Название | Finale |
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Автор произведения | Emil Zopfi |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783857919558 |
«Ich lauf mal der Wand entlang, bestimmt sind noch andere Kletterer in der Nähe.» Sabine hatte sich gefasst, Volker eilte ihr nach.
Felix holte seine Sturmjacke aus dem Rucksack. «Wir müssen Andrea warm halten.»
Tom half ihm, die Jacke vorsichtig unter ihren Körper zu schieben. Mit Watte und Merfen aus der Apotheke tupften sie ihren zerschundenen Rücken ab, bedeckten ihn mit ihrer Regenhaut und dem Faserpelz. Felix zog ihr den Helm aus, löste den Klettverschluss des Kletterschuhs, streifte ihn vorsichtig von ihrem rechten Fuss, der unversehrt schien. Der linke war blauschwarz unterlaufen, mehrfach gebrochen wohl. Er redete leise auf sie ein. So, wie er manchmal mit seiner Frau sprach, wenn er sich vorstellte, sie sei noch am Leben. Einmal glaubte er, Andrea krümme die Zehen des unverletzten Fusses, gebe ihm ein Zeichen, dass sie ihn höre, dass seine Stimme ihr versunkenes Bewusstsein erreiche. Laut sprach er sie an, und erneut krümmte sie fast unmerklich die Zehen. Die Bewegung liess hoffen, dass ihr Rückenmark nicht oder doch nicht schwer verletzt war. Felix holte ihre Socken aus den Turnschuhen, die sie zum Klettern ausgezogen hatte, streifte sie ihr über die Füsse, zog dann ihren leeren Rucksack darüber. So hatte er es am Eiger gemacht, als er allein auf einer Eisstufe biwakierte, nachdem sein Freund abgestürzt war. Tausend Meter, und da war kein Busch gewesen, der seinen Sturz aufgefangen hätte.
Tom begann am Kletterseil zu zerren, das noch immer in der Wand hing. Er schüttelte es, die Karabiner der Expressschlingen klirrten.
«Es ist verklemmt. Irgendwas stimmt da nicht.»
Stimmen näherten sich, zwei junge Kletterer eilten herbei, fragten auf Italienisch, was geschehen sei. Felix deutete zur Wand. «È caduta.»
«Habt ihr Alarm durchgegeben?»
Felix schüttelte den Kopf. Einer der beiden zog sein Mobiltelefon aus der Tasche, stellte eine Nummer ein, redete schnell, gab Erklärungen in einem lokalen Dialekt, den Felix nicht verstand.
«Die Feuerwehr schickt einen Helikopter von Savona.»
«Die Feuerwehr?»
Der Junge schnitt ein Gesicht. «Hier ist die Feuerwehr für Rettungen zuständig. Mi dispiace.»
«Was heisst das?»
«Das wirst du schon noch sehen.» Der Kletterer deutete mit dem Daumen nach unten.
«Du sprichst gut Italienisch», bemerkte der andere.
«Meine Frau stammte aus der Toscana.»
«Ist sie das da?» Der Kletterer deutete mit der Spitze seines Turnschuhs auf Andrea.
«Nein, das ist unsere Bergführerin.»
«Mamma mia. Wie konnte das passieren? Habt ihr nicht richtig gesichert?»
Felix hob die Schultern.
«Die meisten Unfälle passieren hier beim Sichern.»
Sabine und Volker kehrten zurück in Begleitung von zwei Italienern. Sie gaben ihre Faserpelzjacken her, um die Verletzte zuzudecken. Mehr konnten sie nicht tun, bis der Hubschrauber eintraf.
Nach einer Weile tauchte Tom auf. Er habe Hina gefunden, völlig ausser sich kauere sie am Fuss der Eisenleiter, heule und sei kaum ansprechbar. «Steht unter Schock. Hat wohl zugesehen, wie Andrea gestürzt ist.»
Sabine wollte sich um sie kümmern, nahm Andreas Taschenapotheke mit. Vielleicht brauche Hina ein Beruhigungsmittel. Volker begleitete sie.
«Sie soll eins kiffen», rief ihnen Tom nach. «Das hilft.»
Volker drehte sich um, tippte mit dem Finger an die Schläfe.
«Mein Ernst», gab Tom zurück. «Cannabis beruhigt. Das ist wissenschaftlich erwiesen.»
Vom Meer her schoben sich Wolkenbänke über den Grat jenseits des Tals. Felix schaute auf die Uhr, später Nachmittag, doch es schien schon zu dämmern. Die Kälte nahm zu. In seinem Rucksack fand er Dörrfrüchte, bot den Italienern an. Sie erzählten, drüben an der Rocca di Corno hänge eine Gedenktafel für einen jungen Deutschen. «Dirk Voigt, 1995.» Sein Kollege habe die Sicherung gelöst und ihn fallen lassen, weil er glaubte, Dirk seile sich selber ab von der Umlenkung. Ein fatales Missverständnis. Sie schauten Felix an, als ob sie von ihm eine Erklärung erwarteten. Er kaute eine gedörrte Aprikose und schwieg.
Einige Zeit später drang aus dem Tal das Wimmern von Sirenen herauf.
«Ambulanz und Polizei», bemerkte einer der Italiener. «Ich sause mal hinab.»
«Wo bleibt der Helikopter?»
Die Jungen zuckten die Schultern.
«Subito, haben sie gesagt. Aber was heisst das schon in diesem Land.»
5
Sie schwebt. Hoch über den Wolken der Cerro Torre. Sie spürt ihre Füsse nicht mehr, kalt, kalt, nach Tagen in der Wand aus goldgelbem Fels und sprödem Eis, das auf dem glatten Granitpanzer klebt. Prekärer Weg auf die Spitze der Pagode aus Urgestein. Verrückter Weg, unmöglicher Weg. Mehr Traum als Wirklichkeit. Dreimal versucht, dreimal gescheitert. Sie hatten eine Linie gefunden, Südwand, Seillänge um Seillänge durch Risse, Platten, über Eisbalkone. Über ihnen glimmt der Gipfel, wenn das Licht durchs Gewölk bricht, ein zerbrechlicher Eispilz. Ganz nah scheint er, doch unerreichbar im Sturm. Gescheitert, das Leben umsonst aufs Spiel gesetzt, aufgegeben, kurz vor dem Ziel. Aufgegeben für immer.
Hingestreckt liegt sie und zittert und der Sturmwind wimmert und weint, und fernes Pochen schlägt einen Takt, als steige ein Hubschrauber auf und hole sie aus dieser mörderischen Wand. Ein Schlagen und Klopfen an unsichtbare Türen aus Luft, ihr Herz, gepeitscht vor Angst und Sehnsucht. Ich will leben, leben, leben. Daniel … Stimmen reden in fremden Sprachen auf sie ein, schreien ihr Worte ins Ohr, die sie nicht versteht, Halluzination. Sie greift nach dem Seil, doch da flammt dieser lodernde Schmerz in der Seite auf, im Kreuz, im Bein, ein Höllenfeuer. Der Fuss kalt und leblos. Erfroren. Ist er überhaupt da? Links oder rechts? Warum? Wo bin ich, fragt sie, aber kein Laut dringt aus ihrer Kehle. Keine der fremden Stimmen antwortet. Wo bin ich, wo bin ich? Sie schreit, sie ruft, sie flüstert. Nichts. Eingetrocknet alles, ausgetrocknet, ausgedörrt. Kein Wasser mehr, kein Brennstoff, um Schnee zu schmelzen. Nur dieser unstillbare Durst.
Cerro Torre, Patagonien. Die Zeit tropft. Wie das Wasser von den Eisschwertern über ihnen. Sie liegen im Biwaksack und der Sturm tobt, und sie umklammern sich, um sich zu wärmen. Körper an Körper, eng umschlungen, ineinander verkrallt. Nicht aus Liebe, es ist der verzweifelte Wille, den Lebensfunken warmzuhalten, diese Hölle zu überleben, die Hölle, durch die der Weg in den Himmel führt. Zu Mutter. Hoch oben sitzt sie, auf der Spitze des gleissenden Bergs, auf dem Eispilz, blickt herab und zeigt ihr schneeweisses Lächeln. Weisst du noch, damals, als du gestürzt bist im Garten, auf die Kieselsteine. Dein Knie blutete, du hast geweint. So klein warst du noch, so klein und so tapfer. Ich hab dich aufgehoben, ins Haus getragen, aufs Sofa gelegt, verbunden, hab dich getröstet, geküsst. Ja, so war das. Und dann sind wir zusammen auf Berge gestiegen. Weisst du noch? So hat alles begonnen, und so wird alles enden. Im Mutterschoss.
6
Es dauerte lange, bis der italienische Kletterer zurückkehrte, begleitet von einem Sanitäter in einer orangeroten Jacke und einem Feuerwehrmann in Uniform. Felix sah auf die Uhr, seit mehr als einer Stunde lag Andrea neben dem Weg, reglos und schwer atmend. Die Gesichter der Retter waren erhitzt vor Anstrengung. Der Sanitäter schleppte einen Koffer mit einem Beatmungsgerät. In Halbschuhen hatte er sich vom Tal den Steilhang hochgekämpft, ein miserabler Weg, schimpfte er, Gestrüpp und Geröll, ein Bachbett. Zum Schluss an einem Seil um einen Felssporn herum. «Porca miseria!» Er wischte sich den Schweiss mit einem Tuch von der Stirn. Dann wandte er sich der Verletzten zu, betastete sie, stellte Fragen. «Come va, signorina? Ha dolori?» Andrea drehte ihren Kopf etwas zur Seite, bewegte die Lippen.
«Sie ist bei Bewusstsein», sagte er, «hat Glück gehabt.»
Der Feuerwehrmann trug feste Lederstiefel, die Jacke mit breiten gelben und