Название | Walaceks Traum |
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Автор произведения | Giovanni Orelli |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783038551027 |
Doch die Frage ist ganz unwichtig. Von großem Interesse ist hingegen zu versuchen, eine Bedeutung anzubieten (anbieten?) für die Zeichen (aus welcher Tiefe sie kommen), für die Hieroglyphen, die Klee auf das bedruckte Papier der «National-Zeitung» gemalt hat.
Unterdessen hob einer der um den Wirtshaustisch Versammelten vorab die Hand und bat um das Wort.
– Herr Klee! Kann man von Hieroglyphen sprechen, ohne in Häresie zu verfallen?
– Ohne in Häresie zu verfallen!, erwiderte Klee, indem er zweideutig die Augen schloss mit der Gutmütigkeit der Katze, wenn sie sich freut, die gütige Seite ihrer Katzenseele zu zeigen.
Einer, der in der Windfabrik arbeitete (kurz gesagt, er unterrichtete), Herr Professor Glaser, der Einzige in der Runde, der eine Krawatte trug, teilte dagegen die Sorge der Formalisten, die es arbiträr finden, etwas eine Bedeutung geben zu wollen, das keine Bedeutung haben will. Als wollte man eine Tür mit Schulterstößen aufbrechen, wenn es gar nichts zum Aufbrechen gibt. Die Tür steht offen.
Doch Klee beruhigte alle. Das Wort Hieroglyphe ist ein dreifach gesegnetes Wort. Es ist an und für sich schon von Heiligem durchdrungen: von Erinnerung: von Religion, sodass wir ruhig schlafen können.
Über das Paradoxon lachend, schielte er zum Schlummerer hin. Das Problem aber (wie es zur Freude derer, die gern an einem Wirtshaustisch in Gesellschaft trinken, mit fast allen Problemen geschieht) blieb offen.
– Man nehme – nun war der Schreiber O/17360 an der Reihe – man nehme das scheinbar am leichtesten lesbare Zeichen auf Klees Bild: Klees O ist der Buchstabe O, der dreizehnte im italienischen Alphabet: noch eine 13! Oder ist es eine Null, oder genauer gesagt, wenn man so will: Aleph-0 des Mathematikers Georg Cantor?
Könnte Klees großes O nicht eine Antwort sein, eine Herausforderung? An Mondrian? Wer weiß! Die gebogenen Linien, sagt Ranuccio Bianchi Bandinelli richtig – Arthurs Wille hat ihm zu Ostern ein schönes Osterei beschert, er wurde beauftragt, Hitler durch die Uffizien zu führen, als Hitler im Frühjahr 1938, wenige Tage nach dem Schweizer Cupfinal im Wankdorf-Stadion von Bern am 18. April, seinen ruhmreichen iter per Italiam unternahm – die gebogenen Linien, sagt Ranuccio, sind voller individueller Sensibilität, leicht kalligrafisch und auch ein bisschen lasziv. Der Schlummerer hob kurz das linke Augenlid. Wer ihnen folgt, ist verloren. Ein Maler, ein Holländer, ein Abstrakter, flüchtete aus Siena, als er bemerkte, dass ihm auf den Straßen, leibhaftig, Duccios Engel, als Mädchen gekleidet, entgegenkamen: Er fürchtete, sich in ihrem Oval zu verlieren.
Mondrian, der von Spinoza Inspirierte, ganz dessen Ethica ordine geometrico demonstrata verpflichtet, erreichte ab 1931 / 32 die vollkommene Kreuzung der Geraden. Ordnung und Reinheit, das jahrhundertealte «flandrische Leinen». Der platonische Mondrian, der Keusche, der Asket. Der calvinistischste unter den abstrakten Künstlern. Wäre er Philosoph und nicht Maler gewesen, hätte er es wie Origenes machen können, sich blenden, um nicht durch Frauen von seinen Spekulationen abgelenkt zu werden. Durch ihr Oval.
Laszivität der gebogenen Linien. Und Klee war ihretwegen ein verlorener Mann?
Klee lachte herzlich und trank, zu Ehren des Mediterranen im weitesten Sinne, von Siena und den Sieneser Hügeln in der Schweiz, ein gutes halbes Glas Merlot: aus der Kellerei von Mendrisio. Doch was war Klees O?
Auf den ersten Blick ist es durchaus ein O, ein Kreis, aber nicht vollkommen rund, es ist nicht, nein nein nein nein, das O von Giotto; es ist nicht mit dem Zirkel gemacht. Ist es ein O wie ein alter verbogener Ring, ein betrogener Geliebter, der sich an dem auf dem Jahrmarkt geschenkten Liebespfand rächt? Ein verbeulter Rahmen, der auf dem weiten Feld der Abfälle gelandet ist?
Ein O zu interpretieren ist, als wollte man eine Note für Trompete interpretieren, die aus einem Trompetenkonzert, einem Weihnachtsoratorium isoliert in die ländliche Einsamkeit dringt, einem Tuba mirum spargens sonum per deserta regionum entsprungen, einem Strawinsky: und eine wütende Hand dreht dir das Radio ab und sie bleibt da stehen in der Dunkelheit, diese einzelne Note in der Nacht.
In der ganz deutschen Nacht hörte man fortissimo das Tuten einer Hupe, das Frauen, Alte und Kinder im ganzen Häuserblock im Bett auffahren ließ. Die Männer waren in den Kasernen. Sie lagerten auf dem Land (wie es bei einem mondrianesken Ariost heißt)
zu zehnt, zu zwanzigst, zu viert, zu siebt, zu acht.
Niemand (oder doch, durch geheime Koordinaten, Mondrian), niemand protestierte gegen die Schamlosigkeit dieses Hupens, das von dem schwarzen Mercedes kam. Und dann war das Auto schon wieder losgefahren mit extra lautem Knirschen von Nagelreifen auf dem körnigen Asphalt: auf Wiedersehen.
Andernorts auf der berüchtigten Seite 13 der «National-Zeitung», unweit von der Stelle, wo er blitzartig sein O hingeworfen hatte, deutete der entartete Maler Paul Klee so etwas wie ein schüchternes H an, doch vielleicht war es gar kein H; vielleicht war es ein Gestell, wie man es in Turnhallen findet, eine Sprossenwand, an die Turnlehrer – solche, die Tag und Nacht die Trillerpfeife im Mund haben, die von den verstörten Bergbuben Ungeliebten – den aus dem Tal in die Stadt gekommenen Jungen schicken, weil er schon so krumm, plump, vertrottelt daherkommt wie ein Landstreicher, ein Schandfleck, ein Spaghettifresser und schon den schiefen Gang eines Bauern hat; da an der Sprossenwand nageln sie ihn dann fest, damit sich seine verfluchte Wirbelsäule eines mediterranen Bauern etwas aufrichtet, da er nichts mehr von dem Griechentum weiß, das in ihm lebendig sein müsste, aber erloschen ist: Herrgott, er soll lernen, Haltung anzunehmen wie ein kühner Soldat und dir mit stählernen Augen in die Augen zu blicken. Wie die von der Wehrmacht.
Danach: als der Mercedes mit der ungeheuren Hupe weg war, die selbst ein Strawinsky nicht hätte nachahmen können in der Strawinskyschen Absicht, Herren im Frack, violett gewandeten Monsignori und tief dekolletierten, zur Vergewaltigung einladenden schönen Damen im hell erleuchteten Konzertsaal die wohlgeformten Ohren zu zerfetzen: folgte eine lange Stille in der deutschen Nacht. Tief im Herzen der Nacht war sie, diese lange Stille, in der Nacht des zeit-losen Herzens, in der intempesta nox: Wie spät mag es sein? Eins? Zwei? Ist es schon drei, oder vier, so fragt sich, sich im Bett wälzend, doch hätte sie niemals, auch wenn man ihr eine Million Mark dafür gegeben hätte, das Licht angeknipst, eine beliebige Mutter Arthur Schopenhauers des 20. Jahrhunderts, verloren im deutschen Sturm, ohne rettendes Floß, kein Arthur mehr, keine Hilfe weit und breit. Und mit ihr alle die korpulenten, reizlosen Mütter armer Schlucker, die wer weiß wo sind. Im Gefängnis? Beim Verhör? Wo bloß, wo? Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Zugleich denken sie mit unendlicher Wehmut an den Aufschrei, der durch das Radio aus dem Stadion tönte, wenn einer ein Tor geschossen hatte.
Das waren die Friedenstage, und ein Mann konnte, so sagte (gottesfürchtig) seine Frau, den Kopf ans Radio halten und Minute für Minute das Spiel verfolgen.
– Ich weiß nicht, was sie daran finden –, würde sie dann an einem beliebigen Montag beim Wäscheaufhängen (die schöne Wäsche der schönen Friedenstage) zu ihrer Nachbarin sagen, – aber auch meinem Mann gefällt es, irgendetwas muss doch dran sein.
Das sind die Banalitäten, die einem in Kriegszeiten in den Sinn kommen. Jedenfalls füllte der Mann damit in Friedenszeiten seine Sonntagnachmittage aus. Während sie sich im Bett wälzte, konnte eine Johanna Trosiener des 20. Jahrhunderts zu dem hölzernen Engel beten, den sie einmal, bevor sie daherkamen, um die Tage des Friedens zu stören, in Düsseldorf gekauft hatte: ihn bitten, noch viele Fußballspiele zu schicken, jeden Sonntag, mit vollem Stadion, das sich dann ganz langsam leert, während die Straßenbahnen in den Kurven und an den Kreuzungen klingeln und die Männer vom Fußballspiel nach Hause bringen, genau rechtzeitig zum Abendessen. Ja, der Krieg ist Mangel, Abhandenkommen der Fantasie.
Oder war das O von Klee die Eingrenzung eines privilegierten Raums? Die Schaffung eines Theaterraums – das Theater! – des Vergessens und gleichzeitig der Verfügbarkeit für den, der hinschaut? Aber schauen die Besucher des Klee-Museums in Bern denn hin?
Nicht nur der Schlummerer döste. Da rief eine