Название | Montag oder Die Reise nach innen |
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Автор произведения | Peter Schmidt |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783847659303 |
A. Montag
Mein Vater und meine Mutter hätten niemals eingewilligt, dass ich mich freiwillig und im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte – was man so geistige Kräfte nennt – auf ein derart unsicheres Terrain wie die Kunst wagte.
Und sei es nur, um Kunstgeschichte zu studieren und damit irgendeine versteckte Absicht zu verfolgen, wie insgeheim Maler zu werden – »Kunstmaler«, wahrscheinlich dachten sie sogar an »Straßenmaler« oder dergleichen, jedenfalls aber an eine Form von Hungerleiderdasein …
Also gab ich vor, Physiker werden zu wollen – jemand, der mit Materie, Energie und mathematischen Formeln auf der internationalen Bühne der Wissenschaft jonglierte wie ein Artist in der Zirkusarena.
Und als Nebenstudium würde ich Kunst belegen. Zwei Fächer, die sich wunderbar ergänzten.
Mit dem einen drang man in die tiefsten Geheimnisse der Materie und des Universums ein, mit dem anderen in die Ästhetik und die Welt des Gefühls, das den Menschen eigentlich ausmacht. Obwohl ich damals gerade sechzehn geworden war, bereitete ich mich mit großem Ernst auf mein Studium vor. Ich war alles andere als perfekt. Ich war ein Torso.
Aber im Unterschied zu meiner Familie – was man so Familie nennt – hatte ich wenigstens die Absicht, mich zu verändern.
Wir waren erst vor fünf Tagen in das neue Haus im Zentrum eingezogen. Genauer gesagt: meine Eltern waren dort eingezogen, denn ich selbst hätte niemals freiwillig die Idylle des alten Felssteinbaus auf dem Land verlassen.
Vor den Fenstern standen hohe Apfel- und Birnbäume, es war wunderbar schattig, die Sonne knallte einem niemals ins Gesicht. Und der ganze Bau war wie ein großer Weinkeller – etwas muffig, kühl und wegen seiner dicken Wände fast so sicher wie ein Atombunker.
Ich war mit ihnen gegangen, weil ein Fünfzehnjähriger – wir zogen einen Tag vor meinem sechzehnten Geburtstag um – nun einmal keine andere Wahl hat, wenn er nicht auf der Straße oder bei den Behörden landen will. Ich ließ es mir zwar nicht anmerken, das wäre unter meiner Würde gewesen, diese Familie hatte schon genug mit sich selbst zu tun, aber ich war auch nicht bereit, mich wegen des Umzugs zu überschwänglichen Kommentaren hinreißen zu lassen.
Oberhaupt hatte entschieden: Geld vor Idylle. Nicht, weil er nur noch an den Mammon dachte, wie man leicht unterstellen könnte, sondern weil er etwas nachjagte, das sich nur ganz vage in seinem Bewusstsein abzeichnete, von dem selbst er nicht wusste, was es war: ein Ziel ohne Gestalt und klare Konturen. Irgend etwas, das unbedingt erreicht werden musste, ein unbekannter Zweck.
Geld war wirklich nur ein Mittel für ihn. Trotzdem würde er erst damit aufhören, wenn er eine Milliarde auf dem Konto hatte. Obwohl einem eine Milliarde wenig erschien im Vergleich zu den anderen Geschäftemachern, die immer noch besser waren und es noch »richtiger« machten als man selbst.
Er selbst war genauso wie sein Ziel. Er war ein geldmachender Schatten, seltsam unkörperlich, ungreifbar. Oder besser gesagt: er war durchsichtig. Sie kennen vielleicht diese Leute, die so merkwürdig gläsern wirken, als seien sie gar nicht anwesend?
Die alternde Squaw ging unterdessen ihren politischen Geschäften nach. Sie versuchte ihre Kontrahenten im Parlament davon zu überzeugen, dass man seine Quecksilberbatterien nicht mal in spezielle Sammeltonnen warf.
Weil dann nämlich ein paar gewissenlose Geschäftemacher den gutgläubigen Bürger dazu missbrauchten, aus dem Zeug eine Menge anderer giftiger Dinge herzustellen, die in der Rüstung oder in obskuren Forschungslabors landeten. Man gab sie lieber an alternative kleine Klitschen weiter, die verantwortungsvoller damit umgingen.
Ich weiß nicht, ob sie zu diesem Zeitpunkt noch so etwas wie ein Sexualleben hatte. Falls ja, dann hielt sie es sorgfältig geheim. Vielleicht ließ sie es auch einfach bei Benns ernüchternder Erkenntnis bewenden, die Ehe sei eine Institution zur Lähmung des Geschlechtstriebs.
Das Ganze ist mehr und mehr zu einem kollektiven Zwang geworden. Legt man keinen Wert mehr darauf, fühlt man sich nicht vollständig, obwohl es ja möglich wäre, dass man das gleiche Vergnügen auch auf anderen Gebieten empfindet und deshalb als guter Kaufmann (der wir alle sind), gar keinen Verlust macht. Ich glaube, die Politik hatte vollständig ihre Sexualität ersetzt.
Und zwischendurch verwaltete sie den Haushalt, jagte mit dem Kleinwagen von einem Supermarkt zum anderen, um den billigsten Salatkopf zu ergattern, sprayte umweltfreundliche Reinigungsmittel aus dem Handzerstäuber auf die Fensterscheiben und versorgte ihre mehr oder weniger wohlgeratenen Kinder.
Oberhäuptling war der Meinung, seine Konkurrenten in der Baubranche seien bei der Auftragsvergabe im Vorteil, weil sie im Zentrum arbeiteten. Fünfunddreißig Kilometer Anfahrt vom freien Land wären nur per Hubschrauber zu bewältigen.
Wenn man einmal den Standpunkt des Merkantilismus verinnerlicht hat, kommen einem solche Gedanken selbst noch beim Zähneputzen oder beim Abtasten der Hämorrhoiden.
Und an Hämorrhoiden litt er, seitdem er sich bloß noch zwischen Schreibtisch und Bett bewegte, wie nur ein armes Individuum mit verstopftem Darmausgang leiden kann. Nicht an der gewöhnlichen, sondern an der großen, schmerzhaftesten Form, die von den Ärzten der Universitätsklinik »Granatapfel« genannt wurde.
Also hatte er in seinem vierundfünfzigsten Lebensjahr zwei Blocks vom Bauamt und von der verkehrsumtosten Einkaufszone entfernt ein vierzehnstöckiges Hochhaus mit außenlaufenden Fahrstühlen hochgezogen – das repräsentativste neue Gebäude der Stadt, obwohl es wie ein Fremdkörper zwischen dem Bahngelände und den niedrigen Häusern aufragte.
Es bestand ausschließlich aus naturbelassenem Beton, Holz und Glas, von den Wasser- und Elektroinstallationen und den an den Fassaden entlangjagenden Fahrstühlen natürlich abgesehen. So konnte er bequem zu Fuß gehen. Die Betonung liegt auf konnte. Er ließ sich trotzdem in seinem schwarzen Mercedes zur Arbeit chauffieren.
In den ersten Tagen nach unserem Einzug stand ich oft am Fenster und sah zum Nationalmuseum hinüber – ungeduldig und in ständiger innerer Anspannung wegen all der Entdeckungen, die dort auf mich warteten.
Zwischen der Gemäldegalerie und dem Haus lag nur der verwilderte Garten, in dem pausbäckige Engel und Teufel mit abgeschlagenen Nasen standen, als seien sie wahllos von einer Hand aus den Wolken dort hingestreut worden.
Durch die Scheiben konnte ich den glänzenden hellbraunen Parkettboden des Museums sehen: so deutlich, als rieche man das Bohnerwachs. In diesem Teil des Anbaus waren die alten Meister untergebracht.
Es waren nicht nur die Bilder, die mich interessierten, sondern auch der merkwürdige grauhaarige Museumswächter im Hauptsaal …
Manchmal sah ich nur seine Hosenbeine durch das Fenster. Er war sicher schon über sechzig Jahre alt und strahlte Ruhe und Würde aus. In seinen Bewegungen lag trotz aller Einfachheit etwas Aristokratisches.
Vielleicht war es auch nur die Weisheit, die manche Menschen angeblich in diesem Alter erreichen, wenn sie sich ernsthaft darum bemühen.
Sein Blick war immer freundlich und teilnahmsvoll, als habe er Verständnis für die Leiden der menschlichen Kreatur, gleichgültig, ob man selbst dafür verantwortlich war oder nur das Opfer widriger Umstände oder irgendeiner inakzeptablen Form der Naturkausalität. Ich hatte noch nie jemanden gesehen, dessen Bewegungen so gewandt und harmonisch waren, und das, obwohl er eigentlich meist auf dem Stuhl an der Kordelabsperrung saß. Von dort aus konnte er den ganzen Saal überblicken, ohne die Besucher beim Betrachten der Gemälde zu stören.
An seinem Revers klemmte das polierte Messingschild des Museums.
Bei meinen ersten beiden Besuchen hatte ich seinen Namen nicht genau entziffern können. Irgend etwas wie Montauk oder Montag …
Sobald er sich auf dem Stuhl niederließ, schien er zur Verkörperung der Ruhe zu werden.