Das Innere des Landes. Günther Marchner

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Название Das Innere des Landes
Автор произведения Günther Marchner
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783702580919



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schwarz. Schwarzes Braun.

      Johns Hüften schmerzen, sein Atem ist kurz. Er hat sich für zu lange Zeit zu wenig bewegt, zu viel gegessen und zu viel Alkohol getrunken. Er hat zu viel gearbeitet, zu viel Druck verbreitet und sich zu viel unter Druck setzen lassen. Er versucht, einen Rhythmus in seine ungelenk gewordenen Bewegungen zu bringen. Wieder mehr Rhythmus, wieder gleichmäßiger und entspannter, wieder mehr von dem, was ihm und allen anderen guttut. Es fällt ihm schwer, er läuft nur kurze Strecken, dann stoppt er, immer wieder, unregelmäßig. Der Waldboden, obwohl weich und geschmeidig, erscheint ihm wie schweres Gelände.

      Er verweilt am Rande des Sees, die Oberfläche ist blitzblank, noch ist nicht die Zeit, in der sich im Wald fette Mücken bemerkbar machen, sobald er stehen bleibt und der Schweiß fließt. Die Sonne blinzelt durch die Bäume, einer Mischung aus Nadeln und Laub, frisch ausgetriebenes helles Grün.

      Er denkt daran, wie er dieses andere Leben, das Leben in der Natur, stets herbeisehnt. Wenn er sich eingeengt fühlt an langen Schreibtischtagen, in endlosen Gesprächsterminen, im Stau, stets angemessen statt leger gekleidet, dazwischen sich mit Fast und Convenience Food versorgend, wenn auch von der gehobenen Sorte, eingeklemmt zwischen Terminen. Aber es gibt dieses andere, das wirkliche Leben. Das des Naturmenschen und Selbstversorgers, des Hüttenbauers und Kanupaddlers, des Anglers und Pick-up-Drivers durch ruppiges Gelände. Stets lässt er sich von diesem Lebensgefühl erfassen, wie viele Männer, die sich in ihren Holzfäller-Hemden einen Lebensplatz am Wochenendlagerfeuer gönnen, gelegentlich in einer Endlosschleife aus Grill, Baseball und Eishockey versunken, in Blockhütten, Holzriegeln oder aufgebockten Trailern mit Klimaanlage und Gasheizung. Wenn er seine Runden durch Blueberry-Moore zieht, wenn er das Heck des Pick-ups bis zum Bersten mit Überlebensausrüstung vollräumt, ergänzt durch Einkäufe in einer der äußeren Malls, den letzten Außenposten der Zivilisation auf dem Weg zur Lodge. Wenn er gute Musik von früher genießt, auf dieser in einem langen Stück geradeaus verlaufenden Straße, bevor sich diese entschließt, die Richtung zu ändern, um wiederum für eine lange Weile geradeaus zu verlaufen. Vorbei an schütteren Nadelwäldchen, Moorflächen, unzähligen schwarzen Seen, die zwischen den Bäumen durchschimmern. Bevor dahinter, sehr weit dahinter, der leere Norden beginnt, den er gelegentlich aufsucht. Wie Sibirien, denkt er manchmal, unüberschaubar in dieser erhabenen Endlosigkeit. Wenn er der Zivilisation und dem dichten Leben entflieht und sich in die Freiheit entlässt, mit entsprechender Ausrüstung, um sie zu überleben. Wenn er versucht, sich auf die Fülle an Arbeit zu konzentrieren, die auf ihn wartet, und wenn er beschließt, beschließen muss, Arbeit mitzunehmen in das Wochenende, in den Wald, nicht das erste Mal, nicht das letzte Mal, in diese großzügige Lodge am See, immerhin.

      Bis vor ein paar Tagen das Telefon geläutet hatte.

      Ob man hier richtig sei bei ihm. Ob er die Mail erhalten habe, die man ihm vor drei Wochen geschickte habe.

      Die Mail? Nein! Ja doch. Also Sie sind das? Ja, er war beschäftigt gewesen und hatte noch keine Zeit zu antworten.

      Wir dachten uns, wir kontaktieren Sie und fragen noch einmal nach, ob Sie die Nachricht überhaupt erhalten haben. Wir haben vergeblich auf eine Antwort gewartet, so die Stimme mit Akzent.

      Er habe keine Ahnung, worum es gehe. Woher sie seine Nummer hätten, hatte er noch unfreundlich zurückgefragt.

      Natürlich von den Kontakten zu seinen Eltern. Mit seiner Großmutter hätten sie ohnehin jahrelang zu tun gehabt.

      Er versuchte zu begreifen, was ihm gerade mitgeteilt worden war. Er merkte, dass es da etwas gab, was ihn betreffen sollte. Er hatte sich bisher einfach nicht darum gekümmert, es war weit weg.

      Wer das war, hatte sie ihm aus dem Wohnzimmer zugerufen, nachdem sie das Telefonat mitbekommen hatte, das anders war als sonst, nichts Vertrautes, Routiniertes, Übliches war zu hören gewesen.

      Nichts Besonderes, es gehe um das alte Haus seiner verstorbenen Großmutter, das gehöre jetzt ihm. Er habe es geerbt, sie wisse das ja, oder nicht? Es gebe ein paar Dinge zu klären, hätte man ihm gesagt. Aber er habe noch keine Zeit gehabt, sich um die Angelegenheit zu kümmern, falls es überhaupt etwas gäbe, was er sonst tun sollte, als diese Angelegenheit möglichst schnell loszuwerden, das heißt: zu verkaufen.

      Aber da hatte sie ihm schon gar nicht mehr zugehört.

      Seine Gedanken daran versucht er während seiner Laufrunde um den See abzuschütteln. Das Haus sei sanierungs- und reparaturbedürftig, hatte es geheißen. Der Anruf war von jener Agentur gekommen, die die Betreuung dieses Hauses innehatte, auf gutwilliger Basis, wie ihm gesagt wurde, schon seit sehr vielen Jahren. Oder war es ein Nachbar? Er brachte alles durcheinander. Auf alle Fälle sei etwas zu klären oder zu tun, war ihm mitgeteilt worden. Die Mieter seien vor drei Jahren ausgezogen, das Haus stehe leer, ungenutzt.

      Was er denn nun damit machen wolle?

      Damit? Womit?

      Mit dem Haus natürlich.

      Er weiß es nicht. Er weiß erst seit kurzer Zeit, dass er überhaupt über ein Haus verfügt.

      Es sei einiges zu reparieren und vor allem zu regeln.

      Zu regeln? Könne das Haus nicht einfach verkauft werden? Er habe ja damit nie etwas zu tun gehabt und auch keinerlei Interesse daran. Könnten nicht Sie das für mich übernehmen?

      Man könne das schon für ihn machen, aber das kostet und man müsse eine Vereinbarung treffen. Und irgendwie müsse man wegen einiger Dinge ständig rückfragen. Das scheint einfach zu kompliziert zu sein. Es gehe doch um einiges, und dann diese Entfernung. Spielt das für Sie keine Rolle?

      John weiß nicht, was er sagen soll, weil er nicht weiß, was hier welche Rolle spielen soll.

      Es scheint komplizierter zu sein, als er bisher dachte, und es erscheint auch so, dass die Sache aus der Ferne nicht zu regeln ist. Zumindest nicht zufriedenstellend, so der Agenturmitarbeiter am Telefon. Er rate John, sich die Sache selbst anzusehen, sich ein Bild zu machen. Vielleicht könnte er einige Tage in die Gegend investieren, um die Angelegenheit vernünftig zu lösen.

      Dann hatte John seine Sachen fürs Wochenende gepackt. Seine Unterlagen hatte er in den alten Koffer mit den vielen Fächern gegeben, ebenso den Computer. Er hatte noch überlegt, ob er erst am nächsten Tag morgens fahren sollte, sich jedoch besonnen und alles ins Auto geräumt.

      Ob sie mitfahre, hörte er sich fragen. Aber es schien ihm ohnehin sinnlos.

      Sie blickte zu ihm.

      Nein! Wie er ohnehin wisse, habe sie schon was anderes vor.

      Das weiß er eben nicht.

      Es sei besser, sie halten Abstand zueinander, meinte sie. Sie sei durcheinander, sie habe das Gefühl für ihn verloren, füreinander.

      Er kannte diesen Satz, diese Botschaft, seit einiger Zeit, seit den letzten Monaten. Auf dieser Ebene verkehrten sie inzwischen. Distanziert beurteilten sie ihre Beziehung, ihre Frustration, ihre Sackgasse.

      Was sie denn vorhabe, wollte John wissen.

      Sie fuhr ihn an. Kontrollierst du mich? Sie werde den gemeinsamen Sohn besuchen, er sei mit seiner Freundin zusammengezogen, vor Kurzem.

      Er wisse darüber Bescheid, antwortete er ihr reflexartig und geflissentlich, er habe ja mit ihm gestern telefoniert. Er wollte eigentlich, dass er mit zur Lodge fährt. Aber er habe Prüfungen, auf die er sich vorbereiten müsse, so der Sohn. Durch den Umzug habe er Zeit verloren, er müsse sich konzentrieren. Er fehlt mir, sagte John abschließend. Er dachte daran, wie sich ihr Sohn vor ein paar Monaten zurückgezogen hatte, als sie beide vergeblich versucht hatten, ihn jeweils auf ihre Seite zu ziehen, ihn jeweils für sich zu gewinnen. Doch er spielte nicht mit.

      Werdet erwachsen, sagte ein 22-Jähriger zu seinen Eltern.

      Und nun fährst du zu ihm?

      Er bemerkte das irritiert und eifersüchtig.

      Aber da war sie schon weg.

      Es musste sich zwingen, Schritt für Schritt ein Ding nach dem anderen zu tun, sich nicht fallen zu lassen. Aber warum