Die größten Klassiker der deutschen Literatur: Sturm und Drang. Johann Gottfried Herder

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Название Die größten Klassiker der deutschen Literatur: Sturm und Drang
Автор произведения Johann Gottfried Herder
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 4064066398903



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wird, dem Ursprunge Mythologischer Ideen gemäß, Dichterisch. Blos um das Unkänntliche zu vermeiden, schränkte er sich auf die Abstrakte Idee ein; Noth und Dürftigkeit war sein Gesetz: ist aber dies Gesetz – diese Furcht gehoben; kann er auf andere Art hoffen, känntlich zu werden, als durch die einförmige Charaktervorstellung; verbeut das Wesen seiner Kunst diese andre Art der Känntlichkeit nicht; erreicht er durch dieselbe gar einen Zweck, den er durch die Abstrakte Idee nicht erlangen konnte: so hat er mit dem Dichter einerlei Rechte. Die ganze Mythologie ist eigentlich ein Land Dichteri scher Ideen, und auch wenn sie der Künstler bildet, wird er Dichter.

      Und bei diesem ganzen Privilegium des Künstlers, worauf kommt sein unumschränkter Gebrauch an? auf das Wort: Handlung. Kann der Künstler z.E. Maler, seinem Werke Handlung geben; kann er mehrere Personen gruppiren, die gemeinschaftlich eine Poetische oder Historische Situation vorstellen, känntlich und schön vorstellen können; o so vergesse er sicher die innere und äußere Charakteristik seiner Götter, die ihm sonst einzeln nothwendig waren. Immerhin lasse er auch seine Handlung dem Abstrakten Charakter sichtlich wiedersprechen: immerhin male er uns auch eine auf ihren Kupido zürnende Venus; denn wenn sie auch in diesem Augenblick nicht die Liebe selbst bliebe, so bleibt sie doch, was sie ursprünglich ist, die Göttin der Liebe, die Mutter des Kupido. Kann er Venus und den getödteten Adonis in Malerische Handlung bringen: so ruffen wir der Venus mit dem Dichter zu: »was schläfst du, Cytherea, auf purpurnen Decken! Stehe auf, Unglückselige, zeuch Trauerkleider an, und schlage an deine Brust, und klage der ganzen Welt: er ist nicht mehr, der schöne Adonis!« und immerhin wollen wir auch Adonis sehen, wie ihn der Dichter sieht: »Er liegt, der schöne Adonis liegt ausgesteckt auf dem Gebirge. Ein mörderischer Zahn hat seine zarte Hüfte verletzt. Noch einen letzten Seufzer athmet er: schwarzes Blut rinnt über den Leib, der blendender ist, als Schnee. Das Licht seiner Augen verlischt: die Lippen erblassen: Adonis stirbt.« Stirbt Adonis etwa, als die Idee ehelicher Liebe und Glückseligkeit und Schönheit? trauret Venus, um die Idee der Liebe in Maske zu zeigen? Wird die letztere jedem gesunden Mythologischen Auge deßwegen hier känntlich werden, weil sie das Abstraktum der Liebe macht? Nein, das Süjet des Gemäldes ist Dichterisch, ist Historisch: so auch die Figuren des Künstlers? Jedesmal, daß er sie dazu machen kann: wohl! so vergesse ich die Abstrakte Idee, die er in einer einzigen Figur nur aus Noth vorstellen mußte. Kupido, der die Psyche plaget, und Jupiter, der den Ganymed entführet, Diane, die den Endymion besucht, und Venus, die ihre geritzte Haut beweinet – ich verspreche dem Künstler, in diesem Augenblicke keine personifirten Abstrakta zu suchen, im Jupiter keinen Präsidenten der Götter, in Dianens Gesichte keine jungfräuliche Keuschheit: in Venus kein schmachtendes Liebäugeln, und in Kupido, keinen spielenden Verführer. Alle diese Wesen gehören dem Dichter, und der Künstler läßt sie ihm, wo er sie ihm lassen kann. –

      Ich weiß nicht, wie enge dem Künstler der Mythische Cyklus werden müßte, wenn Hr. Leßing ihm alle Historische und Dichterische Situationen untersagte, ihm nur zuließe, in ihm personifirte Abstrakta zu suchen, und jeden kleinen Wiederspruch, der in der Handlung gegen die Abstrakte Idee des Charakters (ein Idol der neuern Mythologisten!) vorkäme, verböte. Lebe alsdenn wohl, Handlungsvolle Kunst! du bist in der Mythologie eine Gallerie einförmiger Ideen, Abstrakter Charaktere!

      XII.

       Inhaltsverzeichnis