Название | Montag oder Die Reise nach innen |
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Автор произведения | Peter Schmidt |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783847659303 |
Im Nebenzimmer heulte ein Plattenspieler auf. Meine Deckenlampe begann zu pendeln und das Barometer fiel von der Wand. Es landete mit einem Knall auf meinen Kunstbüchern. Die tiefen Bässe der Boxen versetzten das alte Haus mit seinen Holzböden in Schwingungen.
Anja war am selben Tag neunzehn geworden wie ich sechzehn (irgendein verdammter Witz der Vorsehung) und studierte Gesang und Musik. Obwohl sie die Sache nicht allzu ernst nahm, zumindest, was die klassische Musik anbelangte.
Anscheinend legte man es in ihrem Alter immer noch darauf an, sein Gehör zu ruinieren und alle Welt mit wimmernden Schnulzen aus Michael Jacksons elektronischen Musiklabors zu tyrannisieren.
Wenn ich jetzt nach nebenan ging, um meine Schwester um etwas mehr Ruhe zu bitten, würde sie garantiert wieder anzügliche Bemerkungen über mein Sexualleben machen und mich fragen, ob ich »nur zwei Finger oder die ganzen Hand« dazu gebrauchte. Wie denn mein Orgasmus sei? Lang und anhaltend oder kurz? Versetzte er meinen ganzen Körper in Schwingungen – oder nur »das Ding da« – the dinky thing, wie sie gern hinzufügte.
Dabei würde sie mich mit diesem unsäglich mitleidigen Grinsen ansehen, bei dem ihre schönen dunklen Augen so gebrochen dreinblickten wie ein toter Schellfisch.
Anja führte ein Leben, das sich hauptsächlich zwischen Boutiquen, Diskotheken und den Cafeterias der Universität abspielte. Immer ein gutes Stück entfernt von den Seminarräumen und Vorlesungssälen. Und mit der entsprechenden Menge von Studenten, die scharf auf sie waren und das auch ständig zum Ausdruck brachten. Ich fragte mich ernsthaft, ob sie sich jemals einen Hörsaal von innen angesehen hatte.
Als ich zum Mittagessen nach unten ging, brach der Lärm abrupt ab. Dann ertönte ein langanhaltender Schrei. Gleich darauf flog die Tür auf, und Anja stürzte an mir vorüber nach unten.
»Hab’ ich dir nicht gesagt, tu das nie wieder?« rief sie, als sie im Esszimmer angelangt war. »Ich bringe dich um. Ich erwürge dich mit bloßen Händen …«
Ein Stuhl kippte auf den Boden.
»Sie tut’s wirklich. Die kleine Nutte bringt mich um«, jammerte Rolo. Meine Mutter hatte unbedingt im reifen Alter von zweiundvierzig Jahren noch ein weiteres Kind zur Welt bringen müssen.
Er riss sich los und verschwand wieselflink unter dem Tisch. Wegen der herabhängenden Tischdecke konnte man nicht erkennen, wo er sich gerade befand.
Ich setzte mich an meinen Platz und begann gelangweilt die Frankfurter Allgemeine zu studieren. Es war nur wieder eine der üblichen kleinen Familienszenen, eine Art Overkill des Familienlebens.
Es gab keine Möglichkeit, daran etwas zu ändern. Man konnte nur abwarten, bis die Kräfte, die für ihre Gedanken verantwortlich waren, zufällig jene indeterminierten Quantensprünge machten, die von der Physik als das wahre Prinzip der Mikrophysik angesehen wurden: Zufall und Chaos. Oder allenfalls noch statistische Wahrscheinlichkeit.
»Warum hilfst du mir nicht, du verdammter Ignorant?«, fragte Anja und trat wahllos mit dem Fuß gegen das Tischtuch. »Eines Tages wird sich das kleine Ungeheuer auch dich vornehmen, dann gnade dir Gott …«
»Mal bin ich ein Ignorant und mal mische ich mich in deine Angelegenheiten ein.«
»Er war wieder in meinem Zimmer.«
»Schließ einfach die Tür ab …«
»Ich hab’ nur ein bisschen nach dem Rechten gesehen«, erklärte Rolo unter dem Tisch.
»Was hast du denn in meiner Tasche zu suchen gehabt?«
Sicher irgend etwas, das Mädchen für Jungen interessant machte, dachte ich. Liebesbriefe, Tagebücher. So würde die Sache noch bis in alle Ewigkeit weitergehen, abgeschmackt und ohne jedes Gefühl für Würde. Wir waren keine Familie, die sonderlich aus dem Rahmen fiel. Wir waren eine stinknormale Familie, gewöhnlich und roh wie ein unbehauener Holzklotz.
Wahrscheinlich leiden alle Familien auf der Welt an irgendwelchen speziellen Verrücktheiten. Meine Mutter zum Beispiel litt schrecklich unter der Vorstellung, dass die Ressourcen der Erde versiegen könnten. Sie wurde von der fixen Idee geplagt, künftige Generationen verfügten über kein Erdöl mehr und müssten ihren Kaffee mit verseuchtem Wasser kochen. Sie war bemerkenswert hellsichtig in einer Zeit, in der der Club of Rome gerade seine Studie über »Die Grenzen des Wachstums« veröffentlicht hatte.
Irgendein überdrehter Psychiater, den mein Vater für sie konsultierte (sie selbst wäre niemals auch nur in die Nähe seiner Praxistür gekommen), war der Meinung, es handele sich um einen schwer behandelbaren existentiellen Konflikt. Eifersucht, Frigidität, Depressionen: kein Problem.
Aber bei den Existenzkrisen seien die Überzeugungen genauso fest verwurzelt wie bei Paranoia. Er riet ihr, in die Politik zu gehen.
»Sie wollen, dass ein seelisch kranker Mensch in die Politik geht, um gesund zu werden?«, fragte mein Vater.
»Das wäre eine durchaus gängige Form der Selbstbehandlung«, bestätigte er.
Ich stand gähnend auf, legte die Zeitung weg und ging zur Tür, ohne die anderen noch eines Blickes zu würdigen.
Im Flur kam mir Hanna mit einem Tablett aus der Küche entgegen. Vermutlich hatte sie wieder eines ihrer hochexplosiven Gemische im Dampfkochtopf angerichtet, durch das sie unsere Gesundheit auf Trab brachte. Je mehr Vitamine und Mineralien, desto besser, und das gelang am besten, wenn kein einziges Molekül davon durch den offenen Deckel entfleuchen konnte.
Das Gesicht meiner Mutter sah nach dem Kochen immer gerötet und verschwitzt aus. Manchmal verlief die schwarze Wimperntusche so in ihren Krähenfüßen, dass man glauben konnte, an ihren Augenwinkeln klebten kleine südamerikanische Skorpione.
Sie war gerade mal dreiundfünfzig, aber ich fand, dass ihr die Arbeit im Parlament nicht bekam. Sie übernahm sich damit.
»Hallo, wohin des Weges?«, erkundigte sie sich. »Wir essen gleich. Oder hat unser kleiner Outcast schon wieder die Nase voll von unserer Familie?«
2
Wenn ich das Nationalmuseum betrat, saß er meist auf seinem einfachen Holzstuhl an der Wand, dem Narrenschiff von Hieronymus Bosch gegenüber, das eine vielbewunderte Leihgabe des Louvre war. Es zeigt eine ziellos auf dem Meer schwimmende Barke, vollbesetzt mit Verrückten, die essen, trinken, musizieren, sich streiten.
Einer klettert mit seinem Messer am Mast hoch, wo ein Braten hängt, doch keiner scheint auf den Gedanken zu kommen, bis zu dem an der Mastspitze angebundenen Strauch zu klettern, in dem eine Eule – der Vogel der Weisheit – sitzt.
Trotz seines altmodischen Motivs schien es mir ein ganz modernes Gemälde zu sein, das einen tragischen Sinn für das Unglück des menschlichen Lebens offenbarte.
Es war eines meiner Lieblingsbilder, nicht nur wegen der harmonischen, in feinsten Braun- und Beigetönen abgestimmten Farbkomposition und seiner an Karikaturen gemahnenden menschlichen Gestalten.
Es war dieselbe Verlorenheit an die Welt, die ich auch in meiner Umgebung wahrnahm. Ich schlich mich jedes Mal mit einer undeutlich gemurmelten Entschuldigung aus dem Haus, wenn ich in die Galerie ging, denn fünf oder zehnmal dasselbe Museum zu besuchen, hätte mein Versprechen, mich einem handfesten Gewerbe wie dem des Physikers zu verschreiben, sofort als Lüge entlarvt.
Ich weiß nicht, ob Montag – merkwürdigerweise hieß er wie der erste Tag der Woche – mich wiedererkannte.
Er sah so freundlich lächelnd durch mich hindurch, als sei ich klares Glas. Einen Moment lang irritierte mich sein Blick, weil ich argwöhnte, ich könnte bereits die Physiognomie meines Vaters angenommen haben, der ebenfalls aus Glas war.
Doch als ich weiterging,