Die größten Klassiker der deutschen Literatur: Sturm und Drang. Johann Gottfried Herder

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Название Die größten Klassiker der deutschen Literatur: Sturm und Drang
Автор произведения Johann Gottfried Herder
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 4064066398903



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target="_blank" rel="nofollow" href="#ulink_9045589e-631d-50ea-a9a9-983981f6e7f7">7 kommt der verkleidete Kaufmann. Er hört: »er soll nach Troja, Ulysses habe dieß dem Heere öffentlich versprochen,« und – den Kaufmann hält er kaum seiner Antwort werth. Eine einzige Heroische Verwunderung: »Götter! dieser Elende, dieser Treulose hat schwören dörfen, mich ins Lager zu bringen?« verräth die ganze Heldenseele Philoktets: diese redet fort:8 diese will zu Schiffe: diese redliche Seele glaubt dem Neoptolem, vertraut ihm seine Waffen, vertraut sich ihm in seiner Krankheit. Wie fühle ich für Philoktet! aber für ihn den Schreienden? Noch nichts! für ihn, den Helden, den Griechen, den Edlen – und denn den im höchsten Grade Elenden, und elender noch dadurch, was man mit ihm vor hat. Noch fühlen wir blos mit seiner Seele durch die Phantasie, und jetzt erst soll die seltne Scene der Krankheit kommen. Der Chor9 bereitet auf sie, durch ein Lied auf den äußerst Jammervollen Philoktetes, und sie kommt.10 Ich habe sie vorher durchgeführt und mag sie nicht wiederholen. Mich ärgert, wenn man sie auf der einen Seite zu einem bloßen Zetergeschrei macht, und auf der andern Seite, wie z.E. Brumoi,11 unter den löblichen Franzosen für nichts, als, einen Riegel, ein Einschiebsel, daß fünf Akte voll werden. Welch eine Stille muß auf dem Schauplatze zu Athen geherrschet haben, da dieser Akt vorgieng!

      Die Auftritte des körperlichen Leidens sind vorbei, und weiter darf ich nicht. Ich kehre also von der Bühne zu Athen zurück, dahin wo ich Leßingen gelassen – wie sehr sind wir aber in dem Eindrucke verschieden, den dieses Stück machen soll. Einer von beiden kann nur Recht haben, und der andre hat sich nur nicht gnug idealisiren können, um nicht zu lesen, sondern zu sehen. Damit dieß mich nicht treffe, will ich auf guter Hut seyn.

      Und welche Gladiatorseele gehörte dazu, um ein Stück auszuhalten, in welchem diese Idee, dieß Gefühl des körperlichen Schmerzes, Hauptidee, Hauptgefühl wäre? Ich weiß keinen dritten Fall außer diesen beiden: daß ich entweder illudiret werde, oder nicht. Ist das erste, ists auch nur ein Augenblick, daß ich den Schauspieler verkenne, und einen zückenden, schreienden Gequälten sehe; wehe mir! es fährt mir durch die Nerven! Ich kann den künstlichen Betrüger, der sich mir zum Vergnügen, dem Augenscheine nach, aufhängen wollte, keinen Augenblick mehr sehen, so bald der Betrug schwindet, so bald er wirklich worget. Ich kann den Seiltänzer keinen Augenblick mehr sehen, so bald ich ihn fallen, in das unterliegende Schwert stürzen sehe, so bald er mit zerschlagnem Fusse da liegt. Der Anblick Philoktets ist meinem Gesichte unausstehlich, so bald ich es denke, daß er der leidende Philoktet ist. Blos eine Fechterseele kann in dieser Illusion des körperlichen Schmerzes, wie an jenem sterbenden Fechter, studiren wollen: wie viel Seele noch in ihm sei? Blos ein Unmensch kann, nach der Fabel von Michael Angelo, einen Menschen kreuzigen, um zu sehen, wie er stirbt.