Kleine politische Schriften. Walter Brendel

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Название Kleine politische Schriften
Автор произведения Walter Brendel
Жанр Социология
Серия
Издательство Социология
Год выпуска 0
isbn 9783966511858



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das Gerede vom kommunistischen Faulenzertum verstumme.

      Doch zurück zur Landfrage!

      [...] Die Rücksicht auf das allgemeine Interesse und, da das Interesse der einzelnen nicht von dem allgemeinen Interesse zu trennen ist, auch die Rücksicht auf das Interesse der einzelnen – welches nicht zu verwechseln ist mit dem Sonderinteresse einiger Privilegierter, Bevorzugter, deren Interesse dem der Allgemeinheit zuwiderläuft –, also die Rücksicht auf das allgemeine Interesse des Staats und der Staatsbürger ist der Boden, auf den wir uns in der Grundeigentumsfrage stellen, von dem aus wir unsere Schlüsse ziehen und auf dem wir unüberwindlich sind.

      Daß dem allgemeinen Interesse das Sonderinteresse unterzuordnen und daß das Wohl des Staats das oberste Gesetz sei – salus rei publicae suprema lex –, das ist ein Axiom so alt wie der Staat, ein Axiom, dessen Richtigkeit niemals bestritten worden ist und das alle Regierungssysteme und Regierungen, von welchen die Geschichte uns Kunde gibt, als obersten Regierungsgrundsatz anerkannt und ausgeübt haben. Freilich, die Auffassungen des Begriffs Staatswohl sind ebenso mannigfaltig und verschiedenartig als die Auffassungen des Begriffs Staat. Das »Staatswohl« – unsere Herrscher nennen es mitunter: »Staatsräson« – stählte die römische Republik in ihrem Verzweiflungskampf gegen die Karthagenienser, als der furchtbare Ruf erdröhnte: Hannibal ante portas! Hannibal vor den Toren! Das »Staatswohl« drückte der Soldateska bei den Proskriptionen und in den Bürgerkriegen der zerfallenden, dem blutigen Schmutz des Kaiserreichs zueilenden Republik den Mordstahl in die Hand. Das »Staatswohl« stampfte aus dem revolutionären Frankreich des vorigen Jahrhunderts Millionen von Streitern für Freiheit und Vaterland und »organisierte den Sieg« der Republik über das verbündete monarchische Europa. Das »Staatswohl« war in des ehrgeizigen Bonaparte Mund, als dieser »geniale« Erzschelm und glänzendste Vertreter des modernen Cäsarentums und Kaiserschwindels die französische Republik erdrosselte; und das »Staatswohl« schützte er vor, als er, um seinem räuberischen Ehrgeiz zu frönen, die halbe Welt ein halbes Menschenalter hindurch mit seiner Blut-und-Eisen-Politik verheerte. Das »Staatswohl« trieb die amerikanischen Südstaaten in den Kampf für die Sklaverei und die Zerreißung der Union; und das »Staatswohl« wappnete die Bürger der amerikanischen Nordstaaten mit Heldensinn und Ausdauer, so daß sie in vierjährigem Ringen nicht erlahmten, aus jeder Niederlage frische Kraft schöpften und nach Anstrengungen, für welche in der neueren Geschichte nur die Nationalerhebung Frankreichs in den Jahren 1792, 93 und 94 ein Seitenstück bildet, der südstaatlichen Rebellen Herr wurden und die amerikanischen Freistaaten von dem Schandfleck der Sklaverei reinigten. Im Namen des »Staatswohls« sanktionierten vor zweiundzwanzig Jahren unsere deutschen Regierungen die Märzrevolution; und im Namen des »Staatswohls« stießen sie ihr, sobald die Gelegenheit günstig, den Dolch in den Rücken und verhängten über das Volk jene reaktionären Knebelgesetze, die, wenn auch zum Teil in etwas modifizierter Gestalt, noch heute auf uns lasten. Genug, es bedarf keiner weiteren Beispiele; jede Regierung, sei sie revolutionär oder reaktionär, republikanisch oder monarchisch, demokratisch oder konservativ, hat theoretisch und praktisch das »Staatswohl« als obersten Leitstern der Politik hingestellt. Nur, daß jede Regierung unter »Staatswohl« etwas anderes versteht. Was Goethe vom Zeitgeist sagt, daß er »der Herren eigener Geist« sei, das gilt auch vom »Staatswohl«; es ist der Herren eigenes Wohl; im Junkerstaat das Wohl der Junker, im Pfaffenstaat das Wohl der Pfaffen, im Bourgeoisstaat das Wohl der Bourgeois. Wir Sozialdemokraten, die wir weder den Junker- noch den Pfaffen-, noch den Bourgeoisstaat wollen, sondern den freien Volksstaat, der auf gleichen Rechten und Pflichten beruht und weder Herrscher noch Beherrschte, weder Ausbeuter noch Ausgebeutete duldet, wir verstehen unter Staatswohl folgerichtig nicht das Wohl der Junker, Pfaffen, Bourgeois, sondern das allgemeine Wohl, das Wohl der Gesamtheit, welches nur die Summe des Wohls aller einzelnen ist.

      Obgleich unser »Staatswohl« nun etwas Verschiedenes ist von dem »Staatswohl« derer, die sich gewöhnt haben, den Staat für ihre Privat-, Standes- oder Klassendomäne anzusehen, so verkünden wir durch Erhebung des Staatswohls zum obersten Staatsprinzip doch kein neues Prinzip, sondern wenden nur ein allgemein anerkanntes Prinzip, statt im Interesse einzelner Individuen, im Interesse des Gesamtvolks an. Was speziell das Recht, in die Verhältnisse des Grundeigentums einzugreifen, anbelangt, so ist es von allen Regierungsformen und von allen Klassen geübt worden. Der Adel hat überall das Land zu seinen Gunsten konfisziert und annektiert; die Bourgeoisie hat in der Französischen Revolution das Land konfisziert und in ihrem Sinn verteilt; die monarchischen Regierungen des europäischen Festlands haben durch Abschaffung der Leibeigenschaft die Grund- und Bodenverhältnisse revolutioniert; sogar der russische Zar, der strammste Vertreter des Absolutismus, hat neuerdings diese Revolution in seinem Reiche durchgeführt und damit den Adel teilweise expropriiert; die amerikanische Republik hat durch Abschaffung der Sklaverei und Konfiskation des Grundbesitzes der gegen diese Maßregel sich auflehnenden Sklavenhalter der Südstaaten die Grund- und Bodenverhältnisse revolutioniert. Wie kann man nach solchen großen weltgeschichtlichen Vorgängen die Beschuldigung gegen uns erheben, indem wir in die Grund- und Bodenverhältnisse eingreifen wollten, schlügen wir aller Überlieferung ins Gesicht, forderten Unerhörtes, noch nie Dagewesenes, erstrebten die Zerstörung der Gesellschaft? Wir verlangen nichts weiter – und dies zu verlangen haben wir das Recht und die Pflicht –, als daß der Staat sein bisher nur im Interesse einer herrschenden und bevorzugten Minorität ausgeübtes Recht über Grund und Boden im Interesse der Gesamtheit ausübe. Wir verlangen nur, daß für das Gesamtvolk getan werde, was bisher nur für den Adel, die Dynastien und die Bourgeoisie getan worden ist.

      Macht sich der Staat zum Werkzeug der herrschenden Minorität und stemmt er sich in deren Sonderinteresse gegen die vom Gemeininteresse erheischte Reform der Grund- und Bodenverhältnisse, nun, so wird das Notwendiggewordene dennoch zur Wirklichkeit werden. Es ist mit den gesellschaftlichen Vorgängen ähnlich wie mit den Naturvorgängen. Die treibenden Kräfte sind uns bekannt, wenigstens genügend, um die Wirkung im allgemeinen zu berechnen, allein die Einzelheiten der Wirkung entziehen sich der Berechnung.

      Wir kennen die Gesetze der staatlichen und gesellschaftlichen Entwicklung, wie wir die Gesetze der Windströmungen, der Witterung kennen, aber sowenig der kundigste Meteorologe die Witterung des folgenden Tages genau bestimmen kann, weil zu viele, in unendlich verschlungener Wechselbeziehung stehende und darum nicht mit mathematischer Gewißheit zu berechnende Faktoren im Spiel sind, ebensowenig kann der kundigste Sozialpolitiker den Verlauf der Gesellschaftskrise, in der wir jetzt stehen, in allen Einzelheiten vorausbestimmen. Die Logik lehrt uns zwar, nach welchen Gesetzen der Mensch denkt, die Psychologie, nach welchen Gesetzen er empfindet und handelt, allein wir sind nicht imstande, unseren Mitmenschen ins Hirn und ins Herz zu sehen. Ist es doch schon sprichwörtlich schwer, sich selber zu kennen, geschweige denn ein fremdes Individuum oder gar eine Klasse von Individuen. Und inmitten dieser millionenfachen Verschlingungen, Wechselwirkungen des gesellschaftlichen Lebens!

      Wir wissen, die heutigen Eigentumsverhältnisse sind eine vorübergehende Gesellschaftsform, die sich zu einer höheren Gesellschaftsform entwickeln muß. Wir wissen aber nicht, welche Beschleunigung oder welche Hemmnisse dieser Entwicklungsprozeß finden wird.

      Emanzipiert sich der Staat freiwillig, das heißt infolge richtigerer Anschauungen der Regierenden, von dem Klassencharakter, den er heutzutage hat; wird er, was er sein soll, Volksstaat, Ausdruck des Gesamtwillens, Verwirklicher des Gesamtinteresses, so vollzieht sich die Umgestaltung allmählich, ohne gewaltsame Schädigung der Privatinteressen, auch der unberechtigten, aber bisher von dem Gesetz sanktionierten. Das ist Reform. – Bleibt dagegen der Staat starrer Klassenstaat, so verschließt er freilich den Weg friedlicher Reform; ein Moment wird kommen, wo die Unerträglichkeit der Zustände die Menschen in die Alternative versetzt, entweder zugrunde zu gehen oder den Staat zu zertrümmern, der ihnen die Möglichkeit der Existenz raubt. In solchen Lagen ist der Entscheid nie zweifelhaft, ebensowenig wie der Erfolg. Das ist Revolution.

      Reform oder Revolution – das Endziel wird in beiden Fällen erreicht. Reform oder Revolution auf die Landfrage angewandt heißt aber: Expropriation oder Konfiskation. Expropriation, das ist volle Entschädigung der Besitzer; Konfiskation, das ist Beschlagnahme ohne Entschädigung, zur Strafe für unberechtigten Widerstand. Selbstverständlich könnten die Kleinbauern, die auf den Staat keinen Einfluß haben und durch ihr Interesse auf Seiten des Proletariats gedrängt werden, für die