Unter der Sonne geboren - 3. Teil. Walter Brendel

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Название Unter der Sonne geboren - 3. Teil
Автор произведения Walter Brendel
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783966511889



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die Lebensader der Stadt - und ihre Kloake. Die Bewohner der Ile de la Cite in der Mitte des Flusses lassen ihre Abwässer direkt in die Seine rinnen.

      Der Schmutz des rechten Ufers sammelt sich in einem großen, halbkreisförmigen Abwassergraben, der sich stromaufwärts in der Nähe der Bastille in den Fluss ergießt, stromabwärts hinter den Tuilerien.

      Auch die Bievre, ein kleines Flüsschen am östlichen Stadtrand, dient als Kloake. So schwimmen in der Seine die Asche und Seifen der Wäscherinnen, Blut und Schlachtabfälle der Metzger, der Urin, mit dem die Gerber die Tierhäute bearbeiten, die Farben, in welche die Färber ihre Stoffe tauchen.

      Wasserverkäufer tragen Eimer von der Seine in die Straßen hinauf. La Reynie ordnet immer wieder an, dass sie ihr Nass aus der starken, nicht so verdreckten Strömung schöpfen sollen, doch die Wasserträger bevorzugen einen kleinen Seitenkanal, der günstiger gelegen ist - in den aber die Abwässer eines Krankenhauses fließen.

      Wer sich ihr Wasser nicht leisten kann, geht zu einem der öffentlichen Brunnen. Ein Dutzend neue hat Ludwig bauen lassen, doch ihr Wasser ist nicht sauberer als das der Verkäufer. Es wird seit 1671 bei der Brücke von Notre-Dame aus dem Fluss gepumpt - ganz in der Nähe eines der betriebsamsten Hafenbecken der Stadt: An der Place de Greve, vor dem Rathaus, landen Flussschiffer Getreide an. Verbände aus bis zu 20 Kähnen werden die Seine hinaufgezogen oder gleiten sie hinab, dazwischen ankern Wassermühlen.

      Im Sommer baden nackte Pariser im Fluss; und irgendwo überleben auch noch einige weiße Schwäne. Der Sonnenkönig hat sie aussetzen lassen, als Verzierung.

      Durch die ihm anvertraute Stadt bewegt sich La Reynie wie jeder Mann von Stand mit der Kutsche. Einige greise Pariser können sich vielleicht noch an die ersten carrosses erinnern. Innerhalb weniger Jahrzehnte haben die neuen Gefährte die Stadt erobert. Inzwischen pressen sich Tausende Kutschen durch enge Gassen, die für Fußgänger und Maultiere gebaut sind. Ludwig XIV gibt jedes Jahr mehr als 50 000 Livres aus, um die Straßen zu pflastern und zu verbreitern.

      Zu den privaten Gefährten kommen die zahlreichen Mietkutschen. Ihre Chauffeure haben einen schlechten Ruf, sie betrügen die Kunden und quälen ihre Tiere. „Paris ist das Paradies der Frauen, das Fegefeuer der Männer und die Hölle der Pferde“, sagen die Hauptstädter. Und singen einen Gassenhauer über die neuen Gefahren des Straßenverkehrs: „Bei jedem Schritt/marschiert der Tod gleich mit.“

      Zwischen den ratternden Kutschen treiben Bauern ihre Tiere zum Markt, schlängeln sich Träger mit Sänften vorbei, fahren zweirädrige Gefährte, die an japanische Rikschas erinnern. Über ihnen ra-gen eiserne Ladenschilder weit auf die Straße hinaus. Ihr Quietschen mischt sich mit den Glöckchen der Straßenkehrer. Stadt-schreier preisen die neuesten Weine an, frisch eingetroffen bei den Wirten der Nachbarschaft.

      Menschen schieben sich durch die Straßen, Waschfrauen mit Leinenbündeln, jugendliche Schornsteinfeger auf dem Weg zur Arbeit oder zurück in ihren Schlafsaal, den sie mit einem ältlichen Aufseher teilen. Dienstmädchen, Soldaten, Lakaien in Uniform, herausgeputzt mit Knöpfen, Litzen und Bändern.

      Die Männer tragen den dreiteiligen Anzug aus Kniebundhose, Weste und langem Überrock, die Frauen Rock, Mieder und Schürze. Sie unterscheiden sich nur in der Qualität: Die Kleider der Reichen sind häufig aus teuren Materialien wie Baumwolle und Seide, die der Armen meist aus ausgeblichener Wolle, oft erworben bei einer Alt-kleiderverkäuferin.

      Manch Armer trägt zudem ein rot-gelbes Zeichen auf der rechten Schulter. Er erhält eine kleine Summe von der Stadt und hat sich dafür verpflichtet, ein christliches Leben zu führen und nicht zu betteln.

      Nur etwa jeder Vierte auf den Straßen stammt aus Paris; die Stadt wächst, weil ständig Menschen in die Kapitale strömen. Vielleicht drücken sie die Abgaben, die Ludwig den Dörfern auferlegt - anders als die meisten anderen Franzosen müssen die Pariser weder die Grundsteuer noch die Salzsteuer zahlen. Vielleicht aber träumen die Neubürger auch nur von einem leichteren, besseren Leben.

      Die Massen müssen La Reynie Sorgen bereiten. Jeder der Neuankömmlinge braucht Arbeit, es ist nur ein kleiner Schritt zu Bettelei, Diebstahl und Prostitution. Wer sich einen Verbrecher dingen will, muss nur zum Pont-Neuf gehen. Dort, am Reiterstandbild von Ludwigs Großvater, lungern sie herum, die „Hofleute vom bronze-nen Pferd“: Beutelschneider, Gauner, Zuhälter, Prostituierte.

      Die Gedanken des Königs

      Ludwig will aus Paris eine Stadt des Wissens zu machen. Hier erscheint das „Journal des Scavans“ (Journal der Gelehrten“), die erste wissenschaftliche Zeitschrift der Welt. In der ersten Ausgabe des wöchentlich erscheinenden Magazins beschreiben die Autoren unter anderem die Geburt eines Monsters in Oxford (tatsächlich siamesische Zwillinge) sowie neuartige Teleskope und eine neue Ausgabe eines Werkes von Descartes.

      Ludwig ist seit Generationen der erste französische Monarch, der keinen Hofastrologen beschäftigt. Stattdessen hat er im Süden der Stadt ein Observatorium bauen lassen, mit dem Längengrad von Paris als Symmetrieachse. Es ist seit einigen Jahren fertig und hat ein ausgezeichnetes Fernrohr. Im botanischen Garten wachsen 4000 Pflanzen, Dozenten geben Chemiekurse für die Pariser Bürger.

      Denn die Bewohner scheinen die Begeisterung des Königs für die Wissenschaft zu teilen - wenn auch hauptsächlich für eine Spielart, die sie mit La Reynies Ordnungshütern in Konflikt bringen könnte: Es gebe in Paris so viele Alchemisten wie Köche, schreibt ein italienischer Besucher.

      Einige von ihnen mag tatsächlich Wissensdurst treiben - die meisten aber sind Betrüger. Sie nehmen ihren Kunden Geld ab, mit dem Versprechen, schon bald wertlose Materialien in Gold verwandeln zu können. Oder sie nutzen ihre Experimente als Tarnung für Falschmünzerei.

      Einige mögen sogar noch finstereren Geschäften nachgehen und neue Gifte entwickeln. Die Menschen erzählen sich Geschichten von imprägnierten Hemden und tödlichen Handschuhen, von geruch- und geschmacklosen Pülverchen. Auch Adelige schätzen Gift. Daspoudre de succession, das Erbschaftspulver, kann viele Probleme lösen. Doch wer tatsächlich einen Rivalen oder eine lästige Ehefrau loswerden möchte, kommt auch ohne neue Erfindungen aus: Quecksilberchlorid und Arsen gibt es in jeder Apotheke.

      Und schließlich kann man sich auch an die zahlreichen Wahrsagerinnen wenden. Mehrere Hundert bieten in Paris ihre Dienste an, lesen aus der Hand oder aus einem Glas Wasser. Sie verkaufen Heilmittel gegen Hühneraugen oder Zahnschmerzen, brauen Tränke aus getrockneten Maulwürfen und pressen Öl aus Fröschen, für einen weißen Teint.

      Die meisten Kunden, arme wie reiche, suchen Rat in Liebesdingen. Eine Frau, die unter ihrem Ehemann leidet, soll sein Hemd am Bild der heiligen Ursula reiben, damit er sie besser behandelt. Sie kann die Liebe auch fördern, indem sie der Weissagerin benutzte Leinentücher oder etwas Menstruationsblut bringt.

      Doch viele Frauen wollen ihre Ehe gar nicht retten: Sie fragen vielmehr hoffnungsvoll, ob in ihrer Hand nicht etwas auf das baldige Ableben ihres Gatten hindeute. Man muss keine Hellseherin sein, um da die richtige Antwort zu wissen - und zu ahnen, dass die Kundin für etwas Hilfe beim Töten bezahlen würde. Neben harmlosem Mummenschanz betreiben einige Wahrsagerinnen deshalb auch das Geschäft mit dem Tod.

      Für den Täter sind Giftmorde selten mit dem Risiko verbunden, erwischt zu werden. Zwar werden Verstorbene gelegentlich von Ärzten obduziert. Doch deren Diagnose ist unsicher. Die Absolventen der Pariser Universität lassen sich ihre Künste zwar teuer bezahlen, tatsächlich aber wissen sie kaum mehr als die Bader und die Apotheker, denen sich die Ärmeren anvertrauen.

      Die Pariser Ärzte verschreiben Medizin aus Nattern, geben giftigen Wein als Brechmittel und lassen mit Begeisterung zur Ader. Die Kunst, die Venen mit einer kleinen Lanzette zu öffnen, wird unter Ludwig zu einem Markenzeichen der Medizin in der Hauptstadt.

      Selbst der König muss darunter leiden: Nur knapp hat er als Neunjähriger einen mehrmaligen Aderlass überlebt, den die Doktoren während seiner Blatternerkrankung empfahlen. Und jetzt ist der Monarch seinem Leibarzt ausgeliefert, einmal im Monat muss er Abführmittel nehmen. Sie sollen gegen die giftigen „Dämpfe“ helfen, über die Ludwig