Unter der Sonne geboren - 3. Teil. Walter Brendel

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Название Unter der Sonne geboren - 3. Teil
Автор произведения Walter Brendel
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783966511889



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Stadtmauer. Viele Tischler arbeiten in dem Quartier, doch auch die Prostituierten stehen nur wenige Straßen entfernt.

      Wenn La Voisin ihre Straße, die Rue Beauregard, stadtauswärts hin-aufschaut, sieht sie die Porte Saint-Denis, einen Triumphbogen, den Ludwig vor wenigen Jahren anstelle des Stadttors hat errichten lassen. Dort beginnt der Faubourg Saint-Denis. Und dort nimmt das Elend zu: In den Vorstädten leben besonders viele der Pariser Armen. Ludwig schenkt ihnen jedes Jahr 60 000 Livres, um sie über den Winter zu bringen.

      La Voisin liebt den Wein, und sie wohnt am richtigen Ort: An der Hauptstraße von Saint-Denis verkaufen zahlreiche Kneipiers günstigen Alkohol, den die Pariser vor Ort trinken oder für daheim ab-füllen lassen. Mancher Kunde vergiftet sich, weil Wirte verschütteten Wein von der bleiernen Theke aufwischen und erneut in Gläser füllen.

      Auch stadteinwärts geht es erst jüngst wieder sittsamer zu: Wenige Straßen südlich der Rue Beauregard liegt der Cour des Miracles, bis vor zehn Jahren der verkommenste Flecken der Stadt. Auf einem Hof hinter einem Konvent lebten hier Hunderte Verbrecher und Bettler mit ihren Familien (die wundersame Genesung der Krüppel, die abends gesund nach Hause zurückkehrten, hat dem Platz seinen Namen gegeben).

      Die Kriminellen hatten einen eigenen Anführer und teilten sich in verschiedene „Zünfte“, etwa die der Taschendiebe und Bettler.

      Nicolas de La Reynie hat den Slum mit 200 bewaffneten Männern und einem Trupp Pioniere kurz nach seinem Amtsantritt gestürmt und die Bewohner verhaftet oder ins Armenhaus gebracht.

      In diesem Hopital-General, dessen Niederlassungen über Paris und die Vororte verteilt sind, wohnen rund 10 000 Menschen, die La Reynies Männer von den Straßen gesammelt haben. Ursprünglich als Haus für arbeitsfähige Arme geplant, ist es inzwischen mit anderen Insassen gefüllt: Waisenkindern, Greisen, Blinden, Todkran-ken, Verrückten und Syphilitikern.

      Sicher treibt auch die Angst vor dem Armenhaus Menschen wie La Voisin dazu, die Leichtgläubigkeit ihrer Nachbarn auszunutzen.

      Die große Mehrzahl der Pariser ist arm. Selbst wer Arbeit hat, kann seine Familie oft kaum ernähren. Ein Handwerker verdient höchstens 20 Sous am Tag, ein Pfund Fleisch kostet zwischen drei und acht Sous, zwei Liter Wein vier Sous. An 103 Tagen im Jahr darf er nicht arbeiten, zu den Sonntagen kommen zahlreiche kirchliche Feiertage.

      Antoine Montvoisin, La Voisins Ehemann, war Seidenhändler und Juwelier. Doch er ist mit all seinen Geschäften bankrottgegangen. Trotzdem ist er wohl der reichste Mieter in seinem Haus, denn er wohnt im Erdgeschoss. Über seiner Familie leben Ärmere, je näher am Dach, desto billiger die Wohnung. Madame Montvoisin muss ihn und die acht Kinder durchbringen. Wohl deshalb nimmt sie gemeinsam mit einer befreundeten Hebamme Abtreibungen vor, obwohl darauf die Todesstrafe steht. La Voisin empfängt die Frauen in einem Gartenpavillon und verdient mehrere Tausend Livres im Jahr. Doch sie riskiert viel dabei: In einem Pariser Mietshaus leben die Leute eng aufeinander, die Türen stehen offen, und die Bewohner sind über die meisten Vorgänge im Haus gut informiert.

      Am Ende aber werden nicht die Nachbarn La Voisin zum Verhängnis. Sondern ein ehemaliger Geliebter. Die kleine, dickliche Frau hasst ihren Mann. Mehrmals hat sie versucht, ihn zu vergiften, und höfliche Besucher fragten stets zur Begrüßung, ob Monsieur Montvoisin schon gestorben sei.

      Einer ihrer zahlreichen Verehrer wird eine Woche nach La Voisin verhaftet und beginnt sofort zu reden. Vor zehn Jahren bereits ist ihm der Prozess wegen ähnlicher Geschäfte gemacht worden. Er hatte magischen Hokuspokus für seine Kunden durchgeführt und dabei möglicherweise Abendmahl und Bibel missbraucht - ein Sa-krileg. Zum Dienst auf den Galeeren verurteilt, ist er nach einigen Jahren begnadigt worden und nach Paris zurückgekehrt.

      Der 50jährige gilt als unerreicht, was das Anbahnen von Ehen betrifft. Seine Spezialität aber ist ein Taschenspielertrick: Die Kunden, darunter viele Adelige, müssen ihre Wünsche auf ein Stück Papier schreiben, das der Magier zusammenknüllt und mit einem Knall in Flammen aufgehen lässt. Dann zieht er das unversehrte Dokument aus der Tasche. Sollte etwas Kompromittierendes darauf stehen, erpresst der angebliche Zauberer seinen Kunden. Die meisten Höflinge aber streben nur nach der Gunst des Königs, Glück in der Liebe und Erfolg an den Spieltischen von Versailles. Ihnen gibt der Mann den Zettel zurück und kassiert eine angemessene Belohnung dafür, ihre Wünsche an die Geisterwelt übermittelt zu haben.

      Seit der Zeit Katharina de' Medicis hatte die Angst vor Gift, die häufig auch von den miserablen Fähigkeiten der Ärzte genährt wurde, die kollektive Phantasie beunruhigt, und sogar in unmittelbarer Umgebung des Königs hatte der plötzliche Tod von Gabrielle d'Estrees im Jahr 1599 und 1670 das ebenso unerwartete Ableben von Henriette von England Verdacht erregt. Dennoch durfte man mit Recht annehmen, dass im Frankreich des Rationalismus und der Philosophie Descartes', also in einer Zeit, als die Klassik ihren Höhepunkt erreicht hatte, Dinge wie Aberglauben, magische Vor-stellungen und satanische Riten nur noch in den entlegensten Provinzen als Ausgeburten des naiven Volksglaubens überlebten. Weit gefehlt, denn unter den Angeklagten befanden sich einige der bekanntesten Mitglieder des Hofstaates. Einer der ersten, die viele Monate lang in der Bastille saßen, war der von Ludwig XIV. wegen seiner militärischen Fähigkeiten sehr geschätzte Marschall von Luxembourg. Er hatte Lesage gebeten, ihn mit dem Teufel in Kontakt zu bringen, mit dessen Hilfe er sich Ruhm auf den Schlachtfeldern erwerben und von seiner Frau befreien wollte. Es folgte die Gräfin von Soissons, eine Nichte Mazarins und ältere Schwester Maria Mancinis, der Jugendliebe von Ludwig XIV. Sie war Oberintendantin im Haus der Königin gewesen und hatte der Voisin gegenüber ihre Absicht bekundet, die Herzogin von La Valliere umzubringen, weil sie ihr das Herz des Königs geraubt hatte. Die Beweise zu ihren Lasten mussten recht erdrückend sein, da Ludwig sie vor die Entscheidung stellte, „entweder am nächsten Tage in die Bastille zu gehen, um sich den Härten der Gefangenschaft und des Prozesses zu unterziehen, oder Frankreich unverzüglich zu verlassen“. Ein Familienrat wurde abgehalten, und die Gräfin entschied sich für die zweite Möglichkeit. Sie floh in einer Kutsche mit den königlichen Insignien, damit das Volk sie nicht abreisen sah und keinen Grund hatte, sich zu beklagen, dass nicht Recht gesprochen wurde... Ihre Schwester, die Herzogin von Bouillon, die dem König ebenfalls nahestand, bewies größeres Selbstvertrauen und zog sich glänzend aus der Affäre. Nachdem man sie angeklagt hatte, ihren Mann aus dem Weg räumen zu wollen, um ihren jungen Geliebten, den Herzog von Vendome, einen Cousin des Königs, heiraten zu können, erschien die Herzogin vor dem Arsenal, am linken Arm den Geliebten, am rechten ihren Mann, begleitet von einer großen Schar Freunde, und entgegnete den Richtern in keckem Ton, sie habe die Wahrsagerin zweimal ausschließlich zu ihrem Vergnügen konsultiert, um dann mit den Worten, sie begreife nicht, wie so intelligente Männer derart dumme Fragen stellen konnten, wieder ihrer Wege zu gehen.

      Ludwig XIV., den die Vorstellung empörte, der eine oder andere seiner engsten Vertrauten könnte ähnlichen Anschuldigungen ausgesetzt sein, befahl La Reynie, mit den Ermittlungen fortzufahren und auf niemanden Rücksicht zu nehmen. Es gab also genug Anlass, die Welt der Privilegierten erzittern zu lassen, doch ausgerechnet der unermüdliche Eifer, mit dem der Polizeichef die Nachforschungen vorantrieb, sollte schließlich dazu führen, dass die Ermittlungen eingestellt wurden.

      Ludwig wünscht, dass die Ermittler „gewissenhafte Gerechtigkeit ohne jegliches Ansehen des Ranges, des Geschlechts oder der Personen“ üben. Und er will genauestens informiert werden; La Reynie muss deshalb häufig nach Versailles fahren. Denn der König wohnt schon lange nicht mehr in seiner Hauptstadt.

      Zuletzt hat er sich im Winter 1670/71 längere Zeit in Paris aufgehalten - und sich so furchtbar gelangweilt, dass er jede Woche mehrtägige Ausflüge nach Versailles machte. Inzwischen kommt er nur noch ein- oder zweimal im Jahr und hat auch die Bauarbeiten am Louvre einstellen lassen: ein deutliches Zeichen, dass er nicht mehr in seinem Stadtschloss zu wohnen wünscht. Auch die Marquise de Montespan, einst Mätresse des Königs, wird von verhafteten Giftmischerinnen beschuldigt, Zaubertränke gekauft und schwarzen Messen beige wohnt zu haben. Ludwig XIV. ist schockiert - und hält die Ermittlungen geheim.

      In den folgenden Wochen beschuldigen sich die ehemaligen Liebenden und Geschäftspartner mit immer neuen Schauergeschichten. La Voisin erhält von ihren Bewachern reichlich Wein, das macht sie gesprächig. Sie wirft