Finale. Emil Zopfi

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Название Finale
Автор произведения Emil Zopfi
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783857919558



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So war das also. Man hat sich das oft vorgestellt. Ein Freund hatte einmal gesagt: Man stirbt, wie man gelebt hat. Im Tod vollzieht sich das Leben. Da war nun der ganze Schmerz ihres Lebens versammelt in ihrem Körper. Die Krankheit der Mutter, die Asche des melancholischen Vaters, die Gesichter der Männer, die sie geliebt und gehasst hatte. Und die Toten, denen sie begegnete. Die ermordete Frau auf dem Felsband, der Schreiner, in einer Höhle verendet, der alte Bergführer, erstickt in der Lawine. Die Qualen der grossen Berge, der Stürme, der heissen Felsen. Mein Schmerzkörper. Das Wort hatte sie irgendwo gelesen. Nun war er da, nur noch er. Nur noch Schmerz war sie.

      «Du stirbst nicht.» Die deutsche Männerstimme klang sanft, ganz nah an ihrem Gesicht. «So ’nen Quatsch will ich nicht mehr hören! Du reisst dich jetzt zusammen. Bist noch zu jung, um abzutreten.»

      «Und du? Wer bist du?»

      «Herbert. Ich bin Arzt. Hab dir eine Infusion gesteckt. Dein Körper braucht Flüssigkeit. Jetzt schau ich nach deinem Bein. Okay?»

      «Mach, was du willst. Ich …» Ich krepiere, wollte sie sagen, aber das duldete er ja nicht, der deutsche Doktor. Behutsam machte er sich an ihrem Bein zu schaffen, doch bei der leisesten Berührung schrie sie auf. «Hör auf, du tust mir weh!»

      «Schrei nur, das tut gut.»

      «Gemeiner Kerl!»

      Der Deutsche lachte. «Weiter so! Du lebst!»

      Doch sie war erschöpft. Sie fror. Sie schwitzte. Versuchte sich zu erinnern. Finale, ja. Die Kletterwoche. Mit wem? Wer war da nur? Sie mochte nicht mehr denken. Der Schmerz packte sie wieder so heftig und umfassend, dass alle Energie aus ihrem Körper entwich. Es war, als schrumpfe sie zu einem Punkt, der sich wieder ausdehnte, ein heller Klecks im schwarzen Himmel, ein blauschillerndes Gebilde, das sich von ihr ablöste, in die Höhe stieg. Ihr ganzes Leben, zart und zerbrechlich. Flügel wuchsen ihr.

      Dann war da wieder diese Stimme. Herbert, der Folterknecht. «Wir müssen dein Bein strecken. Du hast mehrere Brüche, die Gefahr besteht, dass beim Transport Knochensplitter durchs Gewebe stechen. Es wird wehtun, kurz und heftig, aber dann wird es besser.»

      «Macht, was ihr wollt.»

      Sie biss ihre Zähne zusammen, ihre Zunge war dick geschwollen und brannte, ihr Mund schmeckte nach Blut. Sie spürte Hände auf ihrem Körper, und dann schrie sie nur noch, heulte und versuchte, mit der Faust nach den Typen zu schlagen, die sie quälten. Sie rissen ihr das Bein weg, sie zerrten es aus der Hüfte, sie hieben die Knochen in Stücke. Andrea versuchte sich hochzustemmen, doch ihre Hand knickte ein, als sei sie gar nicht vorhanden. Der Schmerz in ihrem Bein löschte jeden Gedanken in ihrem Kopf. Nur eines wusste sie: Gleich bin ich tot. So ist das also, drüben. Ein schwarzes Meer von Schmerz.

      Und dann diese Stille. Weit weg Stimmen. «Weiter!»

      Sie war kein Mensch mehr, ihre Seele hatte sich gelöst aus ihrem Leib, der Schmetterling auf ihrem Schulterblatt hatte abgehoben, trug sie mit sich davon. Blue Mountain, das Tattoo von der Venice Beach, Los Angeles. Der Schmetterling ihrer wilden Jahre. Ihren Körper schleppten sie da unten auf der Erde dahin. Sie vernahm Rufe, hörte Steine fallen, tief unter sich.

      «Passt auf! Nicht so schnell!»

      «Vorn höher, höher! Lasst sie nicht fallen!»

      «So ist gut, ja.»

      «Und da hinüber, nein, nicht über den Fels, direkt die Rinne hinab.»

      «Haltet euch fest, gleich kommen die Fixseile.»

      Der Schmerz war von ihr gefallen, und der Schmetterling schwebte höher und höher, samtblau mit sanften Flügelschlägen im weissen Licht.

      13

      Andreas Wagen stand auf dem Parkplatz bei der Kirche von Orco. Der Cherokee mit dem Schriftzug rock’n’ice und dem Signet ihrer Kletterschule, der Seiltänzerin zwischen zwei Bergspitzen. Ein gelber Volvo parkte daneben, Schweizer Nummer, die andern Plätze waren leer. Im Tal unter dem Dorf rauschte das Lichterband der Autobahn. Daniel erinnerte sich, dass der Weg den Friedhof entlangführte, dann über eine Anhöhe zur Falesia del Silenzio. Im Spital in Pietra Ligure hatte er die Auskunft bekommen, die Rettung sei noch im Gang.

      Er holte eine Stablampe aus dem Handschuhfach, fand im Kofferraum einen Knirps. Bei seinem hastigen Aufbruch hatte er weder Regenschutz noch feste Schuhe eingepackt. Er ging um Andreas Cherokee herum, alle Türen waren verschlossen. Im Friedhof auf der andern Strassenseite brannten elektrische Lämpchen vor einer Wand mit Grabplatten. Eine schwarz verhüllte Gestalt stand davor und schien zu beten. Daniel folgte dem Schotterweg ohne Licht, auf der Anhöhe trieb ihm der Wind Regentropfen ins Gesicht. Er spannte den Schirm auf, schritt weiter durch die Nacht, atemlos und von Angst getrieben. Was war geschehen? Warum dauerte die Rettung so lange? Er fand keine Erklärung, stolperte über einen Baumstamm, der quer über den Weg lag. Wenn ich mitgefahren wäre, wäre nichts passiert, warf er sich vor. Immer wieder.

      Der Schotterweg führte in eine Senke, ein Pfad zweigte nach rechts ab, zur Falesia, vermutete Daniel. Er knipste die Stablampe an, zwängte sich durchs Gebüsch. Feuchte Zweige schlugen ihm ins Gesicht, bald war er nass bis auf die Haut. Auf der Höhe riss ihm ein Windstoss den Knirps beinahe aus der Hand. Er klappte ihn zu, der Regen hatte nachgelassen. Am Horizont schimmerte ein heller Streifen zwischen dem Meer und tiefliegenden Wolken.

      Der Weg führte in ein Tal hinab, das dunkel und schweigend vor ihm lag. Eine gottverlassene Gegend, für die sich nur Kletterer und andere Verrückte interessierten. Der Pfad wurde wieder schmal, Dornengebüsch zerkratzte ihm die Hände, mit denen er sein Gesicht schützte. Er leuchtete den Boden ab. Da und dort war er aufgewühlt, von Wildschweinen wahrscheinlich. Er hatte den Weg verloren. Vorsichtig arbeitete er sich durchs Dickicht talwärts in der Hoffnung, auf ein Felsband zu stossen. Dem entlang würde er die Falesia erreichen. Das Licht der Lampe begann flackernd nachzulassen, er knipste sie aus. Schritt um Schritt kämpfte er sich weiter, bis er glaubte, die Wildschweine zu riechen. Falls er in einen Einstand mit Jungen geriet, könnte es gefährlich werden. Er versuchte, die Stelle zu umgehen, traf auf Felsabsätze, wagte es jedoch nicht, in der Dunkelheit hinunterzuklettern.

      Durch den Grund des Tals drang das Wimmern einer Sirene herauf. Eine zweite mischte sich dazu, eine dritte. Blaulicht blitzte auf wie fernes Wetterleuchten, spiegelte sich in den nassen Felsen der andern Talseite. Das Ende der Rettung, dachte er. Man bringt Andrea weg, nach Pietra Ligure, Ospedale Santa soundso.

      «Ich muss sofort da hin, die bauen sonst Mist», sagte er laut vor sich hin. Den italienischen Spitälern und Ärzten traute er nicht, er hatte Horrorgeschichten gehört. Sinnlose Operationen, Organdiebstahl, selbst Amputationen, ohne die Patienten zu informieren, kamen vor, um Versicherungsgelder zu kassieren. Vor Kurzem war ein Skandal aufgeflogen, Ärzte und Versicherungsangestellte waren darin verwickelt. Die Mafia. Er musste Andrea herausholen.

      Er folgte einem Felsband, bis zu einer Trockenmauer. Dahinter schien offenes Gelände zu sein. Er kletterte über die Mauer, ein Steinbrocken löste sich unter seinen Füssen, kollerte den Hang hinab. Dann gelangte er in einen Olivenhain, sah hoch über den Terrassen Licht in einem Steinhaus. Als er sich näherte, sprang ihm ein schwarzes Tier in den Weg, duckte sich und knurrte. Er blieb stehen, seine Hand krampfte sich um den Knirps. Das Biest musste sein Herzklopfen hören, seinen Angstschweiss riechen. Er versuchte, einen Stein aufzuheben, doch bei jeder Bewegung fletschte das schwarze Ungeheuer die Zähne, als wolle es ihm gleich an die Kehle.

      «Chi è?» Die Stimme eines alten Mannes. Der Hund sprang auf, lief auf die Gestalt zu, die sich zwischen den Olivenstämmen näherte, Hut auf dem Kopf, eine Flinte unter dem Arm.

      «I missed the way», stammelte Daniel. Der Schock hatte ihm beinahe die Sprache verschlagen.

      Der Alte antwortete in Englisch mit amerikanischem Akzent. Er sei dreissig Jahre Koch in New York gewesen. Man nenne ihn l’Americano. Die Leute meinten, er sei reich. Man habe ihn auch schon überfallen. «Deshalb das Ding hier.» Er strich mit der flachen Hand über den Doppellauf seiner Flinte. Dabei seien die Oliven sein einziger Reichtum, «gli ulivi e il lavoro». Er gab ein glucksendes Lachen von sich, machte eine Kopfbewegung zur