Walaceks Traum. Giovanni Orelli

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Название Walaceks Traum
Автор произведения Giovanni Orelli
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783038551027



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liegt. Er sprach vielmehr, unter großem Beifall, vom Zusammenleben der Völker in der Eidgenossenschaft, einem Vorbild für Europa und die Welt. Er schloss mit einer Ähnlichkeit, der ewige Dauer bestimmt sei – das Zusammenleben der Völker in der Konföderation sei mit den Säulen eines griechischen Tempels vergleichbar: «alle leicht schräg, alle unmerklich zu einer einzigen Achse hin geneigt, sodass sie, einzeln gesehen, gerade auf ihrem Sockel zu stehen scheinen, frei in ihrer Haltung, gerecht und vollkommen in ihrer Individualität, zusammen gesehen erscheinen alle, so wie sie sind, im Einklang. Das Auge nimmt die Schräge jener marmornen Linien nicht wahr, doch wandert der Blick an ihnen empor, erhebt er sich unbewusst bis zum idealen Schnittpunkt, in dem der gesamte Tempel zusammenläuft und ist … Der griechische Tempel ist eine Pyramide, deren Spitze wir nicht sehen.»

      In welcher Höhe war die Spitze anzusetzen? Jener ideale Schnittpunkt? Wie weit über den Wolken? Dort, wo die Astro­nauten hingelangen? In der Nähe Gottes? Einige katholische Zeitungen warfen Francesco Chiesa hinterher tatsächlich vor, platonisch, nicht christlich gewesen zu sein. Tu platonicus es, non christianus.

      Der Schweizer Cup ist mehr aristotelisch als platonisch. Das Ausscheidungsturnier, das am Tag nach Christi Auferstehung endet (in der Hauptstadt: auch wenn Bern, da hat Carl Spitteler recht, nicht Wien ist, nicht London, Paris, Madrid oder Rom), ist eine vollkommene Pyramide.

      Den Sockel der Pyramide bilden alle Mannschaften des Lan­des ab der vierten Liga. Id est: Nicht alle dreitausend Ge­meinden des Landes nehmen tatsächlich an dem Wettkampf teil. Bergdörfer müssten, um eine Elfer-Mannschaft zusammenzubekommen, den Pfarrer oder seine Haushälterin ins Tor stellen. Sie haben kein Feld, das als Fußballfeld bezeichnet werden könnte. Man wird dort Kartoffeln pflanzen, später, wenn der große Plan des großen Traugott Wahlen in ­Aktion tritt, in den Jahren, in denen das Land ganz von Achsenmächten umzingelt ist. Aber ernsthafter Fußball ist etwas anderes. Um ein Beispiel zu nennen: Ein Dorf wie ­Ossasco, im Nordtessin, am Südhang des Reduit (in Friedenszeiten Gotthardmassiv), ist eine Mikrosiedlung. Es zählt nur im Kopf einiger Linguisten, die Mikro-Archäologien erforschen, wegen seiner Endung auf asco, die auf ligurischen Ursprung verweist. Ossasco müsste alle alten Männer zwischen sechzig und neunzig mobilisieren, dazu in Nachbar­orten noch Leute ausleihen, inklusive Pfarrer, und eine halbe Mannschaft von Ex-Brasilianern oder so importieren, um seine Fußballelf Dinamo Ossasco aufstellen zu können wie folgt:

      Eliseo

      Djalma Santos Nilton Santos

      Franku ’t Zan Santisteban Gervàs

      Manuel Attilio Ademir Vincenzo Rico

      – Eliseo als Torwart? Ist er denn nicht schon über siebzig? – Der Schreiber O/17360 breitete resigniert die Arme aus: Was konnte er dafür? Als jemand die Bewohner von Ossasco gefragt hat, ob denn im Dorf niemand mehr heirate, haben sie geantwortet: – Na ja, wer weiß? Vielleicht der Eliseo, später mal, später mal: a passàn lè …

      Eliseo auf seiner Eckbank schwieg. Wenn wirklich jemand zu ihm gesagt hätte, er müsse bei Dinamo Ossasco im Tor stehen, General Guisan wünsche es so, hätte er Ja gesagt: zu Befehl!, wie beim Karneval, wenn die Masken kamen und zu ihm sagten: – Spiel uns eine Polka –, dann spielte er die Polka. Die Mundharmonika verschwand beinahe unter seinem Schnauzbart à la Nietzsche. Er spielte ziemlich schlecht, aber trotzdem traten ihm die Tränen in die Augen, denn Polka bedeutete seine Frau als junges Mädchen, die Emilia, Tochter von Carlone, nun war sie tot, hatte aber noch erlebt, wie das «frin-fron», das Grammophon, auch in Ossasco Einzug hielt, sodass sie wochenlang von nichts anderem mehr gesprochen hatte außer davon, und was die Menschen so alles erfinden können.

      Was werden sie am 18. April 1938 in Deutschland erfunden haben, das auf dem Gebiet der Technologie ganz vorne lag? Davon wusste Emilia von Carlone nichts, das Wort Technologie kannte sie nicht. Aber das in Angelos Osteria aufgestellte Grammophon vermittelte eine Vorstellung davon.

      Dinamo Ossasco gibt es also nicht, Eliseo kann weiterhin in Frieden sein Glas trinken. Es spielen nur die ordnungsgemäß beim SFAV, dem Schweizerischen Fußball- und Athletikverband, eingetragenen Mannschaften. Nur sehr selten schafft es eine unbedeutende Mannschaft in den Viertelfinal, aber ausgeschlossen ist es nicht. Wie auch immer, ab dem Zweiunddreißigstelfinal veröffentlichen die Zeitungen die wachsende Pyramide und aktualisieren sie laufend.

      In der gleichen Ausgabe, in der die Rede des österreichischen Innenministers Seyss-Inquart zusammengefasst ist, als er (am 6. März) in Linz die Unabhängigkeit Österreichs proklamiert, oder in der die Rede von Kardinal Innitzer, Erzbischof von Wien, wiedergegeben wird, der (zwei Tage vor den Iden des März) einen Appell an die österreichischen Katho­liken richtete und sie aufrief, Gott zu danken, weil er ihnen gewährt hat, dass die in Österreich erfolgten großen politischen Veränderungen ohne Blutvergießen vonstatten gegangen sind, und um eine glückliche Zukunft für alle zu beten: «Alle Befehle der Behörden müssen guten Willens ausgeführt werden», in der gleichen Ausgabe betonten die Zeitungen unseres Landes die Unternehmungen (l’exploit) kleiner Dorfmannschaften: Tramelan, Nidau, Sementina. Eine Mannschaft aus Einwanderern (der Dopolavoro: Wenn sie gewinnen, weihen sie ihren Sieg dem Bild des Duce in der Casa d’Italia, wenn sie verlieren, scheinen sie ihn um Milde zu bitten) wird hochbefriedigt sein, dass sie es so weit gebracht hat, dem «Spitzenverein» Servette gegenüberzutreten (sie wird 3 zu 0 verlieren), so wie ein Bauer Zeit seines Lebens selig sein wird, für die Wahlen auf die Liste der Partei gesetzt worden zu sein: in alphabetischer Reihenfolge, gleichberechtigt mit dem Rechtsanwalt und dem Industriellen. Aus dem Vergleich mit ihnen wird er natürlich geschlagen hervorgehen, um es mit dem Gemeindediener zu sagen, der für alle Fälle immer einen Knüppel bereithält: geschlagen wie der Dopolavoro von Servette, aber das ist die Demokratie!

      Manchmal gelingt es einer dieser unbedeutenden Mannschaften, auf wundersame Weise in den höheren Teil der Pyramide aufzusteigen, die von Monat zu Monat schlanker wird: Mezzovico gegen Zürich!, bis schließlich auf dem Gipfel jenes Matterhorns, der auf fairer, direkter Ausscheidung fußt, eine einzige Fahne wehen wird. Zwischen März und April wächst die Spannung, natürlich werden Wetten abgeschlossen, bis die zwei Finalisten feststehen, die am 18. April im Wankdorf-Stadion von Bern gegeneinander antreten.

      Wenn eine unbedeutende Mannschaft eine «Spitzenmannschaft» schlägt, ist die öffentliche Meinung zwischen Freude und Schmerz gespalten. Das Ausscheiden der Lieblingsmannschaft wird bedauert, doch kommt bei manchen heimliche Freude darüber auf, dass jedes Mal beim Tod eines Bischofs (und Bischöfe sterben ja bekanntlich nie oder fast nie) David aufs Neue Goliath besiegt. Die Davids der Geschichte: David, Finnland, Sementina … Im Falle Finnlands ist der Gegenspieler Russland, das heißt der Teufel. Und bei Sementina? Sementina ist jeder von uns, vom ersten bis zum letzten Werktag. Auch ein Acquistapace, ein Diotallevi, ein Sperandio, aus Brianza stammend oder in einem geografisch noch südlicher gelegenen Kreis auf der Mutter Erde aufgetaucht und in den Zwanzigerjahren, etwa in Pedrinate, dem südlichsten Dorf der Schweiz, eingebürgert, könnte theoretisch zum Bundesrat gewählt werden, Bundespräsident der Schweiz werden, an die Spitze des Landes aufsteigen, genauso wie ein Schwarzer danach streben kann, Weltmeister zu werden: wie ein Joe Louis, der wohl wissen wird, wie man einem Max Schmeling beibringt, wo die Sonne aufgeht. Theoretisch kann ein Schwarzer auch das Amt des Präsidenten der Vereinigten Staaten anstreben und Othello das des Dogen.

      Und Julius Caesar wusste nur zu genau, dass ein wilder Kampf ums Aufsteigen auch das Leben eines kleinen Bergdorfs in Gang hält.

      1938 sind ordnungsgemäß zwei Mannschaften aufgestiegen, zwei große Familien aus Zürich und aus Genf, die kapriziöse Namen tragen: die Zürcher heißen Grasshoppers, also Grashüpfer, während Servette der Name eines Genfer Stadtviertels ist. Diese beiden Mannschaften liefern das Menschenmaterial für die Nationalmannschaft, Gasshoppers sechs und Servette vier. Der Elfte kommt aus Lugano, aus der Mannschaft, die es bis in den Halbfinal geschafft hat: Er darf die dritte Schweiz vertreten, die italienische Ethnie, denn Einfallsreichtum und Fantasie sind immer nützlich, vor allem im Strafraum (von Lugano wird Amadò zu Grasshoppers gehen, weil Grasshoppers – ein von den Juden der Stadt unterstützter Club, heißt es – dem Spieler eine angemessene und verdiente Belohnung bieten kann, die ausgezeichnete Position – als Mittelstürmer? – bei Firestone). So wird unser Fußball ein vollkommenes antonomastisches Abbild des harmonischen