Fünf Jahreszeiten. Meral Kureyshi

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Название Fünf Jahreszeiten
Автор произведения Meral Kureyshi
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783038552130



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der Junkernbar sitzt Paul an einem runden Tisch neben einem großen Glas Bier und liest in einer Zeitung. Seine Stoffhose ist etwas zu weit, die Hosenträger über dem ­weißen Hemd. Seine Weste hat ein Loch am Ellbogen, die Lederschuhe glänzen. Seine weißen Haare versteckt er unter einem Filzhut. Die weiteren Tische stehen leer, der Kellner poliert die Gläser, er wirft das Handtuch über seine Schulter, während er mit Paul spricht, der sich über die Bar lehnt. Paul schaut aus dem Fenster. Er nimmt einen Schluck von seinem Bier, danach wischt er sich mit dem Handrücken den Schaum vom Mund.

      Er lächelt, als er mich in den Lauben entdeckt, und winkt hinter der Scheibe. Ich habe keine Lust auf eine Diskussion, doch ich möchte nicht unhöflich sein und betrete die Bar, setze mich zu Paul, bestelle einen Kräutertee, in der Hoffnung, müde zu werden. Paul bestellt noch ein großes Bier und legt seinen Filzhut auf den Tisch.

      Manchmal verschluckt mich die Nacht. Meistens rettet Paul mich aus der Stille und lässt mich für einen Moment vergessen.

      Eine Maus kriecht unter dem Tisch durch, sucht nach Resten des Tages, ich ziehe meine Beine hoch.

      In den Bergen riss ein Wolf zwei Schafe, dazu eine Ziege. Nun wollen die Bewohner eine Abschussbewilligung, den Tod des Wolfes. Paul lacht laut mit der Zeitung in seinen Händen. Er legt sie auf den Tisch, ein Foto zeigt einen Wolf in einem Wald.

      Aber damit will ich Sie nicht langweilen, bitte entschuldigen Sie, sagt Paul.

      Ich verschütte heißen Tee über meinen grauen Pullover, der so viele Löcher hat, dass der Versuch, ihn zu flicken, sinnlos wäre. Das passiert oft, sage ich zu Paul, ich glaube, mein Mund ist nicht richtig geformt.

      Paul greift nach einer Postkarte, die zwischen den Zeitungen liegt. Die dritte Version der Toteninsel, habe er in der Alten Nationalgalerie gesehen. Sie tauche nebenbei in ­bedeutenden Werken auf, so viel sei über sie geschrieben und gesagt worden, dass ihm die Worte fehlen würden, etwas Neues zu denken. In jeder Version stehen die Spitzen der Zypressen anders, der Wind weht anders. In einem Museumsshop habe man Schirme mit einem Aufdruck davon kaufen können, Paul schüttelt den Kopf, während er einen großen Schluck nimmt.

      Man fürchtet sich vor der Schönheit, will auf keinen Fall trivial sein oder gar sentimental, sage ich.

      Paul verschluckt sich, er hustet laut.

      Da will wer widersprechen, sagt er lachend, ich glaube sogar zu wissen wer, Sie erinnern mich an meine verstorbene Freundin, sie widersprach mir immer, auch wenn sie derselben Meinung war.

      Das würde Manuel unterzeichnen, er wirft mir vor, aus Trotz immer die Gegenposition einzunehmen.

      Was haben Sie gesagt?, fragt Paul.

      Dass man sich vor der Schönheit fürchtet, sage ich.

      Ach ja, das ist gut, dass man sich vor der Schönheit fürchtet, denn die kann gewaltig sein, sagt Paul.

      Die ganze Welt steht in Flammen, nur sie könnte ihn retten, erklingt aus den Boxen. Der weiße Plattenboden ist nass geworden und der Ledersessel auch. Kopien von bekannten Künstlern hängen an den gelb gestrichenen Wänden, nicht wie im Museum. Die Zeichnung einer nackten Frau klebt schräg in einem schwarzen Rahmen, der nicht passt.

      Die Musik erlaubt mehr Kitsch, sage ich, Paul lacht laut.

      Allerdings, sagt er.

      Wenn Paul ein Tier wäre, dann wäre er eine Maus, vor allem, wenn er lacht.

      Im Eingangsbereich des Museums steht jede Woche eine neue Blumenkombination. Jetzt sind da Äste, die gelbe Mascarabürsten tragen.

      Ich streife mit dem Zeigefinger darüber, er leuchtet gelb, und tusche meine Wimpern mit den weichen Bürsten der Pflanze, kneife dabei die Augen auf und zu.

      Tränen rollen über mein Gesicht, ich kann nicht zur Toi­lette, muss beim Eingang stehen bleiben, mit einem Zähler in der linken, einem Notruftelefon in der rechten Hand, bis Nikola kommt, um mich abzulösen. Die Augen brennen stark.

      Nikola übernimmt den Zähler in die linke Hand, das Notruftelefon in die rechte.

      Alles wird gut, sagt er, was hast du wieder gemacht?, und ich steige, ohne zu antworten, die Treppen hinunter zu den Toiletten, wasche mir das Gesicht so lange, bis Haare, Pull­over, Hose und Schuhe nass geworden sind. Auch die weiße Ablage ist nass geworden.

      Ich sehe aus wie Vadas bester Freund Thomas J., der stirbt, als er von den Bienen gestochen wird auf der Suche nach ihrem Ring, den sie im Wald verloren hat, sage ich.

      Nikola schüttelt seinen Kopf, nein, sagt er, Thomas J. ist zu süß, das ist kein guter Vergleich, außerdem stirbst du nicht daran.

      Als ich mir diesen Film mit Manuel anschaute, sagte er mit Tränen in den Augen, dass er berührend und traurig sei, die Kinder würden beeindruckend spielen, aber gut sei der Film deswegen noch lange nicht.

      Meine Mittagspause verbringe ich in der Notaufnahme. Hier hatte Baba plötzlich aufgehört zu atmen, seine Hand wurde kalt in der meinen. Das Zimmer im Krankenhaus war hell beleuchtet, und draußen wurde es immer dunkler. Onkel Edo überredete mich, ins Zimmer zurückzugehen, um mich von Baba zu verabschieden, zuerst wollte ich das nicht, ich wollte ihn so nicht sehen, erkannte ihn nicht im grellen Licht.

      Wo ist Baba?, schrie ich Anne an, sie sagte nichts, niemand sagte etwas. Wo war sein Lachen? Wo sein Ausdruck? Seine zwei kleinen Falten zwischen den Augen waren verschwunden. Ich lief, so schnell ich konnte, aus dem Zimmer, vor dem Krankenhaus setzte ich mich an die frische Luft. Es war der erste September, Baba sechsundvierzig Jahre alt und seine Haare schwarz, er sollte sterben, bevor sie grau wurden.

      Beim ersten Mal, als ich Baba nicht erkannt habe, war ich ein Kind gewesen. Bei der Arbeit hatte er sich Verbrennungen dritten Grades zugezogen, er war an einem Strommast hochgeklettert und wollte die Leitungen reparieren.

      Als er wieder zu sich kam und wir ihn im Krankenhaus besuchten, erkannte ich ihn nicht. Ich schrie und weinte. Ich bin hier, sagte Baba, ich bin hier, hab keine Angst, meine Haare werden wieder nachwachsen. Jeden Abend strich Anne ihm Schweinefett auf die verbrannte Haut und wickelte seinen Körper ein. Der strenge Geruch liegt mir wieder auf der Zunge.

      Ich weiß nicht mehr, welches Wetter damals war oder welche Jahreszeit. Ich weiß nur, dass Baba nicht mehr antwortete. Er lag auf dem Rücken, sein Brustkorb bewegte sich nicht, auch unter seinen Augenlidern. Irgendwann schwieg er für immer, und seine Stimme verschwand mehr und mehr aus meinem Ohr.

      Manuel trifft ein, als Anne anruft, sie richtet herzliche ­Grüße aus von Leuten, die mir fremd sind.

      Es gehe mir gut, Manuel sei da, ich müsse jetzt auflegen, sage ich.

      Manuel fragt, ob ich Schmerzen habe, und wischt die Tränen von meiner Wange.

      Nein, sage ich.

      Als würdest du eine erfundene Sprache sprechen, so klingt es für mich, wenn du mit deiner Mutter sprichst, sagt Manuel.

      Er packt ein Buch aus seiner Tasche, der Bus kommt in zwei Minuten, und es nervt mich, dass er jetzt zu lesen an­­fangen muss. Er steigt lesend ein, liest stehend weiter, liest beim Aussteigen. Er merkt gar nicht, dass ich auf der Straße stehen bleibe, erst nach ein paar Schritten dreht er sich um und ruft nach mir.

      Ich bin kein Hund, sage ich.

      Die Lichterketten werden entfernt, die Sterne in Kisten verpackt. Der Ausverkauf beginnt in den Läden, die Menschen stürzen sich auf die Schnäppchen in den Wühl­kisten. Das alte Karussell wird zerlegt, der Glühweinstand verschwindet wie die Straßenmusiker. Der Schnee schmilzt in die Straßenabläufe, und die Fahrräder rosten langsam in der Kälte vor sich hin.

      Es wird still, so still, dass ich zu summen anfange auf der Straße.

      Green Grass, sagt Manuel und fängt an zu singen.

      Als Adam unerwartet anruft und ich ihn wegdrücke, schaut Manuel skeptisch auf mein Telefon.

      Du hast mir versprochen, sagt er, dass du ihn nicht mehr triffst, dann läuft er wütend davon.