Название | Endlos verbunden |
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Автор произведения | Gabriela Meyer |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783991078678 |
Der Regen prasselt noch immer auf die Scheiben meines Wagens, während ich auf dem gut besetzten Friedhofsparkplatz nach einer freien Lücke Ausschau halte. Anscheinend wollen viele andere, wie ich ja auch, Lisa die letzte Ehre erweisen und nochmal Adieu sagen. Sie war eine allseits beliebte und fröhliche alte Dame gewesen und so erstaunt mich der Auflauf an Leuten ebenso wenig wie, dass sogar der Himmel zu ihrem Abschied mitweint …
Lisa, oder Elisabeth, wie sie eigentlich getauft wurde, war die Oma meiner Schulfreundin Sabrina gewesen. Als Kinder und Jugendliche haben wir viel Zeit in ihrer Küche, in der sie immer was Leckeres am Kochen oder Backen war, verbracht. Sie erzählte uns tolle Geschichten und wir durften in ihrem Garten von allem naschen, was an Bäumen, Sträuchern und im Boden wuchs. Es war ein Paradies für stets hungrige Kindermäuler wie Sabrina und mich.
Als Sabrina dann nach ihrer Ausbildung wegzog, hatte ich den Kontakt zu ihrer Oma aufrechterhalten. Sie war mir während der Zeit nach dem Tod meiner Eltern eine wundervolle Zuhörerin und Ratgeberin gewesen. Ich habe sie sehr geliebt und hatte erst vorletzte Woche noch während eines Spaziergangs mit Thor spontan bei ihr reingeschaut. Sie war mir so vital, rüstig und gesund wie stets erschienen. Ihre 85 Lebensjahre sah man ihr bei Weitem nicht an. Doch dann, vor vier Tagen, hat ganz überraschend und aus dem Nichts ihr Herz über Nacht aufgehört zu schlagen. Sie ist friedlich im Schlaf von uns gegangen. Ich finde, es gibt weitaus unangenehmere Arten, aus dem Leben zu scheiden, und bin überzeugt, dieses Szenario hätte ihr sicher auch gefallen. Obschon es natürlich ruhig noch viele, viele Jahre hätte dauern mögen bis dahin. Sie wird mir fehlen, das weiß und akzeptiere ich. Aber nach meinem Glauben ist sie ja nicht wirklich tot, sondern hat sich nur des Körpers entledigt und ist heimgegangen in die seelischen Sphären, wo es ihr bestimmt gut geht. Sicher schaut sie uns heute zu und ist unter uns.
Inzwischen bin ich in der Kirche angekommen, habe viele Hände geschüttelt, Lisas fast komplett anwesender Familie mein Mitgefühl ausgesprochen und meine Tränen bisher tapfer zurückgehalten. Sabrina ist auch da. Wir haben losen Kontakt gehalten, uns aber schon länger nicht mehr gesehen. Und da sie rund vier Stunden Fahrzeit entfernt lebt und inzwischen als dreifache Mutter voll in ihrer Rolle aufgeht, haben wir nicht mehr sehr viele gemeinsame Interessen. Was angesichts unserer doch ziemlich verschiedenen Lebensstile absolut verständlich ist. Aber ich freue mich sehr, sie wieder mal zu treffen. Auch wenn die Umstände nicht sehr erfreulich sind, und ich hoffe, dass sich später noch Gelegenheit für ein persönliches Gespräch ergibt.
Während ich mir überlege, ob ihr fast vier Jahre älterer Bruder Alex (das Ekel) wohl auch noch aufkreuzen wird, höre ich hinter mir Schritte. Ich spüre, wie meine Nackenhaare sich aufrichten und mir ein kalter, aber nicht unangenehmer Schauer den Rücken herunterrieselt. Zeitgleich sehe ich, wie sich vor mir die Augen von Sabrinas Mutter erfreut weiten und ehe ich noch hinter mich schauen kann, sagt sie auch schon: „Alex, mein Junge! Wie schön, dass du es doch noch geschafft hast, zu kommen.“ Ohne einen Blick auf ihn erhaschen zu können, liegt seine Mutter auch schon in seinen Armen und ihre Tränen fließen ungehemmt. Sie schluchzt herzzerreißend an seiner Brust, während Alex sich zu ihr hinunterbeugt und tröstend auf sie einredet. Ich suche mir derweil eine Sitzgelegenheit, denn der Pfarrer schaut sich schon ein bisschen angespannt um, da noch lange nicht alle seine Schäfchen brav am Platz sitzen. Die Trauerfamilie sitzt auf den vordersten Bänken und so sehe ich auch während der nächsten Stunde nur den breiten, muskulösen Rücken und die dunklen, zerzausten und leicht gelockten Haare von Alex, dem einstigen Ekel. Und während der Geistliche ziemlich monoton seine übliche Litanei abspult, schweifen meine Gedanken Jahre in die Vergangenheit zurück …
Ich war, wie Sabrina damals auch, neun Jahre alt gewesen, als sie und ihre Familie in den Ort zogen. Sie kam zu Beginn des neuen Schuljahres in meine Klasse. Wir freundeten uns sehr schnell an und waren danach bis zum Schulabschluss so unzertrennlich wie Zwillinge. Wir teilten all unsere geheimen Gedanken und Fantasien. Malten uns in den schönsten Farben aus, wie die Zukunft, die offen vor uns lag, sein könnte. Etliche Nachmittage verbrachten wir nur mit Quatschen und gemeinsamen Tagträumen. Ihr einziger Bruder, der damals schon beinahe 13-jährige Alex, war ein gut aussehender, charmanter Rowdy und ein Großmaul dazu. Er scharte bald eine männliche Anhängerschaft um sich und war definitiv ein sogenanntes Alphamännchen. Zudem war er schnell mal das Hauptthema in jeder tuschelnden und kichernden Mädchenrunde auf dem Schulhof. Denn die meisten Mädchen waren total verknallt in ihn und er wechselte seine Freundinnen dadurch recht häufig.
Mir gegenüber verhielt er sich jedoch meist herablassend, patzig und fies. Er spielte mir oft üble Streiche und außerdem neckte er mich andauernd, sodass mir peinliche Röte ins Gesicht schoss. Dafür hasste ich ihn, obwohl mein Herz jedes Mal wild klopfte, wenn ich ihn sah! Ich war für ihn wohl bloß die nervige Freundin seiner ebenso nervigen kleinen Schwester. Und als er direkt nach der Schule ein Auslandjahr einlegte und danach nicht mehr in unseren Ort heimkehrte, vermisste ich ihn nicht sonderlich. Und bis heute hatte ich, ehrlich gesagt, eigentlich auch keinen Gedanken mehr an ihn verschwendet.
Bei den Worten, „… und nun lasst uns ein Gebet sprechen“, beende ich meinen geistigen Ausflug in die Vergangenheit und falte, wie alle anderen auch, meine Hände. Verzeih mir die Abschweifung liebe Lisa, bitte ich innerlich und richte mein Bewusstsein wieder in die Gegenwart und den Moment. Nach der Trauerfeier geht es weiter ins gegenüberliegende Gasthaus mit dem passenden Namen „Zum ewigen Licht“. Auf dem Weg dahin gerate ich mit Sabrina ins Plaudern und drinnen bittet sie darum, mich doch am Familientisch neben sie zu setzen, damit wir unser Gespräch fortsetzen können. Lukas, ihr Mann, ist ungeplant mit den Kindern zu Hause geblieben, weil das Jüngste seit heute Morgen Fieber hat und der Platz neben ihr ist somit eh frei. Die restlichen Trauergäste strömen weiter in den großen Saal und verteilen sich an den gedeckten Tischen. Dann nimmt jemand zu meiner rechten Seite Platz und als ich meinen Kopf neugierig wende, schaue ich direkt in Alex stahlblaue Augen.
Es ist, als würde die Zeit stehen bleiben. Der Lärm all der gedämpften Gespräche verschwindet plötzlich völlig im Hintergrund und es ist, als existierten nur noch wir beide. Wir versinken in der Tiefe unseres innigen Blicks und ein weiterer angenehmer Schauer durchfährt mich von Kopf bis zu den Zehenspitzen, während mein Herz dazu freudig jubelt und heftig klopft. Was zum Teufel ist denn hier grad los, denke ich, bevor ich mich beherrsche und mich, mit einer spürbaren Röte im Gesicht, von seinem intensiven Blick und dem verführerischen Lächeln löse und verlegen auf mein Weinglas starre. Während ich mir einen großen Schluck genehmige, schaue ich mich kurz um, hoffe, dass die Szene vorhin niemandem aufgefallen ist, und höre ihn dann mit seiner sehr erotischen Stimme sagen: „Na, wie geht’s denn meiner kleinen Wildkatze? Schön, dich wieder mal zu sehen. Du bist übrigens zu einer hinreißenden Frau herangereift, genau wie ich vermutet hatte.“ Seine Stimme klingt verdammt sexy, so schön tief und verführerisch …
Beim Wort Wildkatze, so hat er mich damals immer genannt, kommen erneut Erinnerungen in mir hoch und ich denke an unsere letzte Begegnung einen Tag, bevor er damals wegflog. Der KUSS!!! Er hatte mich geküsst! Das hatte ich irgendwie völlig aus meinen Gedanken verbannt all die Jahre, aber jetzt fällt es mir siedend heiß wieder ein und ich werde erneut knallrot und schweife gedanklich in die Vergangenheit zurück … Mein allererster Kuss war das damals gewesen und es hatte mich alles andere als kalt gelassen! Aber im Nachhinein war ich dann davon überzeugt gewesen, dass das nur ein weiterer fieser Streich beziehungsweise eine Laune von Alex gewesen sein konnte …
Ich schaue ihn erneut an und antworte dann ein bisschen heiser: „Nenn mich nicht immer Wildkatze, du Ekel.“ Aber meine nach oben gezogenen Mundwinkel signalisieren ihm, dass ich es nicht wirklich allzu ernst damit meine. Verdammt, er sieht unverschämt gut aus und mein Herz rast schon wieder. Ob er ebenfalls an den Kuss denkt? Ob meine Vorliebe für dominante Männer auf diesem damaligen Erlebnis beruht? Diese Querverbindung des Kusses zu meinen sexuellen Vorlieben fällt mir zum ersten Mal auf. Gedanken fluten mein Hirn und ich bin für meine ansonsten glasklaren Verhältnisse ziemlich durcheinander. Er nannte es damals großzügig sein Abschiedsgeschenk und wohl nur wir beide wissen überhaupt von diesem Kuss!
Es war wie erwähnt am Tag, bevor er damals nach England flog. Ich hatte gerade mit Sabrina Hausaufgaben erledigt und wollte mich auf den Weg nach