Название | Reportagen 1+2 |
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Автор произведения | Niklaus Meienberg |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783038551591 |
Man hat ein bisschen übersehen, dass die bedeutenden Historiker immer auch brillante Stilisten waren, Toynbee, Mommsen, Michelet, und dass sie eine politische Massenwirkung hatten. Das waren keineswegs «unvoreingenommene» (Bonjour) Wissenschaftler, sondern tendenziöse Kämpfernaturen, welche von ihrer Leidenschaft aufgefressen wurden. Sie würden heute, weil sie Massenwirkung anstrebten, eine Geschichtsschreibung auch durch Film und Radio versuchen, welche laut Bonjour «heikel» ist. Heikel, jawohl! Man kommt nämlich unter die Leute damit und muss sich der öffentlichen Debatte stellen, es gibt ein «Feedback» und vielleicht auch einen Streit. Historisch exakt kann man trotzdem sein, man muss es sogar ganz besonders. Was öffentlich von vielen kontrolliert werden kann, ist zu einer grösseren Exaktheit gezwungen, muss härter und umfassender recherchiert sein als die heimlichen Seminararbeiten im Spezialistenghetto.
Eine solche Geschichtsschreibung, ob durch Buch, Radio oder Film, kann nicht auf mündliche Quellen verzichten, welche Bonjour «problematisch» findet. (Sind es die lückenhaften, manipulierten, zum Teil gesperrten schriftlichen Quellen etwa nicht auch?) Wer nämlich Sozialgeschichte erhellen will, der hat mit anderen Leuten zu tun, als ein Historiker der Aussenpolitik, welcher bei abgebrüht-routinierten Diplomaten und Politikern seine Auskünfte holt, die je nach politischer Konjunktur verschieden tönen können.
Wenn man also bei der Erforschung der Biographie von Ernst S. sich nur auf schriftliche Quellen stützen wollte, hätte man zum Beispiel nie erfahren, dass Oberst Birenstihl seine Offiziers-Freunde zur Hinrichtung eingeladen hat, um sie zu unterhalten. Diese Einladung war nämlich reglementswidrig und hat offenbar keine Spuren in den Akten hinterlassen, jedoch präzise Erinnerungen im Kopf von beteiligten Offizieren, die allesamt schockiert waren und von denen keiner ein Interesse hatte, die Armee schlechter zu machen, als sie ist: alles Leute, welche die Hinrichtung des Ernst S. «sonst» ganz in Ordnung fanden. Wenn nun mehrere mündliche Zeugnisse aus solch unverdächtigen Quellen übereinstimmen, so darf man das betreffende Faktum wohl als erhärtet betrachten.
Auch der Soldat Lamprecht, welcher vor unserer Kamera sich erinnert und diese Erinnerung aufarbeitet; der am Tatort Auskunft gibt über das Ereignis und ausserdem kein politisches Interesse am Frisieren von Tatsachen hat (er ist kein Prominenter, kein Politiker, der seine Worte abwägen muss): Die Erschiessung hat sich seinem Gedächtnis eingebrannt, lag dann tiefgekühlt jahrzehntelang auf dem Grund seiner Erinnerung und taut jetzt vor der Kamera auf: Sie ist frisch und präzis, sie hat ihn geprägt. Sie lässt sich ausserdem kontrollieren und vergleichen mit anderen mündlichen Zeugnissen. Von den Eindrücken der Soldaten steht nichts in den Akten, denn über die Akten verfügen Offiziere, nicht Soldaten. Die Schrift-Gelehrten beherrschen das Schriftliche, und ein Historiker, der die schriftlichen Quellen fetischisiert (was man von Bonjour nicht sagen kann) und zur einzigen Auskunft erhebt, schreibt bald automatisch eine Geschichte der Herrschenden, und die wird bei uns im Handkehrum zur herrschenden Geschichte (auch «objektive Geschichte» genannt).
Ein weiteres Beispiel, um bei Ernst S. zu bleiben: Im Bericht des Psychiaters Hans-Oscar Pfister heisst es von der Familie S., sie habe «einen Hang zum Vagantentum» gezeigt. Die Geschwister des Hingerichteten wechselten nämlich alle paar Monate die Stelle. Diese Tatsache ist in den Akten unbestritten. Wenn man sich nun auf die Socken macht und mit den überlebenden Brüdern spricht, so bestätigt sich auch mündlich, dass tatsächlich ein häufiger Stellenwechsel vorkam. Aber man erfährt dann auch, weshalb: In den dreissiger Jahren konnte manche Fabrik nur Saisonarbeit offerieren, und die Geschwister S. mussten die Stelle wechseln. Von psychologisch motiviertem «Vagantentum» keine Rede.
Was die Arbeitsbedingungen in jenen Fabriken betrifft, so steht zum Beispiel in keinem Jahresbericht der Färberei Sitterthal, wieviel die Arbeiter verdienten, in welchen Verhältnissen punkto Hygiene sie gehalten wurden; kein Wort auch über die Unterdrückung der Gewerkschaften. All das ist nur aus mündlichen Zeugnissen erfahrbar. Und man kann sich darauf verlassen, dass die meisten Arbeiter die Hungerlöhne auf den Rappen genau im Gedächtnis behalten haben. (Wogegen die Direktoren davon, wie zufällig, nichts mehr wissen.)
Die Geschichtsschreibung mittels mündlicher Quellen ist also durchaus «problematisch», aber in einem andern Sinn, als Bonjour meint: nicht deshalb, weil sie unpräzise wäre (das sind im Gegenteil oft die Dokumente, welche einen riesigen Teil der Wirklichkeit unterschlagen), sondern weil sie ein neues Geschichtsbild entwirft und das alte relativiert. Problematisch für wen? Geschichte des Volkes, vom Volk selbst verfasst, das ohne Hemmungen frisch von der Leber weg erzählt, kann recht problematisch werden für alle Arten von Machthabern.
Der Intellektuelle hat bei dieser «Schreibung» nicht mehr die Funktion des allmächtigen, einsamen Interpreten und Schreibtisch-Strategen, er spürt nur die Leute auf, die sich genau erinnern, und überlässt ihnen das Wort. Er ist eine Art von Mikrophon, funktioniert vor allem als Zuhörer, wie der Psycho-Analytiker. Durch geduldiges Zuhören bringt er die widerborstige Wahrheit an den Tag. Natürlich montiert er die verstreuten Aussagen schlussendlich zu einem Ganzen. Aber wenn diese subjektive Montage im Widerspruch steht zur Grundströmung der objektiv geäusserten Meinungen, dann blamiert er sich selbst vor dem Leser (oder Zuschauer).
Übrigens sei natürlich nichts gegen die Verwendung von schriftlichen Quellen gesagt: Sie dürfen nur keine Exklusivität beanspruchen, sollen in einem dialektischen Verhältnis zu den mündlichen Zeugnissen stehen.
«Ein tendenziöser Film braucht keineswegs ein schlechter Film zu sein.» Ich finde es – wenn ich an die Reaktion bürgerlich-konservativer Kreise denke – sehr bemerkenswert, wenn ein Historiker vom Rang Bonjours eine solche Feststellung macht. Bemerkenswert ist allerdings auch das hier deutlich werdende Verständnis von «Tendenz». Jeder Historiker – auch einer, der das Volk reden lässt – hat bekanntlich eine Welt-Anschauung, eine politische Farbe, welche abfärbt auf seine Produktion, eine Tendenz. Aber die Produktion kann umgekehrt auch die politische Farbe verändern. Ich kenne einen bürgerlichen Zeitgeschichtler im Bundesarchiv von Bern, Spezialist für die Beziehungen zwischen Deutschland und der Schweiz, der mir kürzlich sagte: Bei der Entdeckung von gewissen Dokumenten, die eine schlimme Nazifreundlichkeit unserer einheimischen Wirtschaftsführer verraten, sei es ihm oft kalt den Rücken heruntergelaufen und der Gedanke an das Schicksal der Schweiz, das zum Teil in den Händen dieser problematischen Leute gelegen habe, könne einen schon tüchtig radikalisieren.
Ich habe meine Meinung ebenfalls durch Faktenzwang revidiert und eine Entwicklung durchgemacht im Laufe der Recherchen über Ernst S. Eine gewisse Radikalisierung war nicht aufzuhalten, wenn man das haarsträubende Gutachten des Psychiaters Hans-Oscar Pfister durchgeblättert hat und mit den Geschwistern des Erschossenen viel und gründlich diskutierte. Ich habe dann dank dieser Tendenz, die von Fakten geschaffen wurde, wieder neue tendenziöse Fakten gefunden, das Verhalten des nazifreundlichen Industriellen Mettler zum Beispiel.
Bonjour hat ebenfalls eine Tendenz, er tendiert unter anderem auf eine, wenn auch gemässigte, Armee-Gläubigkeit. Wenn er zum Beispiel schreibt: «Korpskommandant Wille war durch unzweifelhafte Meriten als militärischer Erzieher zu sehr mit der Schweiz verbunden, als dass man in seiner Handlungsweise landesverräterische Motive sehen dürfte», dann liegt seinem Gedankengang eine deutliche Tendenz zugrunde: a) die Armee ist in jedem Fall ein Teil des Volksganzen und handelt im Interesse der Nation, b) Wille hat für die Ausbildung dieser Armee in der Zwischenkriegszeit viel geleistet, c) also kann er keine Handlungen begehen, welche das Land sabotieren und eventuell landesverräterisch sind. (Es kann nicht sein, was nicht sein darf.)
Man mag jedoch in guten Treuen über diese Armee tendenziell auch anders denken: die Büezer, welche den unsäglich preussischen Drill im Militär erdulden mussten, werden Oberstkorpskommandant Wille kaum einen «Soldatenerzieher» genannt, sondern vermutlich einen wüsten, eventuell juristisch fassbaren Ausdruck