Название | Die größten Klassiker der deutschen Literatur: Sturm und Drang |
---|---|
Автор произведения | Johann Gottfried Herder |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 4064066398903 |
Die Auftritte des körperlichen Leidens sind vorbei, und weiter darf ich nicht. Ich kehre also von der Bühne zu Athen zurück, dahin wo ich Leßingen gelassen – wie sehr sind wir aber in dem Eindrucke verschieden, den dieses Stück machen soll. Einer von beiden kann nur Recht haben, und der andre hat sich nur nicht gnug idealisiren können, um nicht zu lesen, sondern zu sehen. Damit dieß mich nicht treffe, will ich auf guter Hut seyn.
Hr. Leßing macht »die Idee des körperlichen Schmerzes« zur Hauptidee des Stücks,12 und sucht die seinen Mittel auf,13 womit der Dichter diese Idee zu verstärken, zu erweitern gewußt hat. Ich gestehe es, daß, wenn dieß die Hauptidee der Tragödie wäre, einige von Hr. L. angegebene Mittel wenig auf mich gewirkt hätten. Der Eindruck des körperlichen Schmerzes ist viel zu verworren und körperlich gleichsam, als daß er z.E. der Frage Platz ließe:14 wo sitzt der Schmerz? außen oder innen? wie sieht die Wunde aus? was für ein Gift wirkt darinnen? Wäre die Vorstellung des körperlichen Schmerzes so schwach, um durch solche Sachen verstärkt werden zu müssen, so ist die Wirkung des Theaters verlohren: so ists besser, daß ich hingehe, um die Wunde selbst Chirurgisch zu besichtigen. Nein! Theatralisch sey die Idee des Schmerzes, und ich mag also auch nichts, als Theatralische Verstärkung – von fern, aus den gezogenen Minen, aus Tönen des Jammers, will ich, wenn Schmerz die Hauptidee des Stücks ist, ihn kennen lernen, und denn ists mir wohl beinahe gleich, worüber man schreie, und sich geberde? ob über einen lahmen Fuß, oder über eine Wunde im Innern der Brust. Der Kunstrichter verliert alles, wenn er aus der Theatralischen Anschauung weichet, und uns zur Verstärkung, zur Glaubwürdigkeit derselben den Attest eines Wundarztes geben ließe – – was es für eine Krankheit, daß es eine wirkliche Wunde, daß es ein Gift sey, das wohl so viel Schmerzen erregen könne. Sophokles habe so etwas überdacht, oder nicht überdacht: gnug, wenn so etwas auf mich wirken müsse, um meine Idee vom Schmerze zu verstärken – Lebe wohl, Theater! so bin ich in der Lazarethstube.
Theatralische Rührung also! und wodurch kann ich, wenn die Hauptidee des Stücks körperlicher Schmerz ist, gerühret werden? welches sind alsdenn die Hauptmittel zur Erregung der Sympathie? Ich weiß nichts anders, als die gewöhnlichen Aeußerungen, Geschrei, Thränen und Zückungen: diese giebt auch Hr. Leßing15 dafür aus, und giebt sich viele Mühe,16 bei ihnen den nicht beleidigten Anstand, und ihre entschiedne Wirkung zu erklären. Gut also! aber, wenn das Wimmern, das Schreien, die gräßlichsten Zückungen, das Mittel, das Hauptmittel sind, mir die Idee des körperlichen Schmerzes einzupflanzen, und mein Herz zu treffen: was kann denn die beste Wirkung dieses treffenden Schlages seyn? Mit körperlichem Schmerze kann ich nicht anders, als körperlich, sympathisiren: d.i. meine Fibern kommen durch die Theilnehmung in eine ähnliche Spannung des Schmerzes, ich leide körperlich mit. Und wäre dieß Mitleid angenehm? Nichts weniger, das Zetergeschrei, die Zuckung fährt mir durch alle Glieder, ich fühle sie selbst; die nämlichen convulsivischen Bewegungen melden sich bei mir, wie bei einer gleichgespannten Saite. Ob der in Zuckung liegende, winselnde Mann Philoktet sey, geht mich nicht an: er ist ein Thier, wie ich: er ist ein Mensch: der Menschliche Schmerz erschüttert mein Nervengebäude, wie wenn ich ein sterbendes Thier, einen röchelnden Todten, ein gemartertes Wesen sehe, das wie ich fühlet. Und wo ist nun dieser Eindruck auch nur im kleinsten Maaße vergnügend, angenehm? Er ist peinlich, schon bei dem Anblicke, bei der Vorstellung, ganz peinlich. Hier ist im Augenblicke des Eindruckes an keinen künstlichen Betrug, an kein Vergnügen der Einbildungskraft zu gedenken: die Natur, das Thier leidet in mir, denn ich sehe, ich höre, ein Thier meiner Art leiden.
Und welche Gladiatorseele gehörte dazu, um ein Stück auszuhalten, in welchem diese Idee, dieß Gefühl des körperlichen Schmerzes, Hauptidee, Hauptgefühl wäre? Ich weiß keinen dritten Fall außer diesen beiden: daß ich entweder illudiret werde, oder nicht. Ist das erste, ists auch nur ein Augenblick, daß ich den Schauspieler verkenne, und einen zückenden, schreienden Gequälten sehe; wehe mir! es fährt mir durch die Nerven! Ich kann den künstlichen Betrüger, der sich mir zum Vergnügen, dem Augenscheine nach, aufhängen wollte, keinen Augenblick mehr sehen, so bald der Betrug schwindet, so bald er wirklich worget. Ich kann den Seiltänzer keinen Augenblick mehr sehen, so bald ich ihn fallen, in das unterliegende Schwert stürzen sehe, so bald er mit zerschlagnem Fusse da liegt. Der Anblick Philoktets ist meinem Gesichte unausstehlich, so bald ich es denke, daß er der leidende Philoktet ist. Blos eine Fechterseele kann in dieser Illusion des körperlichen Schmerzes, wie an jenem sterbenden Fechter, studiren wollen: wie viel Seele noch in ihm sei? Blos ein Unmensch kann, nach der Fabel von Michael Angelo, einen Menschen kreuzigen, um zu sehen, wie er stirbt.
Hr. Leßing mag sagen,17 daß »nichts betrüglicher sey, als allgemeine Gesetze für die Empfindungen geben zu wollen.« Hier liegt das Gesetz in meinem unmittelbaren Gefühle selbst, und zwar in dem Gefühle, das am weitesten von allgemeinen Gründen abgehet, das mir, als einem sympathisirenden Thiere, beiwohnt. So bald der leidende Körper Philoktets mein Hauptaugenmerk ist, so bleibts, »daß18 je näher der Schauspieler der Natur kommt, desto empfindlicher Augen und Ohren beleidigt werden müssen.« Ein Meer unangenehmer Empfindungen wird über mich ergehen, und kein angenehmer Tropfe mischt sich dazu. Die Vorstellung des künstlichen Betruges? – ist durch die Illusion gestört; ich habe nichts, als den Anblick eines zückenden, mit dem ich beinahe mit zücke, eines Wimmernden, dessen Ach! mir das Herz durchschneidet. Es ist kein Trauerspiel mehr, es ist eine grausame Pantomime, ein Anblick, Fechterseelen zu bilden: ich suche die Thüre.
Nun aber lasset uns den zweiten Fall setzen, daß der Griechische Schauspieler mit aller seiner Skävopoeie und Deklamation das Geschrei und die Verzuckungen des Schmerzes nicht bis zur Illusion bringen könne (etwas, das Hr. Leßing nicht zu behaupten getrauet,19 gesetzt also, daß ich ein kalter Zuschauer bleibe: so kann ich mir ja keine widerlichere Pantomime gedenken, als nachgeäffte Zuckungen, brüllendes Geschrei, und wenn die Illusion vollkommen seyn soll, ein übler Geruch der Wunde. Kaum würde also alsdenn der Theatralische Affe Philoktets zum Zuschauer sagen können, was der wahre Philoktet zum Neoptolem: »ich weiß! du hast es alles nichts geachtet; weder mein Geschrei, noch der üble Geruch wird dir Ekel erregt haben.«20 Bei einer widerlichen, und zum Unglücke