Finale. Emil Zopfi

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Название Finale
Автор произведения Emil Zopfi
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783857919558



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      Dann stieg sie vor, eine mittelschwere Route, mit Bohrhaken gut gesichert. Steil erst, dann plattig, zum Schluss ein kleiner Überhang, etwas abgespeckt die Griffe. Sie kletterte routiniert, dabei wanderten ihre Gedanken. Daniel. Seit ihrem Streit vergangene Woche war Schweigen, kein Anruf, keine sms. Auch sie bockte. Ihre Beziehung brauchte Veränderung. Am Stand hängte sie sich die Bandschlinge in den Karabiner an ihrem Gürtel. Sie sah hinab. Felix stand zum Sichern dicht an der Wand, schaute herauf. Ein zuverlässiger Mann. Hina war verschwunden.

      Andrea hob den Daumen. «Stand!»

      Sie zog ein Stück Seil nach, klinkte es mit einem Mastwurf in den Schraubkarabiner, band sich los und fädelte das Seilende durch den Ring der Umlenkung, lehnte sich dabei zurück. Unvermittelt glitt ihr das Seil durch die Finger, sie fasste nach, spürte, wie es über ihren Handballen streifte, sich in die Haut brannte. Dann ist es weg, sie schnappt danach, greift ins Leere. Ihr Herz macht einen Sprung, als habe es Flügel bekommen. Die Wand kippt nach hinten, die Wolkenschlieren am Himmel drehen sich, Baumwipfel purzeln kopfüber bis zum Grund des Tales, und es ist, als gleite sie schwerelos auf sie zu. Ich stürze, ich falle. Wo bleibt der federnde Widerstand des Seils? Schatten von Fels und Gebüsch wirbeln vorbei, gelb und grün und grau. Ein Gedanke zuckt durch ihren Kopf. Nein! Nur nicht jetzt, nur nicht hier! Sie schreit, spürt einen Schlag auf ihr linkes Bein, prallt mit einer Hand auf den Fels, zieht ihren Kopf ein, krümmt sich zusammen, hört ein Zischen und Kratzen und einen dumpfen Aufschlag.

      Ein Bild blitzte auf. Sie sah ihren Körper neben dem Weg liegen, als schwebe sie über ihm. Sie sah sich selber, ohne die Augen zu öffnen. Sekunden nur, dann stürzte sie weiter in die Tiefe, in Dunkelheit und Stille. Sie lag in einem Feuer aus Kälte und Schmerz, ihr Leib brannte.

      4

      Die Müdigkeit hatte Felix für einen kurzen Moment übermannt, als ein kratzendes Geräusch in der Wand seinen Blick nach oben riss. Ein Schatten stürzte auf ihn zu, in einem Reflex duckte er sich. Ein Block ist ausgebrochen, schoss es ihm durch den Kopf. Er hörte einen dumpfen Aufprall, das Klirren von Karabinern, die auf den Fels schlugen. Es war kein Stein, es war ein Körper, der stürzte. Wie eine Stoffpuppe schleuderte ihn der Aufprall von der Wand weg. Felix’ Hände krampften sich ums Seil, er erwartete den Ruck, der seine Haut aufriss, seine Handflächen verbrannte. Doch das Seil blieb schlaff. Der Körper krachte ins Gebüsch dicht neben ihm, Zweige knickten und barsten, Laub regnete herab. Es schien, als bleibe er im Buschwerk hängen, doch dann drehte er sich kopfüber, schlug mit dem Helm auf den Weg. Ein hohler, hässlicher Ton. Dann Stille.

      Felix kauerte am Einstieg, das lose Seil in Händen, das noch immer durch die Karabiner der Expressschlingen die Wand hochzog. Er verstand nicht, was geschehen war. Ein Tier ist vom Grat gestürzt oder ein Wanderer hat sich verirrt und einen Fehltritt gemacht, dachte er. Er schaute hinauf, suchte die Bergführerin, die eben noch an der Umlenkkette hantiert hatte. Dann erst begriff er. Sie war gestürzt.

      Er klinkte den Sicherungskarabiner vom Gürtel, richtete sich langsam auf, sah ihren Körper neben dem Weg liegen. Starrte ihn an, gelähmt vom Schock. Der blaue Helm, das hellbraune T-Shirt, die schwarzen Hosen. «Ich träume», stammelte er, seine Hände begannen zu zittern, immer heftiger. Ich träume, wie damals am Eiger. Ich will träumen, weil das, was ich sehe, nicht wahr sein darf. Die Bergführerin lag auf der Seite, den Kopf auf einem Arm, ein Blutstreifen zog vom Mundwinkel über ihre Wange. Ein Bein angezogen, das andere ausgestreckt, der Fuss seltsam verdreht und nackt. Der Aufprall hatte den Kletterschuh weggerissen. Sie friert, dachte er, ich muss sie wärmen. Sie darf nicht so daliegen, so ungeschützt, so verletzlich. Sonst war sein Kopf leer.

      «Verdammt, was geht hier ab?» Felix fuhr zusammen. Tom stand neben ihm, warf ihm einen Blick zu, als habe er ihn bei einer schlimmen Tat ertappt. Als sei er schuld an Andreas Absturz. Eine Bergführerin stürzt nicht einfach so. Tom kniete nieder, neigte seinen Kopf über ihr Gesicht, lauschte, griff nach ihrem Handgelenk, fühlte den Puls. «Sie atmet, sie lebt. Gott sei Dank.»

      Felix’ Mund war trocken, als er hervorpresste: «Sie ist gestürzt. Ganz plötzlich.»

      «Das gibt’s nicht», schleuderte ihm Tom entgegen, «sie war doch am Seil!»

      Felix sah auf seine Hände. Keine Brandspuren vom Seil, keine Hautabschürfung. «Das gibt’s nicht», wiederholte er tonlos. Es war kein Traum. Andrea lag da, das T-Shirt war über dem Klettergürtel hochgerutscht und zerfetzt, ihr Rücken war zerkratzt und blutete. Der Busch hatte den Sturz gedämpft, sonst wäre sie jetzt tot. Felix sah auf ihrer Schulter einen blauen Schmetterling eintätowiert. Bleib hier, dachte er, flieg nicht weg.

      «Du hast Scheisse gebaut beim Sichern!» Tom schrie.

      Felix biss sich auf die Lippen. Ihm fehlte jede Vorstellung, wie der Unfall geschehen konnte. Andrea war am Seil, er hatte korrekt gesichert, glaubte er. Hatte keinen Ruck, hatte nichts verspürt. Ihm, dem grossen Alpinisten von einst, musste das passieren.

      «Wach auf, Opa!» Tom griff ihn an der Schulter, schüttelte ihn. «Wir müssen was unternehmen. Ein Helikopter muss her, subito. Hast du ein Handy, eine Notfallnummer?»

      «Vielleicht im Kletterführer …»

      «Und wo ist der?»

      «In Andreas Rucksack, denke ich.»

      Tom eilte davon.

      Felix beugte sich über die Verletzte. «Andrea, hörst du mich? Hast du Schmerzen?»

      Sie gab keine Antwort. Ihr Gesicht war leichenblass, mit schweren Atemzügen rang sie nach Luft. «Andrea, wir sind da. Hab keine Angst. Es wird schon wieder.»

      Er ergriff ihre Hand, sie war so kalt, dass ihn schauderte. Tom hatte recht. Sie mussten etwas unternehmen. Aber was? Andrea jedenfalls auf der Seite liegen lassen, nicht bewegen, falls ihr Rücken verletzt war. Bei ihr bleiben, mit ihr reden, sie warmhalten. Vor Jahrzehnten hatte er einen Nothelferkurs besucht, Seitenlagerung und Mund-zu-Mund-Beatmung geübt und Herzmassage. Nun war alles weg, keine Erinnerung mehr, Blackout. Noch immer heftig zitternd, wankte er zu seinem Rucksack, holte sein Mobiltelefon aus der Deckeltasche. Schaltete ein. Es verlangte den Code, doch sein Gedächtnis versagte auch jetzt. Vier Ziffern, von 1111 bis 9999, also 8888 Möglichkeiten. Stimmt das nach dem Gesetz der Permutation? Oder waren es 8889? Das lernte man im ersten Semester am Gymnasium. Jahrzehntelang hatte er Mathematik unterrichtet, er liebte sein Fach, das Spiel mit Zahlen und Zeichen, doch die Schüler begriffen das nicht. Sie hassten Mathematik, und sie hassten ihn, weil er seine Begeisterung nicht weitergeben konnte. Was denke ich für einen Unsinn, ich rechne und überlege und sollte doch etwas tun. Wenn Andrea überleben soll, kommt es auf jede Minute an. Sein Code wollte ihm nicht einfallen. Der brillante Mathematiker scheiterte an vier Ziffern.

      Tom eilte atemlos herbei, hinter ihm die Deutschen. Sabine kniete nieder, strich Andrea Haare aus der Stirn, sprach leise auf sie ein. Dann stand sie auf, Tränen im Gesicht.

      «Hast du die Bergwacht angerufen?», fragte Volker.

      «Am Meer gibt’s keine Bergwacht.»

      «Dummkopf!», schrie Tom. «Es muss eine Rettungsorganisation geben.»

      «Hast du die Nummer gefunden?»

      «Andrea hat die Notnummern bestimmt in ihrem Handy gespeichert.»

      «Und wo ist das?»

      «Keine Ahnung.»

      Tom hatte Andreas Rucksack angehängt, warf ihn auf den Boden, durchwühlte ihn, fand eine Taschenapotheke, aber weder den Kletterführer noch ein Telefon.

      «Der hat ja sein Handy in der Hand.» Volker packte Felix am Ärmel. «Mann, versuch doch den Euronotruf, 112.»

      «Akku leer», murmelte Felix. Er lehnte sich an einen Baum, zermarterte sein Hirn. Tausend mathematische Formeln purzelten durch seinen Kopf, Matritzen, Differentialgleichungen, Eulersche Zahl, Binominalkoeffizienten, nutzloses Schubladenwissen, mit dem er ein Leben lang seine Studenten gequält hatte. Er schlug mit der Stirn gegen den Baumstamm, als ob er seine grauen Zellen wachrütteln könnte. 8889 Möglichkeiten gab es, doch die vier Ziffern des Codes waren aus seinem Gehirn gelöscht.