Название | Der Intellektuelle, der klug genug war, sich nicht dafür zu halten |
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Автор произведения | Joachim Kath |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783847659433 |
„Wollen Sie den Sozialismus wieder einführen?“ rief jemand aus dem Publikum erbost.
„Nein“, sagte Jonathan Seyberg ruhig, „ich will nur einige Zusammenhänge klar machen, die mit der heutigen Finanz- und Bankenkrise zu tun haben, die unbestreitbar Teil des reformbedürftigen Kapitalismus ist. Die drückenden Staatsschulden, diese ganze Verschuldungsmentalität, mit dem Anspruch, Wachstum zu generieren, ist ein Irrweg. Im Turbokapitalismus will jeder alles und deshalb kommen so wenig gemeinsame Projekte zustande, die in jeder Beziehung großartig sind und nicht gleichzeitig Effizienz und Ausbeutung beanspruchen. Vielleicht nehmen Sie mir ab, dass ich auch den Niedergang des Sozialismus bemerkt habe und grundsätzlich eher geneigt bin, zukunftsorientiert zu denken. Neil Postman, ein Fachkollege von mir, der auch schon tot ist, der den Begriff „Infotainment“ geprägt hat und die Infantilisierung der Gesellschaft durch die Medien, insbesondere das Fernsehen beklagte, hatte nach meiner Ansicht recht, wenn er sich an Aldous Huxleys Vision der „Brave New World“ und nicht an Orwell hielt, der in seinem Buch „1984“ die Menschen durch Schmerzen unter Kontrolle bringen lässt. Genau das haben inzwischen so manche der Mächtigen nicht nur erkannt, sondern perfektioniert. Ja, was denn? Dass Menschen sich durch brutale Gewalt nicht ewig, sondern nur zeitweise fremd bestimmen lassen, aber durch das, was sie besonders gerne tun, sehr nachhaltig.
Ich behaupte, Manipulation durch Unterhaltung, persönlich und medial, hat den Leuten nicht nur das Denken zu einem guten Teil ausgetrieben, sondern sie in eine Identitätskrise gestürzt, die immer schnellere Trendwechsel erlaubt. Die Politiker machen dabei blindlings mit, indem sie die Lösung in mehr Wachstum suchen und überhaupt nicht differenzieren, um welche Art von Wachstum es geht. Warum? Weil die Botschaft für die einfältigen Wähler angeblich nicht plakativ genug wäre, zwischen qualitativem und quantitativem Wachstum der Wirtschaft zu unterscheiden. Der heutige Mensch kann sich nicht einmal mehr auf sich selbst verlassen, geschweige denn auf andere. Vieles von dem, was er wahrnimmt, im Alltag, in den Medien, gerade auch im Internet, ist von Interessenvertretern aufbereitet, um seine Kenntnisse, sein Wissen und seine Meinungen im geplanten Sinne zu verändern.“
„Konjunkturen verlaufen in Wellenbewegungen, nach einem Tal kommt auch wieder ein Aufschwung. Alles halb so schlimm!“ rief jemand herein und erntete Applaus.
„Es kommt darauf an, aus welcher Perspektive Sie das beurteilen. Wenn Sie glauben, dass es richtig ist, wenn die Allgemeinheit das Fehlverhalten der Investmentbanker durch niedrige Zinsen bezahlt, würde ich Ihnen zustimmen. Wenn Sie der Ansicht sind, dass es nichts ausmacht, wenn Millionen Menschen teilweise ihre Altersvorsorge verlieren, haben Sie ebenfalls recht. Das Erstaunliche ist doch nicht, dass Blasen platzen können. Anlass zu Verwunderung gibt allerdings, dass trotzdem massenhaft Aktien von jungen Unternehmen ohne Substanz an die Börsen der Welt gebracht wurden, deren Werte lediglich auf einem Versprechen in die Zukunft basierten. Und das millionenfach Hauskredite an Leute ausgereicht wurden, die sie niemals bedienen können. Und dass von vielen Banken Produkte geschaffen wurden, die niemand überblicken kann und in denen Schrottpapiere gebündelt wurden. Auf diese Weise kann natürlich ein ganzes Finanzsystem den Bach runter gehen! Das sind alles legale Aktionen. Hinzu kommen der kriminelle Anlagebetrug, die zunehmende Cyber-Kriminalität mit Internet-Währungen und die Steuerhinterziehung in großem Stil. Sowie die Anreize für Ihre Mitarbeiter durch übertriebene Boni erhöhte Risiken einzugehen. Ich weiß, um das Ausmaß der Krise zu verdecken, werden einfach Schattenbanken installiert. Aber finden Sie das gerecht, fair und zielführend?“
„Wahrscheinlich sind Sie, so wie Sie reden, für ein bedingungsloses Grundeinkommen, oder? Jeder bekommt fürs Nichtstun Geld, um sich frei entfalten zu können!“
„Nun, dass wir in einer Angstgesellschaft leben, in der ein Teil der Menschen, gerade auch junge Leute, Existenzangst nicht ganz zu Unrecht hat, ist angesichts der hohen Arbeitslosigkeit und der vielen befristeten, schlecht bezahlten Jobs nicht zu leugnen. Ich kann mir vorstellen, dass ein Einkommen, das an keine Bedingungen geknüpft ist, angstreduzierend wirken könnte. Dennoch bin ich dagegen und ich will Ihnen auch sagen, warum. Erstens, weil es der Mehrheit der Bevölkerung nicht zu vermitteln ist, dass jemand, der nicht bedürftig ist, von der Gesellschaft alimentiert wird. Zweitens, weil ein Teil der Menschen, die heute arbeiten, zu Hause bleiben würden. Niemand weiß, wie groß dieser Anteil ist, doch ich befürchte, er ist größer als so mancher Sozialromantiker annimmt. Drittens, weil ich grundsätzlich gegen Subventionen bin. Dieses Zu-Hilfe-kommen bei allen möglichen und unmöglichen Gelegenheiten hat einen unüberschaubaren Sumpf geschaffen, der zunächst einmal ausgetrocknet werden müsste, bevor überhaupt daran gedacht werden sollte, neue Töpfe zu schaffen und neue Schulden zu machen.“
Auf meinem Rückweg zu Fuß an der Ostseite des Hyde Parks entlang zur Subway Station Marble Arch, kamen mir immer wieder Bruchstücke des eben gehörten Vortrags in den Sinn. Gedankenfetzen wie „Alle unsere Probleme sind letztlich auf mangelhafte Kommunikation zurückzuführen. Auch Ihre persönlichen Probleme“. Oder: „Was Sie tatsächlich am meisten beeindruckt, sind Zahlen mit vielen Nullen. Wie recht Sie damit haben, können sie aus der Tatsache ersehen, dass der Unterschied von der Null zur 1 wesentlich größer ist, als von der 1 zu dem, was Sie für eine große Zahl halten. Es findet eine Mathematik der Verblödung statt und dabei mischen alle, nicht nur die Banken, kräftig mit.“
Ich hatte Jonathan Seybergs Rede vorsorglich mitstenografiert, so gut ich konnte, auch weil ich nicht sicher war, ob mein kleines Aufnahmegerät seine Worte laut und verständlich genug wiedergeben würde. Noch in der U-Bahn blätterte ich begierig in meinem Schreibblock, ängstlich die Kürzel auf ihre Lesbarkeit prüfend. Er hatte seinen Zuhörern einen Spiegel vorgehalten, hatte sie seziert bis aufs Rückenmark und sie hatten, so schien es mir, nichts begriffen. Minutenlanger Beifall am Schluss, sogar standing ovations, Abgang von der Bühne, Händeschütteln der Organisatoren.
Was musste in diesem Mann vorgehen? Er hatte vom Umdenken, vom notwendigen Wandel in der Welt gesprochen. Von der wichtigen Rolle kommunikativer Inhalte. Hatte eindeutige Beispiele gebracht. Und in der anschließenden Diskussion auf die Frage, woher er das alles wisse und warum er so sicher in seiner Analyse sei, ganz bescheiden und emotionslos geantwortet: „Sehen Sie, ich habe einen ordentlichen Beruf gelernt und nie aufgehört, neugierig zu sein. Damals in den 60er Jahren, während meines Studiums, wurde Intelligenz noch als Anpassungsfähigkeit definiert und sicherlich sehnen sich gar nicht so wenige von Ihnen insgeheim danach zurück. Heute – nur eine Generation später – verstehen wir unter Intelligenz die Fähigkeit, scheinbar nicht vorhandene Unterschiede und Gemeinsamkeiten möglichst schnell erkennen zu können. Ich weiß nicht, ob alle von Ihnen den Riesensprung sehen, der zwischen reagieren und agieren liegt.“
Oder eine andere Passage seiner Rede, auf die ich in dem Augenblick stieß, als Sekunden bevor sich die Subway-Türen wieder automatisch schlossen, ich glaube es war die Station Oxford Circus, als ein junger Schwarzer direkt vor meinen Augen einer nicht mehr ganz so jungen Touristin die Tasche entreißen wollte. Er griff nicht daneben, aber sie hatte die Tasche unter ihren Arm geklemmt und hielt sie zusätzlich fest, sodass er wieder losließ und noch auf den Bahnsteig springen konnte. Alles lief blitzschnell in Sekunden ab. Wenn es wenigstens einmal umgekehrt gewesen wäre – also eine weiße Lady einem arbeitslosen Jugendlichen … - doch es war wie immer. Nur was dieser Jonathan Seyberg gesagt hatte, war für mich interessant und teilweise neu: Zum Beispiel das mit dem Unterschied zwischen Strategie und Taktik, also der Zielsetzung und der Konzeption, wie dieses Ziel erreicht werden soll. Aber dass die Politiker