Reportagen 1+2. Niklaus Meienberg

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Название Reportagen 1+2
Автор произведения Niklaus Meienberg
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783038551591



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Ordnung des ‹Wissens›, des ‹Bewusstseins›, des ‹Diskurses›.» Das geschieht in Frankreich (und vielleicht auch anderswo) immer dann, wenn die Gefangenen ihre Wärter einschliessen und auf die Dächer steigen. Dann gibt es jeweils Reformen, die es vorher trotz allen Eingaben, Petitionen und Resolutionen nicht gegeben hat.

      Was macht die Lektüre von «Surveiller et punir» so spannend? Dieser Stil, der gefangennimmt und zugleich befreit, bald warm und bald kalt, präzis und expressiv? Das ist Literatur, Wissenschaft, Pamphlet, Vergangenheitsreportage, Historiographie in einem. Der Stil kommt vom Inhalt, und den hat der Historiker Foucault zu einem guten Teil aus Dokumenten oder fast verschollenen Büchern gepflückt: Archivarbeit bringt sinnliche Sprache und hohe Anschaulichkeit, wenn sie einer praktiziert, der den lebendigen Kontakt mit Gefangenen hat. Der Klappentext, von Foucault geschrieben, lautet:

      «Vielleicht schämen wir uns heute unserer Gefängnisse. Das 19. Jahrhundert war im Gegenteil stolz auf diese Festungen, die es am Rand und manchmal im Herzen der Städte erbaute. Es begeisterte sich an dieser neuen Milde, welche die Schafotte ersetzte. Das 19. Jahrhundert war beglückt, weil jetzt nicht mehr die Körper bestraft, sondern die Seelen korrigiert wurden. Diese Mauern, diese Riegel, diese Zellen versinnbildlichen ein Unternehmen der sozialen Orthopädie.

      Wer stiehlt, wird eingekerkert; wer vergewaltigt, wird eingekerkert; wer tötet, ebenfalls. Woher kommt diese seltsame Praxis und das eigenartige Projekt: Einschliessung zwecks Erziehung, welches die Strafgesetzbücher der Neuzeit in sich tragen? Ein altes Überbleibsel der mittelalterlichen Verliesse? Eher eine neue Technologie: Die Vervollkommnung, vom 16. bis ins 19. Jahrhundert, eines ganzen Arsenals von Prozeduren, mit denen man die Individuen überwachen, kontrollieren, messen, dressieren, sie zugleich gefügig und nützlich machen kann.

      Überwachung, Übungen, Manöver, Noten, Ranglisten, Klassierungen, Examen, Registrierungen – eine ganz bestimmte Art der körperlichen Unterwerfung, eine Beherrschung der menschlichen Vielfältigkeiten und eine Manipulation ihrer Kräfte hat sich im Laufe des klassischen Zeitalters in den Spitälern, in der Armee, in den Schulen, Internaten und Manufakturen entwickelt: die Disziplin. Das 18. Jahrhundert hat ohne Zweifel die Freiheiten erfunden; aber es hat ihnen ein tiefes und solides Fundament gegeben – die disziplinäre Gesellschaft, zu der wir immer noch gehören. Das Gefängnis muss man wieder innerhalb der Entstehung dieser Überwachungsgesellschaft sehen. (…)»

      Eine «ganz bestimmte Art der körperlichen Unterwerfung»? Das Kennzeichen der neuzeitlichen Zucht, sagt Foucault, besteht in der Unterwerfung der Körper, in der körperlichen Dressur, ohne dass die Körper von den Zuchtmeistern berührt oder gar beschädigt werden. Die Körper müssen ganz bestimmte Verrichtungen lernen, um rentabel zu sein, und weil der Körper ein Produktionsmittel geworden ist, wird er jetzt nicht mehr gezwackt und verstümmelt wie auf den Folterstätten des Mittelalters, sondern abgerichtet und dressiert. Via körperliche Dressur wird eine Fügsamkeit der Seele bewirkt, und die gefügige Seele wiederum macht auf die Länge sogar jede körperliche Dressur überflüssig.

      Die Todesstrafe an sich betrachtet Foucault in diesem Zusammenhang als atypisch in der modernen Gesellschaft, ihre zivilisierte Form jedoch als typisch: während bis etwa zur Französischen Revolution die Hinrichtung oft eine Steigerung der vorgängigen Folterung war und den Höhepunkt der körperlichen Vernichtung darstellte (welche etappenweise vor sich ging), worauf dann eventuell noch die Verbrennung des toten Delinquenten und die Zerstreuung seiner Asche in die vier Winde folgte, ist die Todesstrafe seit dem 19. Jahrhundert in den industrialisierten Gesellschaften ein schneller, relativ schmerzloser Akt geworden: der Körper des Exekutanden wird bis zum letzten Moment und sofort nach dem letzten Moment respektiert, und die Exekution selbst ist ein möglichst kurzer Schnitt (wie bei der Guillotine) oder ein rascher Sturz (wie beim modernen Galgen). Der Körper des 1757 hingerichteten Mörders Damiens hingegen wurde noch langsam, festlich, öffentlich und grausam getötet: vier Pferde, eines pro Bein und Arm, rissen ihn auseinander, bis er zerrissen war, die Henkersknechte mussten mit Beilen und Messern noch etwas nachhelfen und die Gliedmassen anschneiden, welche nicht ohne weiteres nachgeben wollten – Foucault beschreibt's auf beinahe lustvolle Weise, d.h., er zitiert einen Augenzeugenbericht. Der Körper des Untertans gehörte im Ancien régime seinem König, und dieser konnte darüber verfügen, öffentlich: deshalb die eklatanten Hinrichtungsaufführungen vor dem ganzen Volk, ein blutiges Fest, welches die Gesellschaft für den ihr zugefügten Schaden entschädigte. Foucault nennt das «l'éclat des supplices», Glanz der Hinrichtungen.

      Moderne Hinrichtungen passieren hingegen in aller Heimlichkeit, zur Stunde des Milchmanns in der Umfriedung von Gefängnissen oder abgelegenen Wäldern, im Beisein eines genau reglementierten und hierarchisierten Personenkreises, und gar nicht festlich, sondern amtlich-korrekt-reglementär. Man will dem Delinquenten nicht weh tun, man will ihm nur ganz schnell das Leben entziehen – eine Steigerung des Freiheitsentzugs. Der Körper des industrialisierten Menschen gehört dem Gesetz, ist etwas Abstraktes geworden. In ähnlicher Weise wird auch mit weniger gefährlichen Delinquenten verfahren: ihre Körper werden heute abstrakt durch ein Reglement verwaltet, in aller Heimlichkeit in Zellen eingeschlossen, abgesondert vom Volk, und nicht mehr öffentlich-konkret an den Pranger gestellt wie im Mittelalter. Der «éclat des supplices», die ins Auge springende Bestrafung des Mittelalters, wird ersetzt von totalen und nüchternen Einrichtungen der Neuzeit, «des institutions complètes et austères», wie eine Kapitelüberschrift lautet.

      Surveiller et punir, überwachen und bestrafen, möglichst viel überwachen, damit möglichst wenig bestraft werden muss, Ökonomie der Mittel in der politischen Vereinnahmung der Körper, im «investissement politique des corps». Die «Ecole Militaire» in Paris, diese pädagogische Maschine zur Erziehung der Offiziersaspiranten, war so strukturiert:

      «Es mussten kräftige Körper, gehorsame Militärmenschen, kompetente Offiziere produziert und dabei (in dieser Männergesellschaft) die Homosexualität und das Laster vermieden werden. Also ein vierfacher Grund, um abgedichtete Trennwände zwischen den Individuen zu errichten, aber auch ein Grund, zwecks Überwachung einen kontinuierlichen Einblick in die Zellen zu garantieren.» (Foucault nennt das an einer anderen Stelle den «Panoptismus»: die Zöglinge, Häftlinge, Fürsorgeobjekte sind voneinander isoliert, können miteinander nicht kommunizieren, aber die Aufsichtsperson hat von einem zentralen Punkt aus die Einsicht in alle Zellen. Das Aufsichtssubjekt weiss alles über die Fürsorgeobjekte, hat ein Machtwissen, «pouvoir-savoir», während die Objekte nichts voneinander und vom Subjekt wissen oder möglichst wenig.) «Das Gebäude der Militärschule war selbst ein Aufsichtsapparat, die Zimmer waren entlang einem Korridor angeordnet wie eine Serie von kleinen Zellen; in regelmässigen Abständen war ein Offizierslogis eingebaut, und zwar so, dass immer zehn Offiziersaspiranten je einen Offizier links und rechts von sich hatten. Die Aspiranten waren in den Zellen die ganze Nacht eingeschlossen. Die Türen der Zellen waren verglast. (…) Man hatte Latrinen eingerichtet, mit halben Türen, damit die Aufsichtsperson die Beine und die Köpfe der Aspiranten sehen konnte, doch die seitlichen Trennwände waren so hoch, dass die Latrinenbenützer einander nicht sahen.»

      Ähnlich gebaut war die berühmte landwirtschaftliche Schule (Besserungsanstalt) von Mettray, wo «kräftige und tüchtige» Landwirte ausgebildet wurden. Die Vorgesetzten in dieser Anstalt waren ein bisschen Richter, Professoren, Vorarbeiter, Unteroffiziere, Eltern in einer Person. Es waren Techniker des Betragens, Ingenieure der Seele, Orthopädisten der Individualität. «Beim Eintritt in die Anstalt unterwirft man den Zögling einer Art von Verhör, um über sein Herkommen, das familiäre Milieu, sein Vergehen, das ihn in die Anstalt gebracht hat, Klarheit zu gewinnen. Diese Auskünfte werden auf einer Tafel notiert, wo man sukzessive alles aufschreibt, was das Individuum betrifft, wie er sich in der Anstalt aufführt.» Die Anstalt erzielte befriedigende Resultate: Die Zöglinge begannen ihre (unsichtbaren) Ketten zu lieben, und einer, der im Sterben lag, soll kurz vor dem letzten Schnauf gesagt haben: «Wie schade, dass ich die Anstalt so früh verlassen muss.» Foucault nennt das den «Tod des ersten heiligen Sträflings». 1843, als «das revolutionäre Fieber die Einbildungskraft überall leidenschaftlich erregte, als sogar die Anstalten von Angers, von La Flèche, von Alfort sich auflehnten, waren die Zöglinge von Mettray noch ruhiger als in normalen Zeiten». Der Apparat hatte sie vollkommen in den Griff bekommen, man kannte ihre Seelen, erforschte ihre Regungen und konnte dank diesem Macht-Wissen