Das Dunkle Bild. Tristan Fiedler

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Название Das Dunkle Bild
Автор произведения Tristan Fiedler
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847607793



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den Schlamm hinunter auf den Sarg und kamen dann auf mich zu. Der vordere streckte mir die Rechte entgegen. Doch ich erhob abwehrend meine Hand und schüttelte den Kopf. In der Anzeige hatte ich ausdrücklich geschrieben: Von Beileidsbekundungen am Grab bitte ich höflichst abzusehen. Der Mann wirkte irritiert, wusste kurz nicht, wohin mit seiner Hand, und trat dann verlegen zur Seite.

      Eine Weile standen wir drei schweigend da, während sich ein gelber Bagger durch den Schlamm auf uns zu wälzte. Ich wollte wissen, ob es noch irgendwas zu tun gab. Doch der Priester nickte mir nur kurz zu und ging dann los. Der Ministrant machte einen Satz, um mit dem Priester Schritt zu halten. Dann verschwanden die beiden im Regenschleier. Ich war erlöst.

      „Gibt es noch etwas zu essen?“ rief der zweite der beiden Trauergäste laut, um das Prasseln des Regens und das Motorengeräusch des Baggers zu übertönen.

      „Tut mir leid“, erwiderte ich. Dann nahm ich meinen Koffer in die eine und Bens Käfig in die andere Hand. „Leichenschmaus gibt es nicht. Ich muss zum Zug.“

      Die Männer wirkten enttäuscht. Doch ich hatte keine weitere Zeit zu verlieren und ließ die beiden beim Bagger zurück, der nun damit begann, das Grab zuzuschaufeln.

      Ich wollte schon den kleinen Pfad zwischen den tropfenden Bäumen hindurch in Richtung Ausgang eilen, da hielt ich noch einmal inne. Etwas abseits bemerkte ich eine Person, die mir bis jetzt nicht aufgefallen war: Im Eingang zu einer steinernen Kapelle stand eine hagere Gestalt. Sie trug ein schwarzes Kleid und ihr Gesicht war von einem dunklen Schleier verhüllt. Die Frau schien mich direkt anzusehen, und obwohl ich schon spät dran war, zögerte ich, weiterzugehen. Aus welchem Grund auch immer diese Gestalt mich so in ihren Bann zog – ich konnte nicht anders, ich musste zu ihr hingehen.

      Als ich in den Eingang der kleinen Kapelle trat, kam es mir kurz so vor, als wollte die Frau vor mir zurückweichen. Doch sie tat es nicht. Beinahe schien es, als hätte sie dieses Treffen erwartet, auch wenn es ihr alles andere als angenehm war. Sie war etwas kleiner als ich und von hagerer, feingliedriger Gestalt. Ich versuchte durch den Schleier hindurch etwas von ihrem Gesicht zu erkennen. Doch vergeblich.

      „Kannten sie meinen Vater?“ fragte ich.

      Die Frau nickte.

      „Sind Sie eine Freundin?“

      Die Frau schien zu überlegen, ob diese Bezeichnung zutraf. Sie kam aber anscheinend zu keinem Ergebnis. Das wunderte mich nicht.

      „Woher kannten Sie ihn?“

      Sie zögerte. Dann antwortete sie ausweichend: „Ich kannte Ihren Vater und Ihre Mutter.“

      Sie sprach sehr leise und ich konnte ihre Stimme nur schwer gegen den lauten Regen ausmachen. Doch mir fiel sofort der leichte Akzent auf, der ihrer Aussprache anhaftete und den ich so gut von meinen Eltern kannte.

      „Kommen Sie auch aus Tschechien?“ fragte ich.

      Wieder nickte die Frau, ohne etwas zu sagen.

      „Kannten Sie die beiden gut?“

      „Sehr gut sogar.“

      Ich trat etwas näher an die Frau heran, um sie besser verstehen zu können. Erneut schien es mir so, als wollte sie vor mir zurückweichen. Im nächsten Moment wehte mir ein sanfter Duft entgegen, der mir irgendwoher bekannt vorkam. Der Geruch irritierte mich für einen Moment und ich versuchte zu begreifen, woher ich ihn kannte. Er war wie das Aufblitzen einer kurzen Erinnerung, die man zu fassen versucht, die einem jedoch sofort wieder entgleitet. Aber die gesamte Erscheinung der Frau irritierte mich. Wer war sie? Woher kannte sie meine Eltern? Und was an ihr zog mich so in ihren Bann?

      Die Frau sah hinab auf meinen Koffer. „Sie verreisen?“ fragte sie.

      Diesmal war ich derjenige, der nur nickte.

      „Ihr Vater ahnte, dass das eines Tages passieren würde.“

      Ich sah die Frau überrascht an. „Dass was passieren würde?“

      Sie überging meine Frage und fuhr fort: „Er hat etwas mit sich herumgetragen, das...“ Sie zögerte kurz, bevor sie weitersprach. „Er war unfähig, es Ihnen oder sonst einem Nahestehenden mitzuteilen.“

      Ich stieß heftig die Luft aus. Beinahe hätte ich bei dem Wort Nahestehenden aufgelacht. „Und Ihnen hat er es erzählt?“ fragte ich.

      Die Frau schüttelte langsam den Kopf. „Das musste er aber auch gar nicht. Ich wusste es. Ich hab geahnt, dass ich Sie heute hier sehen würde.“

      Während sie das sagte, griff die Frau in den Mantel, den sie über ihrem schwarzen Kleid trug. Dann streckte sie mir ihre Hand hin und öffnete die schlanken Finger. Auf ihrer Handfläche lag ein kleiner Zettel. Er sah aus wie die abgerissene Ecke einer Buchseite, auf die mit dunkler Tinte eine Zahl geschrieben war: eine Siebenundzwanzig.

      „Was ist das?“ fragte ich.

      „Nehmen Sie es. Es ist von Ihrem Vaters. Er hoffte, dass Sie diese Reise tun würden. Und er wollte, dass Sie in diesem Fall das hier mitnehmen.“

      Ich nahm den kleinen Zettel und betrachtete ihn. Es gab so vieles, was ich die Frau noch fragen wollte. Aber ich war schon zu spät dran. Ich musste mich beeilen, wenn ich den Alpenexpress noch erwischen wollte. Also steckte ich den Zettel ein, bedankte mich und lief eilig den matschigen Pfad zum Friedhofseingang hinab.

      Als ich ein Stück gelaufen war, drehte ich mich instinktiv noch einmal zu der Frau herum. Durch den Regenschleier erkannte ich noch schwach die steinerne Kapelle. Im Dunkel des Kapelleneingangs konnte ich die Gestalt der Frau nicht mehr ausmachen.

      Kapitel 5

      Es war schon später Nachmittag, als meine Reise endlich zu Ende ging. Ich verbrachte fast zwölf Stunden in einem kleinen Bus, der jedes Mal auseinander zu fallen schien, wenn er von einem Schlagloch in das nächste fuhr. Ich erreichte auf diese Weise einen kleinen Ort, von dem aus ich fast eine Stunde lang an einer staubigen Straße entlang wandern musste, um endlich diesen Ort namens Byscovice zu erreichen.

      Meine Kleidung klebte, und die Sonne brannte erbarmungslos auf meinen schweißnassen Körper herab, während ich meinen Koffer hinter mir herzog. Ben wimmerte erbärmlich in seinem Käfig. Es musste brütend heiß darin sein. Doch ich konnte ihn erst rauslassen, sobald wir angekommen waren.

      „Du wolltest ja unbedingt mit!“ warf ich Ben vor. Seine grünen Augen funkelten mich anklagend durch die Schlitze in der Käfigtür an. „Das hast du jetzt davon.“

      Der Ort selbst schien nur aus wenigen alten Häusern zu bestehen, die sich um die kleine Landstraße herum verstreuten. Ich suchte eine Weile, bis ich so etwas wie ein Gasthaus fand, in der ich etwas trinken und nach einem Zimmer fragen wollte.

      „I need a room“, sagte ich zu einer älteren Dame, die hinter dem Tresen stand. Sie war von geradezu monströsem Umfang. Im Arm hielt sie einen dieser winzigen Hunde, die über Generationen hinweg handlich gezüchtet werden. Dieser hier schien kaum lebensfähig zu sein. Er zitterte unentwegt am ganzen Körper und starrte entsetzt auf Ben, den ich auf dem Tresen abgestellt hatte. Ben hingegen hatte sich umgedreht und zeigte dem Scheusal nur sein Hinterteil.

      Die fette Dame antwortete nicht. Stattdessen sah sie mich aus weit aufgerissenen Augen an. Anscheinend war es eine Seltenheit, dass ein Fremder hier auftauchte und um ein Zimmer bat.

      „For one night“, sagte ich. „At first.“

      Mein Englisch war nie gut gewesen. In Ländern wie Frankreich, wo die Menschen noch schlechter Englisch sprechen, hatte es immer ausgereicht. Doch hier, in diesem Kaff irgendwo im Nirgendwo, war ich anscheinend an der falschen Adresse damit. Die fette Dame starrte mich nur weiter an. Dann ging sie langsam ein paar Schritte rückwärts – und verschwand einfach durch eine Tür hinter dem Tresen.

      Verdattert sah ich mich um. Die Einrichtung war rustikal. Es gab einen steinernen Kamin, neben dem eine alte Standuhr tickte. Davor lag ein verfilzter Teppich, der ein paar Holztische und Stühle trug.