Das Dunkle Bild. Tristan Fiedler

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Название Das Dunkle Bild
Автор произведения Tristan Fiedler
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847607793



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hinter dem Tresen. Sie hielt ein großes Buch in der Hand und sah überrascht auf, als sie mich bemerkte. Ich hatte keine Lust darauf, mich heiser zu reden. Also hob ich einfach nur meinen Koffer und sah sie auffordernd an. Das half.

      Zwei Minuten später öffnete ich den Koffer in der Kühle eines, für diese Umstände, ganz ansehnlichen Gästezimmers. Ich wollte mich erstmal von den Strapazen der Reise erholen, meine Kleidung wechseln und eine Dusche nehmen.

      Als erstes ließ ich Ben etwas Wasser aus meiner Thermoskanne schlecken. Dann kramte ich einige Fotos meines Vaters hervor, die ich mitgebracht hatte, und die zu den ältesten zählten, die ich von ihm hatte. Sie waren allesamt in Deutschland geschossen worden, kurz nach meiner Geburt. Aber wenn ihn hier jemand kannte, dann musste er ihn sicher wiedererkennen. Doch zuallererst musste ich etwas essen.

      Ich klappte den Koffer wieder zu. Meine Kleider ließ ich darin. Sie bedeckten das Gemälde, das ich weiterhin in das weiße Leintuch eingehüllt ließ, das ich seit meinem Besuch in der Pinakothek in München nicht mehr abgenommen hatte.

      Die fette Dame, die ich bei meiner Ankunft in dem Gasthaus gesehen hatte, war immer noch weg, als ich mein Zimmer verließ. Dafür stand das junge Mädchen am Tresen, das anscheinend kein Deutsch verstand und mir nicht weiterhelfen konnte – weder, als ich sie um etwas zu essen bat, noch als ich sie nach der älteren Dame fragte. Sie schüttelte nur immer wieder bedauernd den Kopf. Die fette Dame musste zwar etwas jünger gewesen sein als mein Vater, es bestand aber die Chance, dass sie ihn gekannt hatte. Ich zeigte dem jungen Mädchen das Foto, ohne jedoch wirklich zu hoffen, dass sie ihn erkannte.

      Ich trat hinaus in die Sommerhitze und sah mich etwas in dem kleinen Ort um. Es schien hier tatsächlich alles zu geben, was man auch in größeren Ortschaften findet. Ich entdeckte eine Werkstatt, einen kleinen Lebensmittelladen und einen winzigen Ramschladen. Es gab sogar ein rustikales Internetcafé. Wenigstens glaube ich, dass es eines war. Ich sah nicht mehr als drei Stühle vor drei Monitoren, aber ich hatte auch nicht die Geduld, die Gebäude genauer unter die Lupe zu nehmen. Ich war am Verhungern. Trotzdem staunte ich nicht schlecht über die souveräne Unabhängigkeit, die sich dieser winzige Ort gegenüber den umliegenden Ortschaften erkämpft zu haben schien.

      Als ich in das Gasthaus zurückkehrte und mich an einen der Tische setzte, war ich allein. Tschechische Musik schepperte aus einem kleinen Radio, das hinter der Theke auf einem Regal stand. Als das junge Mädchen kam, versuchte ich ihr noch einmal klarzumachen, dass ich etwas essen wollte. Sogar mein Magen stimmte in meine Bemühungen mit ein und gab ein ergreifendes Knurren von sich. Aber das Mädchen schüttelte nur immer wieder dümmlich den Kopf. Erst als ich mich einiger plumper Hand- und Mundbewegungen bediente, klärte sich ihr Blick und sie verschwand durch die Tür hinter der Theke. Wenn es um die grundlegenden Dinge des menschlichen Überlebens geht, dann kann man sich eben doch archaischer Hilfsmittel bedienen.

      Eine Weile saß ich nur so da, bis hinter mir jemand herein kam. Ich drehte mich nicht um, sondern blieb einfach sitzen, während die Person in der Tür stehen blieb und mich anscheinend von dort beobachtete.

      Schließlich schloss sich die Tür, und die Person schritt langsam um mich herum. Es handelte sich um einen Bär von einem Mann. Er musterte mich aus scharfen Augen, die von dichten, grauen Augenbrauen überwuchert wurden. Es war schwierig, etwas aus seinem Gesicht zu lesen, da es zu einem großen Teil hinter Schmutz und Barthaaren verborgen lag. Ich versuchte, meine Verunsicherung zu verbergen. Als er eine Weile um mich herum gestiefelt war, setzte er sich mir gegenüber.

      In diesem Augenblick tauchte auch das junge Mädchen wieder auf. Sie brachte mir einen großen Teller Gulasch und einen Kanten Weißbrot. Ich bedankte mich kurz und begann zu essen, während mich der Bär weiter ansah, ohne etwas zu sagen. Langsam wurde ich nervös – und ich bin mir sicher, dass der Mann das spürte, während ich unbeirrt den Gulasch in mich hineinschaufelte. Ich entschied mich, die Flucht nach vorne anzutreten.

      „Dass in so einem kleinen Ort nicht viel passiert, hab ich mir ja schon gedacht“, sagte ich, ohne zu dem Mann aufzusehen. „Aber dass ein Deutscher, der Gulasch isst, so eine große Attraktion ist -“

      „Ich wusste, dass einer von euch wiederkommen würde“, unterbrach mich der Bär.

      Ich stockte mitten in der Bewegung und sah ihn an. Er hatte perfektes Deutsch gesprochen. In seiner Stimme lag eine Mischung aus Vorwurf und Einsicht.

      „Einer von wem...?“ fragte ich. Ich machte den Ansatz, noch etwas hinzuzufügen. Ich wusste aber selbst nicht genau, was daraus werden sollte. Nach kurzem Gestammel entschied ich mich, abzubrechen. Irgendetwas an dem Riesen machte mich unsicher.

      „Du weißt, wen ich meine...“, fuhr der Bär fort. „Deine Familie. Deswegen bist du doch hier.“

      Ich sah ihn einen Moment lang verwirrt an. Auf einmal änderte sich sein Gesichtsausdruck. Er wirkte, als wäre er sich selbst nicht mehr ganz sicher, ob er mit dem Richtigen sprach.

      „Mein Vater ist vor ein paar Tagen gestorben“, sagte ich schließlich.

      „Aha.“ Der Gesichtsausdruck des Mannes nahm wieder die alte Härte an, kaum dass ich meinen Satz beendet hatte. „Ich dachte es mir schon... Und jetzt suchst du danach.“

      „Wonach?“

      „Wonach?“ der Mann sah mich an, als hätte ihm ein kleines Kind gerade eine dumme Frage gestellt. „Sag mal, Junge, warum bist du denn hier?“

      Ich überlegte kurz, dann entschied ich mich dafür, die ehrlichste Antwort zu geben: „Ich weiß es nicht so genau.“

      Der Mann lachte laut los. Es klang wie ein Lachen, das kleine Kinder zum Weinen bringt. „Du weißt es gar nicht? Du kommst aus deinem schönen, sauberen Nest in Deutschland hierher in diesen Haufen Dreck, und du weißt gar nicht, warum?! Na ja, ihr ward schon immer so. Man wusste nie, ob ihr einen besonderen Spürsinn habt – oder einfach nur dumm seid...“

      „Kannten Sie meinen Vater denn?“

      Auf einen Schlag wurde der Mann wieder ernst und sah mich erneut scharf an. Er schien kurz zu überlegen, was er antworten sollte, dann lehnte er sich langsam zurück. „Jeder hier kennt deinen Vater... Ich kann dir aber nicht weiterhelfen.“

      Er kramte in seiner Hosentasche herum. Dann zog er etwas hervor. „Ich hab aber versprochen, das hier aufzuheben. Hier.“ Er warf mir einen Gegenstand zu, der hart auf der Tischplatte aufschlug und neben meinen Teller polterte.

      Der Bär stand auf und verließ das Gästehaus, während ich den Gegenstand vor mir ansah. So wenig ich mir auf dieses Gespräch auch zusammenreimen konnte, ich ahnte, wofür das kleine Metallobjekt war, das meinen Blick fesselte. Es handelte sich um einen alten Messingschlüssel.

      Der Appetit war mir auf einmal vergangen. Die fette Dame schleppte sich wieder in das Gasthaus. Ich war mir sicher, dass sie genau wusste, was gerade geschehen war. Auch sie sah mich auf eine mitleidvolle Weise an. Ich nahm den Schlüssel und wog ihn prüfend in der Hand. Er war kühl und schwer. Dann sah ich zu der Dame hinüber.

      „Wofür ist der Schlüssel?“ fragte ich.

      „Das Haus.“ Sie lächelte freundlich. „Wissen Sie, wo es ist?“

      ~

      Die Wegbeschreibung der fetten Dame war nicht allzu genau. Doch ich fand schnell, was ich suchte. Ich musste nur immer in die Richtung gehen, in welcher der größte Berg der Sudeten lag: die Schneekoppe. Die Sonne ging bereits unter, als ich endlich den kleinen Hügel nahe des Ortes erklommen hatte, und mein Blick auf mein Ziel fiel. Kurz schien alles um mich herum von mir fort zu rücken, als befände ich mich in einer Umgebung, die nicht real war und dies auch niemals gewesen war.

      Was da vor mir lag, auf der Spitze dieser kleinen Anhöhe, war nichts anderes als das Haus, das auf dem Gemälde abgebildet war, das noch immer in meinem Koffer lag. Es sah genauso aus wie auf dem Bild. Es schien, als wäre das Gemälde erst gestern entstanden, als blickte ich in diesem Augenblick auf das Gemälde selbst, das zu übergroßen Proportionen angeschwollen war.

      Es dauerte keine zehn Minuten, bis ich wieder zurück