Название | Ich bin Vera |
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Автор произведения | Marah Malakai |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783991077909 |
Der Gestank von Desinfektionsmittel liegt zwischen uns, die Distanz wird immer größer. Die Fachleute schauen mich bemitleidend an und repetieren mir, dass wir das schon hinbekommen. Ich frage mich, was wir hinbekommen wollen. Werden wir meinen Körper wieder funktionstüchtig machen? Werde ich springen? Werde ich lachen? Können wir Eis essen gehen und wieder Karussell fahren? Dieses Mal springe ich nicht davon und breche mir auch nichts, ich verspreche. Ob Vater sich wundert, wo ich bin? Wenn er mich findet, verliere ich das Versteckspiel. Er gewinnt meistens, denn er weiß, wie sein Kind tickt. Er weiß es bestimmt. Er weiß, dass ich unglücklich bin, hier mit Mutter und Eric, telepathisch, ganz magisch. Ganz bestimmt, bestimmt. Vater kommt gleich und holt mich ab, er nimmt Mama mit und Eric lassen wir hier, der darf mit dem anderen Pfleger weiterarbeiten.
Wir fahren ans Meer und verbuddeln mich im Sand. In der kühlen Dunkelheit wird mein Körper zu Wasser und die Zellen bilden sich neu. Ein neues Gesicht, neue Haare, bessere Augen, ein größeres Lächeln, das meine Eltern zusammenhalten wird. Erstmal ausgebuddelt werden sie mich lieben.
Ganz bestimmt.
Ich werde bis zum Oberkörper in ein Rohr gesteckt, das Geräusch der Untersuchungsmaschine klingt wie eine sterbende Meerjungfrau, zumindest stelle ich mir das so vor. Ich muss meine Fantasie über die Realität stellen, um es hier auszuhalten. Wegrennen kann ich nicht, doch mein Geist kann mich forttragen. Eins, zwei, drei, atmen – eins, zwei, drei, atmen – eins, zwei, drei, atmen. Liegend auf meinem imaginären Meer, atme ich tiefer und tiefer in die Minuten hinein.
Tiefes, kraftvolles Blau umhüllt mich. Darf ich dieses Mal versinken, Mutter? Ganz sanft wird mir dann die Luft aus den Lungen entzogen, aber es kommt keine Panik auf. Hier im Reich der Fantasie gibt es keine Angst, keine Furcht und keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Ich kann mit Haien schwimmen, ohne dass sie mich beißen, mit Kraken reden, ohne dass sie nach mir greifen. Ich kann hier das Kind sein, das ich nie sein durfte. Endlich darf ich auch krank sein.
Zwischen dem Geräusch der Untersuchungsmaschine – keine Ahnung, wie das Ding heißt, ist mir auch egal – und meiner idealen Welt kommen Erinnerungen auf. Wie viele Stunden habe ich damit verbracht, in einem Büro zu sitzen? Stundenlang habe ich auf der Tastatur gehämmert und mit jedem Schlag habe ich mich geweigert, in mich hinein zu hören. Doch die Schläge sind jetzt nach innen gerichtet. Ich kann eh nicht entkommen, also gebe ich mich hin. Der Hässlichkeit meiner Lebenserfahrung stehe ich gegenüber, denn ich wollte leben, stimmt.
Überraschenderweise sind nur die Erinnerungen an die Realität hässlich, den Rest meiner Gedanken mag ich, auch wenn sie lügen. Sie lügen für mich.
Komm, erzähl mir weitere Geschichten von schönen Landschaften, befehle ich meinem Gehirn. Spalte mich so oft, bis ich nur das Schöne in mir sehe. Lebensweisheit? Die ist egal. Erwachsen und selbstständig sein? Wollte ich denn das jemals wirklich? Ich erinnere mich an das Vorstellungsbüro der Anwaltskanzlei, in der ich gearbeitet habe, wie fest ich gelogen habe über meine Pläne und Ziele. Ich hatte nie vor, einen Fonds für arme Kinder zu errichten, es klingt so edel, wenn wir sagen, dass wir helfen wollen, als wären wir dann ein kostbares Mitglied der Gesellschaft. So kostbar und unentbehrlich, ja, solche Leute müssen wir einfach fördern, indem wir ihnen einen guten Job mit hohem Gehalt geben. Es ist völlig wurst, aus welchen Gründen wir Menschen wirklich helfen wollen, keiner kann meinen egoistischen Durst nach Ansehen und Anerkennung kennen. Nur ich kann es wissen, wie oft ich nur an mich selbst denke.
Die sterbende Meerjungfrau meiner Fantasie bringt den falschen Helden in mir um. Der Kopf wird abgebissen und ausgespuckt. Herrlich, diese Freiheit, die dir Wahnsinn gibt. Ich kann kein edler Ritter mehr sein, also bin ich es auch nicht. Nun darf ich das verdorbene Wesen sein, das ich immer schon war, denn ich bin krank – sieht man doch. Nur wissen die anderen nicht, was genau mit mir nicht stimmt, ob es der Körper oder die Seele ist. Um ehrlich zu sein macht’s mir keinen Unterschied, als ich mich noch bewegen konnte, war die Seele schon in Trümmern.
Der erste große Riss passierte, als mein Stiefvater bei uns eingezogen ist. Den Platz meines Vaters wollte er einnehmen, mir sagen, was gut und böse war und wieso Linkshänder in die Hölle kommen. Eines Tages war ich allein zuhause und beschloss, mich in Mutters Kleiderschrank auszutoben. Ich probierte die Pelzmäntel, den Schmuck, einfach alles, einmal an. Ich war Whitney Houston in Bodyguard, Glamours und in Gefahr. Eric kam von der Arbeit im Spital früher nachhause und schickte die Nanny nachhause. Er ertappte mich. Der Blick, der mich traf, war schärfer als eine Peitsche, doch die Taten, die folgten, brannten umso mehr.
„Ab in den Keller mit dir!“
Er zog mich aus und sperrte mich ein im Dunkeln. Im finsteren, kalten Keller drohte er mir, meiner Mutter zu sagen, was ich getan hatte und mich wegzugeben oder für immer im Keller einzusperren. Verrotten könne ich, falls ich es jemals wieder wagen würde, mich wie eine Schwuchtel aufzuführen.
Stunden vergingen und kamen mir vor wie Tage. Nackt und verzweifelt verfluchte ich meine Mutter, meinen Körper und jeden Augenblick mit diesem Manne. Ich trat aus Versehen in eine Pfütze am Boden und blieb dort stehen. In der Panik stellte ich mir vor, das sei der Ozean und ich ein Delfin, der drin schwimmt. Eine kleine Ewigkeit verbrachte ich Zeit mit den Meeresschildkröten und tanzte mit den Fischen.
Irgendwann kam er wieder, gab mir Kleidung und sagte: „Zieh dich an, deine Mutter kommt gleich. Ein Wort und du bist weg.“
Nun tanze ich wieder mit den Fischen im Netz, nur dieses Mal kann ich nicht weg.
Ein Pfleger kommt auf mich zu und sagt, die erste Untersuchung sei jetzt vorbei.
Blutentnahme, Röntgenbilder, Blutdruckmessungen, alles wird arrangiert für den braven Patienten. Wie dieses Wunder entstanden ist, mein Aufwachen meine ich, kann sich keiner der Experten erklären. Es ist schon mal klar, dass ich eingeschränkt bin, keinen Ton und keine Bewegung gebe ich von mir. Als würden die Ärzte einen Eiszapfen kontrollieren. Einen Eiszapfen, den sie fast zum Schmelzen gebracht und dann den Abfluss runtergespült hätten. Doch jetzt, da ich selbst atmen und zwinkern kann, geht das nicht. Herrlich, das Minimum an Affront und schon dem Tode entwichen. Und das zum zweiten Mal.
Ich bin wieder in meinem Krankenzimmer, die Vorhänge sind zu, damit kein starkes Licht hineinströmt und uns blendet. Der Arzt redet mit Mutter, er erklärt ihr, dass dieses plötzliche Aufwachen ein Wunder sei und sie sich selbst nicht erklären können, wie das geschehen konnte. Siehst du, Mutter, nun bin ich ein Wunderkind.
„Wir müssen abklären, wo und wie Ihr Sohn in Zukunft gepflegt werden soll. Es ist klar, dass er das Leben lang beeinträchtigt sein wird. Seine Werte liegen zwar gut, doch das Knochenmark ist völlig abgezweigt. Ob die betroffenen Gehirnregionen sich jemals völlig erholen, ist sehr fraglich.“
Sie reden, als wäre ich nicht da und in gewisser Weise bin ich es auch nicht. Wie ein Neugeborenes fühle ich einfach um mich herum. Die Sorge meiner Mutter, ihr verzweifeltes Alleinsein mit dieser Situation und das distanzierte Mitgefühl der Ärztin liegen auf mir wie Beton. Wehren tue ich mich kein bisschen, wie denn auch? Atemzug für Atemzug lasse ich diese Stimmung auf mir weilen.
Ich kann nur zusehen, wie schwer dieses Leben ist, wie eine Fliege an der Wand. Werten will ich aber nicht, denn schlussendlich wollte ich es. Ich wollte leben, sage ich mir immer und immer wieder. Schau, sie sorgen sich um dich. Du wirst gefüttert und gewaschen, gehegt und gepflegt. Alles hier dreht sich um dich, sei doch dankbar. Schlussendlich könnte ich tot sein und nichts von alledem mitbekommen. Wie sehr meine Mutter mich braucht, für ihr eigenes Glück, auch wenn ich ihr nichts dafür geben kann. Ich bin wahrlich nochmals geboren, und dass die Ärztin mich Sohn genannt hat, macht mir nichts aus. Es ist nicht wichtig, welchen Körper ich für dieses zweite Leben gewählt habe, ich kann ihn eh nicht spüren. Einen zweiten Namen? Egal.
Sie haben nun fertig geredet und Mutter schenkt mir endlich ihre Aufmerksamkeit. „Tom, wir werden uns gut um dich kümmern, ich verspreche