Josef in der Unterwelt. Martin Becker

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Название Josef in der Unterwelt
Автор произведения Martin Becker
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742726087



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den Nachmittag freigegeben. Ich fürchte, wir kommen mit dem Programm nicht ganz durch.“

      „Ach, wir hatten wieder einmal eine dieser ewigen Diskussionen.“

      „Das sollte dir doch langsam nichts mehr ausmachen, oder?“

      Josef blieb still und schaute wie geistesabwesend vor sich auf die Straße.

      „Ist was mit dir, Liebling?“ fragte Eva, die bemerkte, dass Josef schon die ganze Fahrt über recht schweigsam neben ihr saß.

      „Heute bin ich in einen Steinschlag geraten“, sagte er.

      „Liebling!“ rief sie erschreckt. „Hast du dich verletzt?“

      „Nein, ich lag so in einem Spalt, dass die Steine über mich hinweggerollt sind.“

      „Warum hast du mir das nicht gleich erzählt, als ich dich abgeholt habe?“

      „Nein, nein“, beruhigte er sie. „Es ist ja nichts weiter passiert.“

      „Dir sitzt aber doch noch der Schreck in den Knochen.“

      „Es ist nichts passiert. Ich habe eben Glück gehabt.“

      „Schatz“, Eva schaute ihn vorwurfsvoll an. „Du warst wieder leichtsinnig, stimmt’s?“

      Der Weg ging steil abwärts. Die Kurven waren eng und unübersichtlich und bildeten durch das feuchte Laub gefährliche Rutschbahnen. Eva fuhr vorsichtig.

      „Das ist vielleicht ein blödes Gefühl“, sagte Josef nach einer Weile, „wenn so ein Felsbrocken über dich rüberrollt.“ Er lachte verlegen und griff nach ihrer Hand.

      „Sepp! Das ist nicht zum Lachen!“ sagte sie erschüttert. „Du hättest doch tot sein können!“

      „Ha!“ rief Josef trotzig. „So schnell erwischt es mich nicht.“

      Eva nahm ihre Hand zurück und schaute ihn von der Seite an. Dabei zog sie eine Augenbraue hoch.

      „Heute habe ich mit Franz geredet“, sagte Josef schnell, um das Thema zu wechseln. „Er meint, es wäre besser, wenn ich mich mal nach etwas anderem umschaue, als noch zwanzig Jahre zu warten, bis sich meine Eltern zur Ruhe gesetzt haben.“

      „Er hat Recht“, nickte sie. „An was denkst du dabei?“

      „Oh, das ist ganz einfach“, sagte er und küsste erneut ihre Hand. „Wir heiraten und bekommen zehn Kinder. Du eröffnest eine Anwaltskanzlei, und ich werde dein Hausmann, hüte die Kinder und koche dein Süppchen, wenn du von der Arbeit kommst.“

      Eva lachte belustigt auf. „Ist das etwa ein Antrag?“

      „Ja, natürlich ist das ein Antrag. Eva. Du weißt, ich liebe dich, und ohne dich kann nicht mehr leben. Ich möchte mit dir für immer zusammen sein und uns jeden Tag lieben.“

      „Ja, ja, das hättest du wohl gern. Und zwischendurch soll ich zehn Kinder bekommen?“

      „Genau. Du gehst arbeiten, und ich koche, putze, hüte die Kinder und beschütze dich.“

      „Wovor willst du mich beschützen?“

      „Oh, ich beschütze dich vor Wölfen und Monstern, und ich beschütze dich gegen alle, die uns auseinanderbringen wollen.“

      „Ist das wirklich wahr?“

      „Liebling, ich schwöre es. Ich hole dich, wenn’s sein muss, vom Nordpol zurück.“

      „Und wenn ich nicht am Nordpol bin?“

      „Dann von überall her.“

      „Na, wenn es so ist, dann kann ich wohl deinen Antrag nicht ablehnen.“ Sie zwinkerte Josef lächelnd zu.

      „Ist das wahr?“ Josef war überglücklich und wollte ihr am liebsten jetzt und sofort einen dicken Kuss geben.

      Er nahm ihre Hand und presste sie an seine Lippen. Plötzlich schoss vor ihnen aus der Linkskurve ein schneller Sportwagen entgegen. Das entgegenkommende Fahrzeug rutschte etwas am nassen Laub und geriet dadurch zu weit auf die Gegenspur. Eva riss das Steuer herum, um ihm auszuweichen, dabei rutschte auch ihr Wagen auf den feuchten Blättern, und die Räder gerieten von der Fahrbahn ab. Sie schaffte es nicht mehr, den Wagen rechtzeitig vor der Kurve zurück auf die Straße zu bringen, und der Jeep durchstieß mit seinen hohen Reifen die Leitplanke, hob sich in die Luft und fuhr krachend in das Gehölz des Abgrunds.

      Mit voller Wucht landete der Wagen im Gebüsch des Abhangs und wurde dadurch stark gebremst. Josef und Eva hingen keuchend in den Sicherheitsgurten. Sie versuchte noch, den Wagen zu bremsen, doch das Gewicht zog den Jeep unweigerlich weiter in die Tiefe.

      Josef öffnete schnell die Schnappverschlüsse der Sicherheitsgurte. „Raus, Eva, raus!“ schrie er und stieß seine Tür auf.

      Da spürte er wieder eine enge Umklammerung an seinem Hals. Es war der gleiche würgende Griff, den er im Steinschlag spürte. Dieser Würgegriff, der einem den Willen raubt, sich selbst zu retten, hinaus zu springen, wurde ganz deutlich von Händen ausgeführt.

      „Eva!“ brüllte Josef und griff noch an die Stelle, wo sie soeben saß. Doch er griff ins Leere. Evas Türe war geöffnet. Sie war bereits hinausgesprungen.

      Der Junge wälzte sich zur Seite und fiel aus dem Fahrzeug in hartes, kratzendes Gestrüpp. Das weiße Fahrzeug rauschte krachend und polternd den steilen Abhang hinab, dicht an Josef vorbei, wie ein schmutziger Schneeball im Winter. Es überschlug sich und rollte seitwärts in die Tiefe. Noch hatte Josef keinen Halt gefunden. Der Hang war zu steil, um sich irgendwo festhalten zu können.

      Da war wieder diese Umklammerung. Er fasste nach dem Würgegriff an seinem Hals und spürte einen fremden Körper. Irgendjemand war an seinem Hals und versuchte ihn zu erwürgen. Ihm wurde es schwindlig. Josef hatte keine Gewalt über sich, über seinen Sturz. Er fand keinen Hebel zum Ansetzen, um sich aus dieser Lage zu befreien. Er griff nach der Hand an seinem Hals. Mit dem Griff, den er für den Schraubenschlüssel am Lastwagenreifen brauchte, riss er die Hand von sich, befreite sich aus dem Würgegriff. Was war das? Ein Mann, eine fremde Figur. Irgendetwas Schwarzes wandte sich in seiner Hand.

      Josefs Sinne kreisen. Ihm schwand allmählich das Bewusstsein. Er spürte seinen Körper nicht, wie er den Hang hinabstürzte und immer wieder an einem hervorstehenden Felsbrocken oder Busch aufschlug. Mit seinem eisernen Griff und mit seinem letzten Willen, zog er die Figur an sich heran. Der schwarze Fremde war stark und kräftig, aber Josefs Griff war so unlösbar, wie ein Schraubstock. Er umklammerte die Figur mit seinen beiden Armen und dachte an einen Lastwagenreifen, den er mit Schwung in die Achse hob. Es wurde ihm schwarz vor Augen, wie ein Nebel, der ihn umhüllte.

      Als sich der schwarze Nebel vor seinen Augen verzog, lag Josef am Boden des Abgrundes und konnte sich nicht bewegen. Er konnte keinen Muskel rühren. Er konnte nicht atmen. Mühsam schlug er zunächst ein Auge auf und nach eine, ihm endlos vorkommende Zeit, das andere Auge, die beide vor Staub, Blut und Dreck verklebt waren. Die Sonne blendete ihn. Wie verkrampft lag er gekrümmt auf der fremden, schwarzen Figur und hielt sie immer noch umklammert.

      Da sah Josef schemenhaft und wie im Traum, Eva in einiger Entfernung weggehen. Sie war in Begleitung einer dicken Frau, einer Nonne. Der Junge wollte ihr nachrufen, jedoch die Stimme versagte. In seinem Innern aber war die Stimme laut: „Eva, Eva! Warum gehst du weg? Wohin gehst du? Was ist das für eine fremde Frau? Eva!“

      Eva drehte sich nicht um. Ihr Haar war durcheinander. Sie hinkte. „Geh nicht weg, Eva!“

      Noch begriff er nicht, was mit ihm geschehen war. Zu hell schien die Sonne, um seine Freundin klar zu sehen, aber sie ging weg, und er konnte sie bald im Gegenlicht nicht mehr ausmachen.

      Die Figur unter Josef zuckte und wand sich; er aber blieb liegen, ohne die Umklammerung zu lösen. Ihm war es schwindlig. Er stöhnte. Die schwarze Figur stöhnte auch. Josef schreckte zusammen. Was war das?

      „Was...?“ Josef begriff nur langsam die Situation seines Autounfalls.

      Der