das nichts bedeutet.
liest sich die Stelle in der italienischen Übersetzung wie folgt:
La vita non è altro che un’ombra in cammino; un povero attore
che s’agita e pavoneggia per un’ora sul palcoscenico
e del quale poi non si sa più nulla. È un racconto
narrato da un idiota, pieno di strepito e di furore,
e senza alcun significato.
Piave formt daraus den folgenden dreizeiligen Text (nur 17 Wörter im Vergleich zu den 46 Wörtern der Vorlage), der nichts von der Aussage vermissen läßt:
La vita!... Che importa?...
È il racconto di un povero idiota!
Vento e suono che nulla dinota!
Das Leben!... was liegt daran?
Das Märchen eines armen Narren!
Wind und Schall, der nichts bedeutet!
Das ist jene Kürze, die Verdi von Piave stets einfordert, als er ihm das – leider nicht erhalten gebliebene – Prosalibretto des Macbeth am 4. September 1846 schickt und dazu schreibt: „Ich lege Dir Kürze und Erhabenheit ans Herz.“
Vom Shakespeare-Text zum Opernlibretto
D
ie Verwandlung des Shakespeare-Textes in ein Opern-Libretto erfordert zahlreiche einschneidende Änderungen. Zwar folgt der Operntext im wesentlichen dem Handlungsverlauf der Shakespeare-Vorlage und übernimmt manche Passagen sogar wörtlich, doch muß vieles gestrichen, gekürzt und verändert werden. Dafür gibt es einen einfachen Grund: Ein Opernlibretto unterliegt anderen Gesetzen als ein Stück für das Sprechtheater. Das liegt unter anderem an der schwereren akustischen Verständlichkeit des gesungenen Wortes und an der unterschiedlichen Vortragsgeschwindigkeit des Textes sowie daran, daß die Figuren im Prosatheater einander ausreden lassen, um vom Publikum verstanden zu werden, etwas durchaus Unrealistisches, womit die Musik durch die Möglichkeit gleichzeitiger Äußerungen mehrerer Figuren viel besser umgehen kann.
Das zeigt sich beispielsweise in der Schlafwandelszene der Lady: Verdi setzt wie Shakespeare als Beobachter des Geschehens einen Arzt und eine Kammerfrau ein. Durch deren Anwesenheit und ihr besorgtes Zwiegespräch erscheint die Lady nicht als schlafwandelnder Dämon, sondern als bemitleidenswerte psychisch Kranke, die der
Zuwendung bedarf. Die Gespräche der beiden, die Piave zum Teil wortgetreu von Shakespeare übernimmt, kommentieren die schaurige Szene. Sie unterbrechen damit immer wieder die Äußerungen der Lady, die auf der Prosabühne währenddessen zu stummer Aktion verhalten ist. Bei Verdi findet nur zu Beginn der Szene ein eigener Dialog der beiden statt. Alle weiteren Bemerkungen fallen gleichzeitig mit dem Gesang der Lady oder in dessen kurzen Pausen, ohne jedoch dessen Fluß zu unterbrechen oder zu behindern.
Abgesehen von dem speziellen Mechanismus dieses Beispiels muß bei den personenreichen, handlungsmäßig komplexen und rhetorisch ausgefeilten Dramen Shakespeares für eine Oper vieles reduziert werden: von der Anzahl der Akte, der Schauplätze, der Szenen und der handelnden Personen bis hin zum Textvolumen. So werden aus den fünf Akten Shakespeares bei Piave vier Akte, das Bühnenpersonal wird auf fast die Hälfte der handelnden Personen des Dramas reduziert, und der Umfang des Piave-Librettos (in der Fassung von 1865) beträgt nur wenig mehr als ein Viertel des Shakespeare-Textes. Aus drei Hexen und Hekate im Drama wird die Hauptfigur des Hexenchors.[301]
Nebenhandlungsstränge mit Szenen wie jene zwischen dem Pförtner und Macduff (II,2), die nur in eine Semiseria gepaßt hätten, werden von Verdi und Piave eliminiert, ebenso die Figur der Lady Macduff und die Szene mit ihrem Sohn (IV,2). Lady Macbeth wird noch stärker als bei Shakespeare in das Zentrum der Handlung gestellt, zudem wird bei der Revision der Oper von 1865 ihr Charakter verändert, denn Verdi ersetzt ihr Allegro brillante „Trionfai! securi al fine“ (II,1) durch das Allegro moderato „La luce langue“ (II,2), eine zweiteilige Arie, deren Orchesterbegleitung schon auf sein Spätwerk vorausweist und die musiksprachlichen Errungenschaften der Nachtwandelszene fortsetzt.
Doch Verdi und Piave reduzieren Shakespeare nicht nur für die Opernbühne, sondern fügen auch Neues hinzu: So schreibt Piave eine neue Hexenszene (I,4), die bei Shakespeare keine Entsprechung hat, läßt Banco die Vorahnung auf seine Ermordung aussprechen, die wohl auch dazu dient, die Arie „Come dal ciel precipita“ (II,4) vorzubereiten