Die Wölfe von Pripyat. Cordula Simon

Читать онлайн.
Название Die Wölfe von Pripyat
Автор произведения Cordula Simon
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783701746774



Скачать книгу

Schiffscontainer geklebt wurde, auf Lastkraftwagen, auf Wände und Tische, um den Überblick zu behalten. Neben dem finanziellen Schaden ein Desaster für die Umwelt. Was das finanziell bedeutete, hatten sie auch im letzten Jahr besprochen. Was Geld war, bevor man es virtualisierte. Wie man heute mit seiner Adresse bezahlen konnte. »Die Lastwägen bleiben stehen, wenn die Daten fehlen«, sagte Kowalcik. Ein Netz bot Sicherheit. Wie im Sportunterricht: Wer nicht klettern konnte, konnte sich fallen lassen, in das große weiche Netz.

      »Wo können wir die Vorteile des Netzes noch erkennen?«, fragte Kowalcik. Luce wedelte aufgeregt mit der Hand: »Um zu wissen, ob wir friedenssichernde Maßnahmen machen müssen.« Machen müssen, dachte Sandor. Ergreifen müssen, umsetzen müssen. »Machen« war ein Wort, das er nicht mochte. Luce würde in Weltkunde sicher wieder ein Einhorn bekommen. Sie meldete sich immer nur, wenn es um Frieden ging. Sie war auch von den Lehrpersonen als Friedensstifter-in der Klasse beauftragt worden. Das bedeutete, dass sie, sobald zwei in der Klasse stritten, den Lehrpersonen Bescheid gab. Sandor mochte sie nicht.

      Kowalcik erklärte nun, was ein Alghorithmus war. Das Wort erschien hinter ihr auf einem Schirm und dazu die Definition: eine eindeutige Handlungsvorschrift zum Lösen von bestimmten Problemen.

      Kowalcik sprach nun darüber, was hier »eindeutig« meinte. Nur eine Lösung ist gut und richtig. Kowalcik stand nun vor Sandors Pult und fragte: »Warum die gelben Strahlen?« »Der Schutz vom Netz.« Lehrperson Kowalcik lächelte und nickte: »Sonnig.« Sandor lächelte auch. Wenn er jetzt etwas Kluges sagte, dachte er, könnte er schon auf einem Biber stehen. Eine kluge Frage, dachte er: »Warum ist mein Schulweg fünfundvierzig Minuten, seit wir vernetzt sind, und nicht wie früher fünfzehn … Wenn der Log doch den schnellsten Weg findet.« Da verzog Lehrperson Kowalcik wieder das Gesicht. Es war wohl doch keine kluge Frage gewesen. »Der Log findet den besten und kürzesten Weg für alle. Dein Weg mag länger geworden sein, aber im Durchschnitt – du erinnerst dich, was ein Durchschnitt ist? –, im Durchschnitt sind alle Wege kürzer. Wenn nur deiner so kurz ist, alle anderen aber mehr als eine Stunde brauchen, wäre das ungerecht. Daher ist es wahr zu sagen, dass der Log den schnellsten und kürzesten Weg findet, verstehst du?« Sandor nickte stumm. Die anderen Kinder tuschelten. Sie hielten Sandor für dumm. Sandor hatte etwas Dummes gefragt. Sandor würde wieder einen Frosch bekommen.

      An diesen Tag dachte Sandor Karol, als er seinen Chip bekam. Ein kleiner Stent in der Hand. Jemand mit bunt gefärbter Haut und vielen Löchern in Nase und Ohren hatte ihn in seine Haut gestochen, zwischen Daumen und Zeigefinger. Das war sein Ausweis, das war sein Bankaccount, seine Adresse, darin war alles verzeichnet, was er jemals virtuell getan oder gesagt hatte. Sogleich fragte ihn der Log, ob er auf seinen Kalender zugreifen durfte. »Darf der Log auf Ihre Wege zugreifen?«, war die nächste Frage, die sich mit einem kleinen Zittern, einem sanften, wohligen Vibrieren angekündigt hatte. Kein Suchen nach Chipkarten mehr, er musste sich nicht mehr die Mühe machen, selbst eine Orientierungshilfe zu befragen, und keine Angst mehr haben, verloren zu gehen. Das Netz war da und wusste, wer er war und was er war. Er konnte mit ihm sprechen, ohne den Mund zu bewegen, er musste nur »Log« denken oder den Namen seines Logs, doch er hatte seinen nicht benannt.

      An diesem Schultag, erinnerte sich Sandor, hatten sie auch Turnunterricht gehabt. Die meisten Kinder konnten nicht klettern. Nur wenige schafften ein paar Zentimeter am Seil nach oben, das in den Handflächen brannte. Er bemühte sich trotzdem, auch wenn es hier keine Frösche oder Einhörner gab. Hier gab es nur Sonne oder Mond. Dabei gewesen oder nicht dabei gewesen. Für die Kinder war das egal. Sandor war etwas zu klein für sein Alter, der Wachstumsschub ließ lange auf sich warten. Er war bereits sechzehn, als er endlich seine Eltern überragte. Die anderen hatten ihn »Sando, der Große« genannt. Das meldete Luce, die Friedensstifter-in, nicht. Schließlich nannten sie ihn nicht klein. Dabei hatten die Lehrer irgendwann aufgehört, Uneingeschränkte als »Uneingeschränkte« zu bezeichnen, denn, so erinnerte er sich vage, es würde nur darauf hinweisen, dass es Eingeschränkte gab, und »Eingeschränkte« sagte man nicht. Aber da war er bereits älter gewesen. Inzwischen gab es keine Eingeschränkten mehr. Alle Körperteile waren mittlerweile ersetzbar, veränderbar.

      Damals hatte er noch versucht, am Seil nach oben zu klettern, aber in den Folgejahren hatte er sich einfach nur fallen lassen. In das Netz. Das Netz fängt dich auf, das Netz bietet Sicherheit. Man konnte nicht am Boden aufschlagen. Im Netz kann man auch nicht verlorengehen oder gar entführt werden. Seine Hände hatten gebrannt, als er vom Seil rutschte, und das Netz federte ein wenig unter seinem geringen Gewicht. Das war sie also, die zweifelhafte Freiheit, sich fallen lassen zu können. So lag er einen Moment und atmete durch. Und Luce sagte: »Sando, der Große, blockiert das Netz, die anderen haben gar keinen Platz, er stört den Unterricht, Stören des Unterrichts ist Unfriede«, und sie grinste dazu, während die Lehrperson ihn grob anwies, Platz zu machen. Seine Mutter wurde auch ins Rektorat zitiert und man erklärte ihr, dass sie nicht weiter in seine Bildung eingreifen sollte. Sandor denke nicht, oder zumindest nicht richtig, sonst würde er nicht ständig Dinge fragen, die längst geklärt waren.

      Er löste sich von seinen Erinnerungen und dachte »Log« und »Nachrichten«, und der Newsfeed tauchte vor seinem inneren Auge auf: Er scrollte auf ganz intuitive Art mit Wimpernschlägen. »Likesucht: ernstzunehmende Erkrankung oder Erfindung fabrizierter Wissenschaften?« Wie kurios, dachte er: In der Schulzeit hatte Kowalcik die Sozialen Wissenschaften gelobt und bejubelt, doch nun war alles Körper. Farbe, Geschlecht, Piercings, Elektronik, selbst Zugefügtes wie Natürliches bestimmten den Lebensweg. Sandor wusste nicht, ob der Fehler nun bei Kowalcik lag. Schlechte Lehrer sind eine gute Schule, dachte er, hielt einen Moment inne, schrieb es dann zu seinen anderen Sätzen. Dieses Blatt war bereits voll, er legte es in den kleinen, braunen Koffer zu den anderen. Papier und Leder hatten etwas Nostalgisches. Papier war ein Luxus, und er gehörte zu den Privilegierten, die es sich leisten konnten. »Pop-up Vintage Store« flimmerte eine Werbung durch seinen Feed. Er scrollte weiter. Heute war alles nur mehr Pop-up. Er kannte gar kein reales Geschäft mehr, in dem man Dinge anfassen konnte, das von Dauer war. Alles war über das Netz bestellbar. Nur mit Adresse und Geburtsdatum. Daten, das war alles. Bei ganz Zeitgemäßen konnte man mit Likes bezahlen. Er scrollte weiter. Es soll einen Anschlag gegeben haben, man wisse noch nicht, von wem. Die Union habe einen Primärhaushaltsüberschuss und werde Maßnahmen ergreifen, und bald werde auch gewählt. »Wahlinformation beantragen?«, fragte der Log und Sandor nickte. Auch das registrierte der Chip, obwohl er doch so weit vom Kopf entfernt war. Er war nun vernetzt, so wie Kata es wollte. Ohne Log gab es keine partnerschaftliche Verbindung. Kata hatte sich schon für ein Paket entschieden. Er hatte das Dokument dazu noch gar nicht gelesen.

      Eine Werbung wurde eingeblendet. Er war noch nie anfällig für Werbung gewesen. Daher war Lyrie auch nicht gecrispert. Die Kurzens von schräg gegenüber, die hatten entschieden, dass ihr Sohn schwarz sein sollte, damit seine Erfahrungen ernst genommen würden. Man konnte sich schließlich dagegen entscheiden, lächerlichen Privilegien hinterherzuhecheln, und stattdessen seinem Kind die wahre Erfahrung des an den Rand Gedrängten vermitteln, was ihn zu einem besseren Menschen machen würde. Soweit Sandor wusste, war der Sohn der Kurzens jedoch auffällig geworden und verbrachte die Sommer in einem Ferienlager mit Pädagogen für gravierende Fälle, aber das könnte auch nur ein Gerücht sein. Auch für den Slogan zur Bewerbung des Logs selbst hatte er sich nie erwärmen können: Das Marketing hatte sich schon vor Jahrzehnten auf »Log it« eingeschossen. »Termin? Log it. Tasks? Log it. Kalorien? Log it.« Ein Punk, ein Mann im Anzug und eine Großmutter sprachen diese Sätze, das Personal, das in der Werbung einfach alles loggte, wurde ständig erweitert. Jetzt hatte sich das Marketingteam des Logs wohl endlich, nach all dieser Zeit, einen neuen Slogan geleistet: »Der Mensch ist die Summe seiner Gedanken.« Besser war das nicht, fand Sandor, als das ewige »Log it!«, es klang sperrig und neue Ideen gab es offensichtlich ohnehin keine.

      »Soll der Log Sie über das Wetter informieren?«, er schnaubte ein Lachen. Sandor konnte sehen, dass die Sonne schien. In einer Stunde würde er vor der Kamera stehen und genau das den Zuschauern des Aufrichtigen Äthers sagen.

      5Ein Sack voll Reis

       Im Jahr 1016 des Konsuls

      Kein Signal.

      In