Die Wölfe von Pripyat. Cordula Simon

Читать онлайн.
Название Die Wölfe von Pripyat
Автор произведения Cordula Simon
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783701746774



Скачать книгу

doch wundervoll, magisch, so viele, die das meinten, was sie sangen. Was sollte man denn sonst wollen. »Und die restliche Zeit?«, knurrte er sie an. »Wer führt dich nicht hinters Licht?«

      »Du«, sagte sie leise. Er nickte, legte den Arm um ihre Schulter und drückte sie kurz an sich.

      Am nächsten Morgen war Richard bereits vom Frühstück aufgebrochen. Potz hatte Jackie zugenickt. Jackie hatte Potz zugenickt, gesagt, sie fühle sich nicht besonders, eine schwankende Geste mit dem ganzen Körper vollzogen und war über die Wiese in Richtung Hütte geschwebt. Dieses Nicken hatte Emma beunruhigt. Was hatte das zu bedeuten? Ob der Workshop für Facial Expressions ihr dabei geholfen hätte, zu verstehen? Sie entfernte sich so langsam wie nötig und so schnell wie möglich von der Gruppe, drückte sich am Rand der Wiese die Bäume entlang und sah schon von weitem, dass Jackie sich nicht in die Hütte begab, sondern in eines der vielen administrativen Gebäude. Sie näherte sich. Sie konnte Jackie summen hören. Jackie summte fröhlich vor sich hin, als könnte sie kein Wässerchen trüben. Diese Fröhlichkeit, die sie ausstrahlte wie ein Schutzpanzer, und doch wollte man nach kurzer Bekanntschaft die Arme um sie legen. »Du mochtest ihn doch auch«, flüsterte Jackie, doch Emma konnte sie deutlich hören, so leise bewegten sich beide. »Du mochtest ihn doch auch, da roch überhaupt nichts fischig. Er hat keine lange Nase, nein, nein, kein Lügner. Was du gegen Richie hast, der hat doch auch keine lange Nase. Ja, sicher weiß ich, dass er violett ist.«

      Fast hätte Emma ihr antworten wollen, aber Jackie siezte sie üblicherweise, also ging Emma davon aus, dass Jackie mit sich selbst sprach und sie sie nur erschrecken würde. »Das Echo sagt, das Echo sagt, das Echo sagt«, murmelte Jackie, »die Maitresse der Monster ist nicht zugegen, sagt das Echo.« Emma fühlte ein Zucken in der Hand. Bald würde es zu regnen beginnen. »Der Sack Reis ist nicht in der Küche, der Sack Reis ist nicht in der Küche, ach, ich habe so geglitcht zuletzt und du hast es doch auch gespürt, wie Spinnen mit menschlichen Gesichtern und zwei spitzen Fangzähnen, wie es sich an meinen Schenkeln festkrallte. Nein, ich will den Kundendienst nicht kontaktieren.« Etwas musste ihr ordentlich das Hirn gesprengt haben, dachte Emma. Jackie verschwand in der Tür und Emma drückte sich die Mauer entlang zu einem Fenster. Eine Administrationsperson ging nun auf das Haus zu, Emma drückte sich enger an die Mauer. Was auch immer Jackie hier tat, die Administrationsperson würde sie gleich zurechtweisen.

      »Sack Reis.« Das hörte sie Jackie noch von fern durch die offene Tür sagen, dann schlich sie weiter um das Gebäude herum, um durchs Fenster zu sehen und den Weg der Administrationsperson nicht zu kreuzen. Doch da stand jemand vor ihr und ihr Herz machte einen Hüpfer, wie ein Schlag gegen den Kehlkopf.

      Sie erkannte den Schachspieler, atmete durch. »Emma, richtig?«, zischte er. Sie nickte, wusste aber nicht, ob er es wahrnahm. Er blickte zu Boden, die Schultern eingezogen, als stürzte gleich ein Felsbrocken auf ihn herab. »Sie nennen mich Gruber. Oder Springer«, er sprach mit seinen Schuhen. Diese Umgebung war eindeutig zu vollgestopft mit Menschen, dachte Emma, antwortete »Aha«, und wandte sich ab, um wegzugehen. »Ich weiß, was er vorhat.« Gruber hob den Kopf, schräg nach vorne. Er hatte etwas von einem Geier. Er schaute sie unsicher an. »Wer?«, fragte sie. »Der Große im Mantel. Sie nennen ihn Potz.«

      »Ich weiß nicht, was du meinst«, entgegnete sie, wollte sich entfernen, aber er machte einen kleinen Satz, um ihr den Weg zu verstellen, immer noch gebückt. »Er will von hier verschwinden.« Sie versuchte links oder rechts an Gruber vorbeizukommen, doch dieser war beharrlich, tanzte mit. »Was hat das mit mir zu tun?«, fragte sie, wollte sich nicht anmerken lassen, wie unwohl sie sich bei dieser Antwort fühlte. Gruber sank noch weiter in sich zusammen, sie schritt an ihm vorbei. Sie konnte damit gerade nicht umgehen.

      »Sie werden mich umbringen«, sagte Gruber. Da blieb sie stehen. »Wer, wer wird dich umbringen?«, schnaubte sie. Der Sinn dieser Lager war doch, dass niemand irgendjemanden umbrachte. Niemals. »Die Leitung, die Kurse, der Log«, stieß er hervor, mit dünnen Lauten unter dickem Schnauben. »Du übertreibst«, sagte sie, machte noch einen Schritt, gleich wäre sie wieder vor dem Gebäude, gleich würde man sie wieder sehen können, gleich wäre sie Gruber los, denn er würde nicht wagen, gemeinsam mit ihr auf die offene Wiese hinauszutreten. »Sie glauben, ich bin so ein Kriegsfanatiker, so ein Rassist, ich würde die Freiheit in Frage stellen, sie medikamentieren mich, bis mein Kopf ganz weich wird, aber ich habe doch nichts getan.«

      »Was willst du von mir? Ich kann deinen systemischen Rassismus nicht zu meinem Problem machen«, zischte sie.

      »Nehmt mich mit. Nehmt mich bitte mit, lasst mich nicht hier, sie werden mich zerbrechen. Sie haben meine ganze Familie zerbrochen, meinen Vater, meine Mutter, meine Schwester, alle in Behandlung, Betreuung, in Einrichtungen und meine Betreuungsperson hätte lieber, käme ich aus den Einrichtungen nie mehr heraus.« Emma dachte an ihren Vater, an ihre Mutter, an ihre Schwester, die friedlich zu Hause saßen, warteten, dass sie wiederkäme. »Das Lager, Richie, die Teambuilder, sie alle werden dich auch brechen«, sagte er wieder leise zu seinen Füßen, hielt dabei den Zipfel eines ihrer Ärmel. Das Lager hatte wohl recht: Er musste übergeschnappt sein. »Lass mich in Ruhe«, fuhr sie ihn an, riss ihren Ärmel los, und er drückte etwas in ihre Hand, doch sie sah es nicht an, als sie über die Wiese zur Essenshalle ging. Man sollte sich in nichts hineinziehen lassen.

      Da hörte sie hinter sich ein Rumpeln, machte kehrt, und aus dem Gebäude kam ein Licht wie der Blitz eines Fotoapparates, eines Paparazzigerätes, eines großen Dings aus Objektiv und Blitzlampe. Als sie wieder Formen erkennen konnte und das grelle weiße Licht und die dunklen Flecken dem Gras und den Bäumen gewichen waren, wetzte in schnellen, winzigen Schritten Jackie auf sie zu, an ihr vorbei, wirkte, als hätte sie der Schlag getroffen oder abermals ein Blitz. Emma beschleunigte ihre Schritte. »Jackie«, sagte sie. Doch Jackie ging weiter, presste etwas an ihren Bauch: »Chillamoi, Chillamoi, Chillamoi«, murmelte sie und: »Chillamoi, ein Sack voll Reis, Chillamoi, der Reis ist nicht in der Küche. Chillamoi, bis die Zeit endet, werde ich silberne Mondäpfel und Goldene Sonnäpfel pflücken, Chillamoi. Bis Frühling unter den alten Himmeln ist. Chillamoi.« Jackie drehte nun also völlig durch, genauso wie dieser Gruber. Emma folgte immer noch Jackie, konnte kaum Schritt halten. Als hätte irgendetwas sie ausgehängt. »Jackie, Jackie«, rief sie, und sah endlich auf ihre Hand, in die Gruber eine kleine Figur gedrückt hatte. Einen Bauern. Eigentlich nur ein Kügelchen auf einem schlanken runden Sockel. Ein weißer Bauer. Sie folgte Jackie bis zur Hütte, wo diese sich auf das Bett warf. Vielleicht machte dieses Lager einen wirklich weich, dachte sie.

      6Ein Märchen

       Im Jahr 1 vor dem Konsul

      Sandor Karol betrat den Ätherturm. Er wusste, dass er zu spät war, das passierte ihm sonst nicht. Er mochte es auch nicht, wenn andere zu spät waren. Seine Aufzeichnung begann erst in einer halben Stunde, aber seit er Kata kannte, hatte er keine ihrer Aufnahmen verpasst. Er wusste, dass er sie zu Hause nicht nachhören würde. »Niemand mag es, die eigene Stimme zu hören«, hatte sie gesagt, als er einmal eine ihrer Aufnahmen eingeschaltet hatte, und sie hatte diese, noch bevor sie den Raum betrat, per Fernbedienung ausgeschaltet, sich zu ihm auf das Sofa gekuschelt, einmal kurz den Kopf geschüttelt und seither hatte er es bleiben lassen. Sie hatte dabei diesen ewiggütigen Gesichtsausdruck gehabt, den sie nicht nur vor der Kamera, sondern durchs ganze Leben trug. Zugleich sprach sie mit kräftiger Stimme. Als Tante Brause war sie wie ein sanfter Engel, nicht wie einer mit Flügeln, eher wie der Cocktail: süß und herb zugleich. Seine Hand juckte ein wenig. Die winzige Wunde, die die Implantierung des Stents hinterlassen hatte, heilte. Er hätte nicht gedacht, dass es so lange dauern würde, den Log einzurichten und die Berechtigungen zu prüfen. Wer geht schon davon aus, dass es Tage dauern könnte, wenn der Log das Handbuch vorliest: »Wir sind für Sie da in every language und stehen Ihnen mit Rat und Tat zur Seite.« Berechtigung, in den Hormonhaushalt einzugreifen. Berechtigung, in die sensorische Wahrnehmung einzugreifen. Setzen Sie ein Zeichen für die Natur. Er wollte nicht einfach »Alle erteilen« sagen, er musste doch wissen, was er erlaubte. Immerhin hatte man die Albträume nach dem Implantieren eliminiert. Alles war unter Kontrolle: die Träume, die Launen, Lyrie und Kata und die Kontoeinstellungen.

      Den Teil, in dem Kata Morphologie erklärte,