Montag oder Die Reise nach innen. Peter Schmidt

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Название Montag oder Die Reise nach innen
Автор произведения Peter Schmidt
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847659303



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Mut, sie einzuladen?

      Piper und seine Schwester wohnten mit ihrem Onkel in einem Haus auf den Hügeln der Stadt. In der Klasse nannte man es nur das Hitchcock-Haus, weil es so düster und unheimlich aussah, obwohl Pipers Vater, ein ehemaliger Handelsvertreter, seine Frau und die anderen Kinder gar nicht in diesem Haus, sondern in dem weißgestrichenen Gartenhaus etwa dreißig Meter nördlich davon erschlagen hatte.

      Manchmal glaubte ich das ängstliche Flackern in Anne-Maries Blick bei dem Gedanken zu erkennen, dass sie seinem Anschlag nur knapp entronnen war. Man sagte, er sei kurz vor der »Vollendung seines Werkes« zusammengebrochen, er hatte in der geschlossenen Anstalt Selbstmord begangen.

      Als ich Anne-Marie nach dem Café nach Hause begleitete, war ihr Bruder gerade Schlittschuhlaufen – ich hoffte, er versank dabei für immer im Eis –, und ihr Onkel Martin befand sich auf einer Studienreise in Italien. Sie hatte ein reizendes rosagestrichenes Zimmerchen im Hitchcock-Turm, das nach Jasmin duftete.

      Es gab kein einziges Plakat von Schauspielern oder Sängern an den Wänden – keinen einzigen dieser schwülstig dreinblickenden Burschen in hautengen Lederhosen. Das fand ich beruhigend.

      »Magst du Spaghetti?«, fragte sie. »Meine Spaghetti sind überall berühmt.«

      »Ich bin der größte Liebhaber von Nudelgerichten außerhalb Italiens«, log ich, um ihr eine Freude zu machen. In Wirklichkeit verabscheute ich Spaghettis, weil die rote Soße beim Essen unweigerlich auf meinem Hemd landete.

      Es sah ganz reizend aus, wie sie in der Küche mit einem schwarzen Lederschürzchen hantierte, das nur knapp ihre weißen Oberschenkel bedeckte. Die Spaghetti wurden dampfend in ein Sieb geschüttet. Lediglich die vielen schwarzen Gegenstände im Haus – dazu gehörte auch ihre schwarze Lederschürze – machten mich etwas stutzig. Im Wohnzimmer an der Wand hing eine schwarze Reitpeitsche; nun gut.

      Die Aschenbecher, die Untersetzer, selbst die Kerzen waren schwarz, die Tischplatte bestand aus schwarzem Marmor.

      Der Korridor war schwarz tapeziert. Auf den schwarzen Bodenfliesen lagen schwarze Kelims mit blassen Indianermustern. Nur der Kolben des Jagdgewehrs an der Wand über der Flurtreppe war aus dunkelbraunem Holz.

      »Wann denkst du, werden wir heiraten?«, erkundigte sie sich, während wir eine Flasche Chianti zu den Spaghettis leerten.

      Ich war so perplex bei dieser Frage, als hätte ich eine Marienerscheinung.

      »Du glaubst doch wohl nicht, dass wir gleich miteinander ins Bett gehen, ohne später zu heiraten, Herzbaum? Das mag sich altmodisch anhören, aber ich bin nun mal keine Nutte.«

      »Wer sagt denn, dass wir gleich miteinander ins Bett gehen?«

      »Ist es denn nicht das, was ein Junge und ein Mädchen tun, wenn sie eine Flasche Chianti getrunken haben?«

      »Schon – aber deswegen gleich heiraten?«

      »Heißt das etwa, du liebst mich gar nicht?«

      »Ich bin sogar rasend verliebt in dich«, widersprach ich, als ich das gefährliche Flackern in ihrem Blick sah. Das gleiche Flackern, nahm ich an, wie bei ihrem Vater, diesem verrückt gewordenen Handelsvertreter, als er mit dem Beil vor seinen Kindern gestanden hatte.

      »Dann lass es uns jetzt tun …«

      »Mit oder ohne Heiratsversprechen?«

      »Mit natürlich. Ich bin noch Jungfrau. Es ist das größte Geschenk, das ein Mädchen einem Jungen machen kann. Oder bist du tatsächlich impotent, wie in der Schule behauptet wird?«

      Damit sprach sie meinen empfindlichsten Punkt an.

      »Wer sagt das?«

      »Du selbst in deinem Tagebuch, oder?«

      Sie ging achselzuckend an die Schublade der Kommode und nahm mein Notizheft heraus. Es roch nach Jasmin wie ihr Zimmer im Turm, als sie es vor mir aufschlug und ihr himmlisch gebogener Zeigefinger suchend über die Zeilen rutschte. Ich las peinlich berührt, welchen Unsinn ich in meinem damaligen Zustand zu Papier gebracht hatte. Ich hatte den genauen Wortlaut schon vergessen.

      »Da steht nur, dass ich Schwierigkeiten mit meiner Nachhilfelehrerin wegen zu großer Präservative hatte«, widersprach ich.

      »Waren die Gummis zu groß oder dein Schwanz zu klein, Herzbaum?«

      Danach trug ich sie wie einer dieser großen starken Löwen in den Spielfilmen zu ihrem rosafarbenen Bett. Irgend etwas war bei ihren Worten von meiner Schädeldecke zur Zimmerdecke aufgestiegen und hatte sich im Äther verflüchtigt; ein Fluidum, der Geist der Zurückhaltung, vielleicht der letzte Rest meiner Skrupel und Hemmungen …

      In ihrem Zimmer gab es keinen einzigen schwarzen Gegenstand. Er schien eine Art Gegenwelt zu bilden, wie die Antimaterie im Universum. Die vorherrschenden Farben waren Beige, Weiß und Rosa. Es erleichterte mich ungemein, das zu sehen. Ich fand auch keinen Beweis dafür, dass sie wirklich noch unberührt war, weder den berüchtigten Blutfleck auf der Bettdecke noch irgend etwas anderes. Das passte zum Rest des Bildes, wie ich später erfuhr. Anne-Marie war mit der Größe meiner Schwellkörper durchaus zufrieden.

      Und mir fiel ein Stein von der Seele wegen meines Missgeschicks mit Karola. Ich war völlig gefangen von all den Gedanken, die einen jungen Mann in meinem Alter beherrschen, hätte Montag gesagt, wäre er auf dem Stuhl neben dem Bett Zeuge unserer Vereinigung gewesen. In diesem Stadium des Bewusstseins sind wir immer Opfer unserer Gedanken.

      Dornenvogel hatte meinem Vater nach dem ersten finanziellen Desaster den Vorschlag gemacht, die Produktion von Betongerippen auf eine kostengünstigere Herstellung umzustellen. Er stehe in Verbindung mit einer kleineren thailändischen Firma, die Bauelemente für den asiatischen Markt produziere. Ihre Maschinen stammten aus der Volksrepublik China. Der Bruder des Fabrikanten arbeite als Baudezernent im Ministerium. Er rechnete ihm vor, dass sich die Kosten dabei um fünfundzwanzig Prozent senken ließen. Und mein Vater, dieser Oberhäuptling der Idioten, murmelte tatsächlich: »Hört sich gut an, klingt plausibel.«

      Er hatte einen hundsgemeinen Respekt vor Dornenvogels Steuertricks. Also nahm er in falschem Umkehrschluss an, sein Kompagnon sei auch ein guter Kaufmann.

      Oft saßen sie ganze Nächte lang in der Dachetage des Hochhauses, und Dornenvogel demonstrierte ihm an langen Ausdrucken, die Bleistiftspitze auf den Zahlenkolonnen, wo das Geschäft lag. Es war immer unsichtbar, es existierte nur in ihrem Geiste.

      Man musste es erst durch lange Rechen- und Gedankenoperationen ermitteln, so wie die alten Philosophen die Existenz Gottes aus Begriffen erschlossen hatten. Dornenvogels leidender Gesichtsausdruck erinnerte mich an Ludwig Wittgenstein. Aber er besaß eine ordentliche Verdauung, und das belegte in den Augen meines Vaters, dass sein Körper und seine Seele intakt waren.

      Von der vierzehnten Etage aus konnten sie die Stadt und das umliegende Land überblicken. Das schwache blaue Licht der beiden Lampen auf ihren großen Palisanderholzschreibtischen gab ihren nächtlichen Sitzungen einen verschwörerischen Anstrich. Völlig klar, dass das Leben von dieser Warte aus wie eine unendliche Baustelle wirkte, ein unermessliches Feld, um Bauelemente aus Betongerippen aufzutürmen und der Welt ein neues Dach über dem Kopf zu geben.

      Anja studierte unterdessen nach Vorlesungsschluss moderne Tänze bei ihrem Professor, einem jungen Musikwissenschaftler. Van der Held war früher Europameister in Leichtathletik gewesen und betrieb eine Art Gymnastik oder Taekwon-Do, das nicht im normalen Lehrplan vertreten war – »eine revolutionäre neue Art des Tanzes«, wie er es nannte – , und dabei traf er sie mit seinen Tritten oft am Schlüsselbein und unter der Brust.

      Eine verklemmte Form der Annäherung, nahm ich an. Ich hatte ihn einmal mit ihr im Café gesehen, da turtelten sie wie die Tauben auf dem Markusplatz. Meiner Meinung nach war er furchtbar verknallt in sie. Immerhin schien Anja nach diesem schweißtreibenden Studium völlig die Lust an ihren wimmernden Schnulzen aus Michael Jacksons elektronischen Musiklabors verloren zu haben. Es wurde totenstill im Haus.

      »Sag mal?«, erkundigte sich meine Mutter. »Was