Название | Settembrini |
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Автор произведения | Leo Tuor |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783857919831 |
Die Geiß steht da mit offenem Maul. Ihre Flanken bewegen sich in raschem Rhythmus. Sie legt sich hin, quält sich, presst, drückt, fünfzehn, zwanzig, dreißig Minuten lang. Mit erhobenem Kopf und aufgesperrtem Maul treibt sie das Kitz aus. Sie, das Tier, ächzt vor Schmerzen. Kaum ist das Neugeborene auf der Erde, erhebt sich die Geiß, wendet sich um mit heraushängender Nachgeburt. Eingehend beriecht sie das Kitz, beleckt und betrachtet es, staunt über das, was sie gemacht hat. Dann versucht sie, dem Kitz mit ihren Vorderläufen und Krucken aufzuhelfen. Nach drei, vier Minuten hebt es seinen Kopf und versucht, auf die Läufe zu kommen. Die Mutter hilft, stößt, stützt. Nach zehn Minuten steht es auf seinen langen, dünnen Läufen, nass und glitschig. Mehrmals knickt es ein. Steht wieder auf, versucht den ersten Bocksprung.
Nach zwanzig Minuten verlassen Geiß und Kitz den verschmierten Setzplatz und steigen in die schützenden Felsen hinauf.
Die Jäger meinten, der Name Settembrini komme von «September». Sie haben nur den September im Kopf, und ein bisschen Moos. Die Jäger wären auch fähig zu behaupten, dass «Mescalero» von mescal, Moos komme. Jäger sind nix im Erklären von Namen. Niemand wusste, woher der Name Settembrini kam. Hätte sich auch von sittar, schießen, oder von brin, braun herleiten können, entweder wegen der dunklen Haut der Zwillinge oder wegen der Eule der Minerva, von der Gion Evangelist Silvester sagte, dass sie ihren Flug erst mit der einbrechenden Dämmerung, enten far brin, beginne. Dem Gion Battesta imponierte der Rabe von Crestliandras mehr als die Eule der Minerva. Der Rabe sei ein Singvogel, der seine Heiserkeit nicht loswerde, die Antwort der Natur auf die romanischen Chöre.
Settembrini hätte auch der Name eines Gewehrs sein können oder eines Zaubers. Er bedeute jedoch nichts. Jedenfalls wecke dieser Name aber die Fantasie. «Was die Fantasie weckt, ist gut. Wegen seiner Fantasie glaubt der Wildhüter nicht, dass Settembrini nur erlaubte Tiere schieße. Das widerspricht meiner Theorie, dass Beamte keine Fantasie hätten.»
Das Stichwort ließ ihn sogleich vom Thema abschweifen. «Am meisten Fantasie haben die Kinder. Darum sind Kinder eine potenzielle Gefahr, und deshalb wird ihnen die Fantasie ausgetrieben – ihnen, die mit dem Tornister und voller Begeisterung in die erste Klasse kommen und angeödet die letzte verlassen.» Zum Thema Schule fiel ihm nicht viel Gutes ein. Die Besten seien die, die wüssten, ohne zu lernen. Er hielt mehr vom Hokuspokus des Weihwassers als von den Weihen der Pädagogik.
Er war ein Heide wie die Sonne.
Settembrini war bald ein Intellektueller, bald ein Handwerker. Je nach Farbe des Halstuchs. Er konnte zwei Dutzend Wörter zu einem ordentlichen Gedicht zusammenfügen, aber auch einen Stoß Bretter zu einem soliden Fußboden. Er konnte Homer interpretieren, aber auch eine Kristallkluft öffnen. Er konnte eine Kristallkluft ausräumen, aber auch Oscar Wilde plündern, wenn dieser über Rousseau sprach: «Die Menschheit wird Rousseau immer dafür lieben, dass er seine Sünden nicht dem Priester, sondern der Welt gebeichtet hat.» Er konnte von seiner Liebe zu den Gemsen sprechen und sie ohne Umstände töten.
Unsere Literatur sollte nicht mit der «Consolaziun» beginnen und mit der «Chrestomathie» enden. Es reiche, wenn die Jagd beim Kanton beginne und bei der Regierung ende.
DREI
III DER ENGEL
Als ich Barlichin zum ersten Mal sah, wusste ich sofort, dass dies der Zweimalgeborene sei, welcher den Erasmus ein Stück weit über den Splügen begleitet hatte. Aber das interessierte ihn nicht. Er lebte jetzt in unserer Zeit. Kam gelegentlich vom Tessin her über den Grat, leichten Fußes, mit nur einem Ohr und schlaffem Rucksack, mit einem schlichten Gewehr und einem armseligen Feldstecher. Ohne Patent. Und ohne Jagdweste. Nur ganz wenige Jäger sind ohne Weste unterwegs. Wenn man sie anschaut, spürt man sofort, dass etwas fehlt. Wie wenn sich einer den Bart abrasiert hat und einen etwas stört. Und erst einen Moment später fällt einem ein, dass der ja einen Bart hatte.
«Hört auf mit euren Jagdwesten», sagte Barlichin. «Das ist etwas für Fröstler.» Er war noch jung. Er sagte: «Je älter man wird und je weniger Haare und Zähne man hat, desto weniger Munition trägt man mit, desto leichter wird man und desto behaglicher fühlt man sich in Hemdsärmeln.» Dem Barlichin guckte das Hemd aus den Hosen, und die Engel trotteten hinter ihm her.
Ihr denkt, es gebe einen Barlichin, so ähnlich wie es vielleicht einen Giachen Hez gibt. Es gibt mehrere Barlichins. Alle sind unisono gegen die Weste, gehen mit dem Peabody auf die Pirsch und kümmern sich einen Deut um den Jagdzirkus. Im übrigen aber sehen sie nur aus wie Barlichins. Ihr Verhalten ist, wenn man sich achtet, jedesmal anders. Sie werden geboren und verschwinden, zwei, vier, sechs, zehn Mal. Nur der Name bleibt.
«Es gibt keinen Ungeeigneteren als mich, um Geschichten zu erzählen», sagt Barlichin, «und wenn ich nicht den Gabriel hätte, der die Kisten, die Bücher, die Meere von Geschichten öffnet, bliebe ich stumm wie die Tiere. Die Geschichten sind nämlich alle dort, so alt wie die Engel, und wenn es keiner erwarten würde, sind sie hier, ganz oder in Splittern. Und dann ist der Engel da, und wenn sein Glanz dich packt, dann verpasst du die Geschichten. Und wenn du die Geschichten packst, flattert der Engel davon.»
«Du musst dich entscheiden, für den Engel oder für die Geschichten», sagte Barlichin, zog glückselig an einer kurzen Pfeife und fuhr ganz ohne Zusammenhang mit dem eben Gesagten fort: «Der Splitter kommt vom Stein, der Nebel kommt aus der Erde, die Geschichten und die Gemsen aber kommen aus dem Nichts. Je länger du schaust, desto mehr siehst du. Wie die Sterne am Himmel.»
Der Ansitz, der als «Posten des Engels» bekannt ist, ist ein magischer Ort hinter einem Strauch, wo jeder Jäger einmal während der Jagd auf der Lauer liegt. Das reicht ihm dann für die ganzen drei Wochen. Gegenüber ragen die Schründe der Ruinas hoch in den Himmel. Dauernd rumpelt dort Geröll zu Tal, ohne dass der Berg deswegen kleiner würde. Auf dem Posten des Engels verzehrt man seine Wurst und starrt in die Ruinas hinüber. Oder man verschießt seine ganze Munition. Oder man erlegt kapitale Tiere, zwei oder drei oder noch mehr aufs Mal. Das ist nichts für Barlichin. Er mag nicht mehr als ein, zwei Tiere töten während der ganzen Jagd, von so vielen aufs Mal ganz zu schweigen. Also kaut er hier sein Brot im Dunkeln und spiegelt bei Tagesanbruch das ganze Tal ab. Die Morgendämmerung hat an diesem Ort etwas Wundersames. Was soll man hier auf Geweihe spekulieren, die vielleicht nie aus dem Wald auftauchen, während das Tal erwacht? «Ich kann am Morgen nicht töten. Es braucht Enthusiasmus, um vor Sonnenaufgang zu töten. Die meisten Jäger schwärmen vom ‹Tod im Morgengrauen›. Mich dünkt, es reiche, am Mittag zu töten, mit der Sonne im Gesicht.»
Auf dem Posten des Engels hinter dem Strauch riecht es im Gras nach Blut und in der Luft nach Schießpulver. Dauernd trittst du auf Patronenhülsen und Wursthäute. Auf dem Blattwerk der Alpenrosen findest du Brosamen und kleine Fetzchen Silberpapier, und unter die Steine hat man Sardinenbüchsen und Klopapier gestopft. Der Jäger ist ein fleißiger Büchsenöffner und kehrt Steine um. Das störte Barlichin an diesem Posten, der für ihn ein Posten der Morgenröte war. Die andern störte es, dass er hier nie etwas schoss. Das machte ihnen schrecklich zu schaffen.
«Engel sind scheue Apostel», sprach Barlichin, zog schmatzend an seiner Pfeife, drückte mit schwarzem Finger den Tabak fest, mp mp, und fuhr in seiner Rede fort. «Engel pflegen sich dauernd zu unterschätzen, habe ich festgestellt. Sie denken immer, dass wir ihnen überlegen seien, dass wir Menschen sie dirigieren würden. Sie meinen, sie seien fast so etwas wie unsere Sklaven. Wir wissen zum Glück nicht um die Schwächen der Engel, sonst hätten wir sie unseren Zwecken unterworfen, so wie wir die Frauen unterworfen haben, die sich schon längst aus unserer Herrschaft befreit hätten, wenn sie um ihre Stärke wüssten.
Wir meinen, dass es Engel gäbe, wie es Marien gibt – Maria Verkündigung, Maria Empfängnis, Maria zum Schnee, Maria Himmelfahrt, Maria Lichtmess, Maria Licht, Maria Laach, Maria Einsiedeln, Mariazell, Mariastein, Maria Diesunddas – eine ganze Apothekersystematik. Es gibt bloß ein Wirrwarr von Engeln. Kommt hinzu, dass der einzelne Engel sich verwandeln kann. Aus einem Engel Gabriel kann ein Grußengel, Schutzengel, Todesengel, Paradiesvertreibungsengel oder der Würgeengel Asrael werden, je nach Bedarf und Einsatzort.