Walaceks Traum. Giovanni Orelli

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Название Walaceks Traum
Автор произведения Giovanni Orelli
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783038551027



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      – Du warst die Nummer 8, der Halbstürmer. Und indem ich dich und die Acht halbiert habe, habe ich dich wieder auf Null gebracht.

      In Walaceks Augen lag immer noch ein Rest Angst. Die Zahl Null macht Angst. Als hätte Klee im Hof des Kindergartens oder der ersten Klasse Grundschule mit Kreide einen Kreis gezeichnet, ein O, und alle Kinder darum herum gesetzt und dann der Lehrerin ein Zeichen gemacht, das bedeuten sollte: los! Die Lehrerin (hübsch, wirklich sehr hübsch, verlockende Kurven rechts, verlockende Kurven links, reizende Öhrchen und Stupsnase) sagte daraufhin: – Jetzt spielen wir Faules Ei.

      Doch als Bubi an die Reihe kam, der Sohn des Majors, der zu Hause in Wien schon lange vor 1938 beim Eintreffen von Gästen den Arm zum Gruß hob wie ein kleiner Hitler, da ließ Bubi sein Taschentuch genau hinter dem Rücken des kleinen Sindelar fallen. Sindelar spürte sehr wohl, dass das Taschentuch hinter ihm lag, und er hätte es aufheben und Bubi hinterherrennen und ihn innerhalb einer Runde einholen müssen, andernfalls wäre er das faule Ei gewesen. Aber er hob es nicht auf. Ein Sindelar hätte alle feisten Bubis und Söhne von Biertrinkern des Dritten Reichs mit drei Sprüngen eingeholt, aber es ekelte ihn bei dem Gedanken, dieses Taschentuch aufheben zu müssen, das Bubi in die Hand genommen, eine ganze Runde lang in seiner Hand gehalten hatte, und die Runde war groß. So wurde der kleine Sindelar das faule Ei, und alle Kinder riefen in ihrer Ahnungslosigkeit: faules Ei, faules Ei. Sindelar erfand eine Notlüge, er sagte, dass man ihn wegen einer wichtigen Sache zu Hause erwarte, und hörte zu spielen auf. Für immer. Er konnte weder mit Bubi noch für Sepp Herbergers und Hitlers Großdeutschland spielen. Sie fanden ihn vom Gas getötet. Selbstmord oder Strafe? Walacek zitterte einen Moment, so wie wenn man aus dem Augenwinkel den Beine brechenden Verteidiger wutentbrannt und missgünstig auf sich zu rennen sieht. Eine Null? Nein. Es hätte ihm nicht gefallen, wie ein guter Genfer aufzuwachsen, nichts als Wohnung und Büro, wie eine zuverlässige Benzinpumpe, die unterschiedslos diesen und jenen Tank mit Treibstoff füllt. Er hätte kein Baum im Stadtpark oder auf einem Platz sein mögen, mit einem kleinen Zaun drum herum, ­genau wie ein Waisenhaus- oder Internatszögling. Ebenso wenig hätte er alle seine Abende, alle Sonntage seiner zwanzig Jahre mit Kartenspielen verbringen mögen, denn wenn er auch nie eine Zeile Schopenhauer gelesen hatte – er wusste nicht einmal, wer Schopenhauer ist –, so ahnte er doch undeutlich, dass nichts die elende Seite der Menschheit mehr entblößt als Kartenspielen, dass die Langeweile für den Sonntag steht und die Notwendigkeit für die übrigen sechs Tage der Woche. Walacek hatte seinen Platz als Halbstürmer ­gefunden und war froh, denn ein Halbstürmer ist mehr als ein Flügel mit seiner festgelegten Rolle, am Aus entlangrennen und von der Grundlinie aus eine Flanke in den Torraum schießen. Ein Halbstürmer muss den Überblick über das Spiel behalten, mit den anderen Mittelfeldspielern im Dialog bleiben, nicht nur seinen Flügel losschicken, sondern auch den Flügel auf der anderen Seite, mit langen flachen Pässen, die die gegnerische Verteidigung täuschen, oder er muss seinem Mittelstürmer vor dem Tor einen Pass in die Tiefe zuspielen, der aber kein schwacher Torschuss sein darf, kein Weihnachtsgeschenk oder mit weißen Handschuhen getätigter Anruf für den gegnerischen Torwart.

      Bubis Taschentuch war verdreckt wie das Laken von Franz im Internat, als Walacek und Sindelar eisern in den Vorstadtmannschaften spielten, wo geprügelt wird, wo man, vor allem die Schmächtigeren, die Techniker wie Sindelar und Walacek, Erfahrung sammelt, wenn es denn gelingt zu vermeiden, dass einem jemand (die, die sie Metzger nennen) die Beine bricht. An einem Freitagabend, bevor die «Gäste» des Internats den Zug in die Weihnachtsferien nahmen, hatte der Oberaufseher einen Inspektionsrundgang durch die Schlafsäle gemacht. Jeder Bub stand neben seinem Bett. Als der Oberaufseher vor Franzens Bett angelangt war, schob er seinen bleichen, behaarten Arm unter Franzens Kissen und warf abrupt mit einer gezielten Bewegung die weiße Decke samt Federbett zurück, sodass, wie beabsichtigt, das Laken darunter zum Vorschein kam, die Kuhle, in der dieser Hund von Franz mit seinem Judengesicht schlief. Das Laken war besudelt, und der Oberaufseher rief mit gekrümmtem Zeigefinger alle rund um Franzens Bett, alle im Kreis, damit jeder sich das schmutzige Laken genau anschaue. Ein Kleinerer aus der zweiten Reihe versuchte zu sehen, so viel er konnte, indem er zwischen den Körpern der Größeren, Frecheren, die vor ihm standen, hindurchspähte: wie beim Fußball. Es war kein Blut, es waren gelbliche Flecken, an den Rändern leicht braun, als hätte da jemand, um dem Franz erneut einen Streich zu spielen, ein faules Ei zerquetscht. Die Kleinsten baten anschließend Rudolf, Rudi, der immer alles wusste, um eine Erklärung. Denn alle hatten angefangen, ordinär zu lachen und sich mit dem Ellbogen anzustoßen, aber nicht so, wie wenn gleich ein Freistoß aus achtzehn Metern geschossen wird und sämtliche Verteidiger eine Mauer bilden, mit ein paar Gegnern darunter, die mit den Ellbogen dazwischenfunken. Franz war der Einzige, der sich keinen Millimeter wegrührte, er blickte auf sein Laken, als läge er selbst da anstelle des Lakens, sein unheiliges und jede Sekunde dieser Hölle, die er durchmachte, ununterbrochen entweihtes Grabtuch. Er blickte darauf mit seinem schmalen Gesicht und seinem traurigen Mund mit den feinen wohlgeformten Lippen, und einmal hatte der Zeichenlehrer Zaccheo, der außerhalb der Schule auch Maler war und in der Klasse immer von «unserem Pavolo Veronese» sprach und, wenn einer ihn fragte, welche Farbe er nehmen solle, zur Antwort gab: «Nehmen Sie Hirnfarbe», weil er alle siezte, einmal hatte Zaccheo sich vor Franz hingestellt, hatte ihn durchdringend angesehen mit seinen Augen einer verschlagenen und zugleich verschlafenen Katze und zu der ganzen Klasse gesagt: Alle Mädchengestalten von Botticelli einschließlich der Madonna haben so einen Mund.

      Génia Walacek öffnete die Augen ins Leere. Aber der Oberaufseher hatte keine Ahnung von Botticelli. Er konnte, mit Witz, mit Nachdruck, das heißt, indem er mit seinen klobigen Fingern eine mechanische Übersetzung des Arrangements in die Tasten haute, Lili Marleen spielen. Schön, schön. An sich musste Lili Marleen genau das Gegenteil von Bubi und der Bubi-Rasse sein. Lili Marleen hat etwas Schönes, ganz das Gegenteil von Bubi, der auch noch zwei Pfirsiche gestohlen hatte, die einer der Kleineren nicht zu essen wagte und seiner Mutter zu Weihnachten mitbringen wollte. Mistkerl und Dieb, gib die zwei Pfirsiche zurück, auch wenn sie so hart waren wie Tennisbälle: Man hätte ein bisschen spielen können damit, con, avec, sic, so beinahe rennend auf dem Rückweg durch die Unterführung des Berner Bahnhofs, in Eile, beinahe in Hetze, in der Angst, ja nicht zu spät zurückzukehren vom Klee-Museum in Bern, wo man die Schwarze pastose Wasserfarbe auf bedrucktem Zeitungspapier wieder hatte sehen wollen: beinahe rennend zwischen den Leuten in den langen Gängen der Berner Unterführung, die von geschäftigen Leute wimmeln: und sich wieder wie ein Junge mit einem Tennisball fühlen. Kapitän Severino Minelli, in zweiter Linie bei den Grasshoppers, in erster Linie Verteidiger und Kapitän der Nationalmannschaft, sagt nämlich, dass man so, mit einem Tennisball, einen Fußball kontrollieren lernt. Bis man so weit ist, dass sie einem gehorchen wie Bälle oder Kegel in der Hand und außerhalb der Hand eines Va­rieté-Künstlers, eines Zirkus-Jongleurs: als würden sie magnetisch angezogen. Wenn Sindelar den Ball führte, war sein vorwärtsstürmendes Geplänkel, sein plänkelndes Vorwärtsstürmen, rechtsfüssig, linksfüssig, so unberechenbar, dass alle Augen der Gegner ihn voll Verwirrung und, muss man hinzufügen, voll Bewunderung und Hass ansahen. Was würde bei diesen Bewegungen des ganzen graziös verrenkten Körpers herauskommen? Der Ball folgte dem tänzerischen Fuß wie ein Hund, ein abgerichtetes Tier. Sindelar-Walacek brauchen, unter dem Mantel des Dompteurs, nur zu sagen: hopp Suisse, hopp Wunderteam, und schon gehorcht der Ball, verhält sich wie das Stöckchen oder die Melone in den Händen von Charlie Chaplin. Sindelar (und auch Walacek) hätte den Ball genauso treffsicher in die Ecke des gegnerischen Netzes setzen können (sie nennen es das Set), wie er einem Unterführer des Führers den Pfeil seiner Spucke ins Schweinsgesicht hätte (hätte: bleiben wir bei hätte) schleudern können, einem Bubi aus dem veranschlussten, vergasten, vergewaltigten Österreich. Jugendliches altes Wien. Doch du kannst nicht sterben, wie Sindelar, sonst können wir alle sterben. Ta ta ta ta.

      Waren das die Trompeten des einstigen Wien oder Salven aus einem Maschinengewehr?

      So ernst werdend, wie man sie noch nie gesehen hatte, schienen Klees Großmutter und Walaceks Großmutter, Jenny Morel, durch Klees Mund zu Walacek zu sagen:

      – Versuch, wenn du in Paris gegen Hitler spielst, denn alles ist Politik, da hat der große nationale Gottfried Recht, versuch, ein Dribbling hinzulegen wie ein junger Gott: en surplace, dass es deinen Nazi-Gegenspieler aus der Fassung bringt, fertigmacht, ihn gewissermaßen