Ich bin Vera. Marah Malakai

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Название Ich bin Vera
Автор произведения Marah Malakai
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783991077909



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hat. Ein älterer Mann im schwarzen Mantel, ich weiß, wer das ist, tue so, als läge ich noch im Koma, denn wenn man nicht flüchten oder kämpfen kann, soll man sich künstlich belebt stellen. Er kommt auf mich zu, wenn man lange genug mit einer Person gelebt hat, erkennt man diejenige an ihrem Gang. Meine Brust wird hart und Schweiß staut sich genau an dieser Stelle an. Ich tropfe vor Angst. Er setzt sich neben mich, ich kann noch spüren, wie er meine Hand nimmt. Ich weiß nicht, ob ich mich freuen soll, DASS ich noch etwas spüren kann oder vor Ekel sterben soll aufgrund dessen, was ich spüre. Ruhig bleiben, ich muss nicht mal atmen, die Maschine macht das für mich, ich bin eine Maschine, meine Funktion ist es, Ruhe zu bewahren. „Du warst so ein süßes Kind, bis du mich verpfiffen hast. Kinder sollten gesehen werden und nicht gehört und siehe da, jetzt bist du still. Nächste Woche schalten wir dich komplett aus, tja so spielt das Schicksal. Zuerst schreist du Wolf und dann wirst du gefressen, denn es gibt niemanden, der dich hört.“ Er streichelt mein Bein entlang, das Bein, welches weniger beschädigt ist. Natürlich genau das Bein, das sich nicht regen darf. Er geht immer höher und höher, stoppt, sobald er meinen Kot riecht. Ich stecke wortwörtlich in der Scheiße und genau das rettet mich vor einem Übergriff. Oder geht er jetzt weiter? Dieses Biest könnte problemlos Scheiße fressen, er kennt keine Limits. Was passiert jetzt? Durch meine geschlossenen Augenlider kann ich seinen Gesichtsausdruck nicht sehen. Ist er angeregt? Angewidert? Ich spüre seinen Atem auf meiner Stirn. „Leider kann ich nicht dabei sein, wenn sie dir den Stecker rausziehen, also verabschiede ich mich jetzt schon bei dir und bedanke mich für den Spaß, den wir in den letzten zwei Jahren hatten. Du warst schön willig, so hättest du als Kind auch bleiben sollen. Still.“ Er setzt sich wieder hin, ich spüre, wie seine Körperwärme weniger intensiv wird. Er drückt auf einen Knopf, der Piepston soll wahrscheinlich eine Krankenschwester rufen.

      Jetzt bloß nicht die Augen öffnen, du hast es bald geschafft, bloß still bleiben. Nur noch einen winzigen Moment. Ich höre Schritte, er ist bald weg. Die nackte Hand der Schwester berührt mein Gesicht und ich schreie auf wie ein Huhn, das gerupft wird. Mist, ich wäre fast in Sicherheit gewesen. Fast. Meine Augen sind weit auf, niemand spricht. Die beiden bleiben fassungslos stehen, als stünde Hitler Ukulele spielend im Zimmer. Die Schwester befreit sich aus ihrer Erstarrung und rennt aus dem Zimmer, um einen Vorgesetzten zu holen. Ich bin allein mit meinem Stiefvater im Zimmer. Stille herrscht, nichts wird gesagt, nicht mal die Vergangenheit wird ausgesprochen. Als stünde ein Fremder vor mir und kein Vergewaltiger. Auch wenn ich schreien wollte, würde kein Ton rauskommen. Er könnte ganz einfach über mich herfallen, mich erwürgen, doch wir sind in einem öffentlichen Krankenhaus und er tut es nicht. Stattdessen lächelt er mich an, lange und unangenehm, bis er Schritte hört. Da beschließt er, sich umzudrehen und zu gehen. Die Schwester und der Arzt, die ins Zimmer fast hineinstürmen, werden von ihm ignoriert. Wie ein Geist schlendert er den Spitalflur entlang, zwischen den Kranken verabschieden sich seine Schritte. Ob er wiederkommt? Das tun Schatten immer.

      Das Beatmungsgerät wird aus meinem Hals entfernt, ich kann atmen. Grelles Sonnenlicht scheint mir ins Gesicht, seine Wärme taut mich langsam auf. Ich werde gesäubert, bevor man mir Fragen stellt und meine Reaktionsfähigkeit testet. Wie heiße ich? Wo sind wir? Weiß ich noch, was passiert ist? Die Stimme des Arztes ist beruhigend tief, er spricht langsam wie mit einem Kind. Wie ein Mensch, der Hilfe braucht, werde ich zwar behandelt, wie ein kaputtes Spielzeug fühle ich mich aber an. Ich kann auf keine der Fragen Antwort geben, nicht, weil ich nicht mehr weiß, dass wir in Berlin sind oder dass ich versucht habe, mich umzubringen, sondern weil ich nicht mehr weiß, wer ich bin. Ich kenne diesen Körper nicht mehr und bin nicht mehr der Sprache mächtig. Auch wenn ich wollte, könnte ich den Leuten, die vor mir stehen, nichts mitteilen. Eine Wand aus Eis hat sich zwischen mir und meiner Umwelt gebaut, ich kann die Figuren hinter dieser Wand erkennen und doch nichts mit ihnen anfangen. Bin ich ganzkörperparalysiert? Ja, wahrscheinlich auch geistig. Ich beobachte, wie der Arzt jemanden per Telefon benachrichtigt. Wird er meiner Mutter sagen, dass ich noch lebe? Und wenn sie herkommt, was dann? Soll sie in Tränen ausbrechen vor Freude, dass ihr Kind einen Körper halbwegs noch bewohnt? „Können Sie mich hören, wenn ja, dann blinzeln Sie einmal.“, sagt der Arzt zu mir, nachdem er sein Telefonat beendet hat. Kann ich die Wand zum Schmelzen bringen? Was, wenn sie mich mehr fragen, sobald ich Antwort geben kann? Sie könnten mich nach meinem Stiefvater fragen und ich wüsste nicht, was ich sagen soll. Doch ich blinzle aus Reflex, der Drang nach Verbundenheit mit der Außenwelt ist jetzt wichtiger als meine Angst vor dem Ungewissen.

      „Gut, Sie reagieren. Ihre Mutter ist auf dem Weg ins Krankenhaus, wir werden einige Tests mit Ihnen durchführen müssen. Sie sind jetzt in Sicherheit, haben Sie mich verstanden?“ Ich starre ihn an, blinzle einmal, denn sagen, dass es nicht so ist, bringt mir nichts.

      Allein in einem leeren Zimmer, regungslos in falscher Sicherheit warte ich ab, welcher schlechte Scherz als Nächstes kommt. Wie kann eine Mutter reagieren auf ein Kind, das jenes Leben nicht wollte, das ihm geschenkt wurde? Wird sie entsetzt sein, gar schockiert, so wie ich es bin? Wird Freude durch ihren Körper strömen angesichts der Tatsache, dass nicht beide ihrer Kinder tot sind?

      Ich tauche lieber in die Stille des Krankenzimmers mit meinen Gedanken, die Antwort ist auf dem Weg und ich gehe nirgendwo hin. Wie friedlich der Klang der Stille doch ist, regungslos gehen Qualen doch am ehesten vorbei. Ob Eric, mein Stiefvater, mich deswegen besucht hat? Damit mein Leid bittersüß über mich ergehen soll? Diese Gedanken stören schon wieder meinen Frieden, doch was will man tun, wenn der eigene Geist alles ist, was einem zur Verfügung steht? Man bleibt unter Schock, zählt die vielen runden Bällchen am Verputz und verzählt sich dann wieder.

      Hier war kein Vergewaltiger, das hast du dir nur ausgedacht, weil du einen Gehirnschaden vom Sturz trägst, hier ist kein böser Mann, Mama, die haben nur gespielt. Hier gibt es keine Monster, nur Patienten, die lügen, sie sind ja krank und kranke Blicke trügen.

      Summend balanciere ich mich zwischen Schlaf und Wachsein. Eins, zwei, drei, hier kommt die Polizei, vier, fünf, sechs, sieben, Flucht den Dieben, acht, neun, zehn, Papa sagt, er will mich sehen. Die Dunkelheit hinter meinen Augenlidern kann mich in Sicherheit wiegen, solange ich mag.

      Zu früh gefreut, ich höre Schritte. Mutter ist da.

      Sie sagt nichts, starrt mich nur an, fassungslos, als stünde sie vor einem Wunder. Ihr Herzschlag ist von meinem Bett aus spürbar. So verbunden waren wir zuletzt bei meiner Geburt. Sie muss mich nicht mal berühren, muss kein Wort sagen, dennoch fühle ich dieses uralte Gefühl von Heimlichkeit.

      Ich sehe dich. Deine Taten und alles, was du mir sagen möchtest. Ich sehne mich nach deiner Hand auf meiner Wange, die mir Trost und Mut schenken soll. Mutter, mach nun Schritte auf mich zu und erlöse mich meines Leidens, verzeih den Hass, den ich einst hatte, ich mach es auch nie wieder.

      „Frau Stätter, ich lasse Sie nun etwas allein, der Arzt wird später vorbeikommen, um mit Ihnen zu sprechen.“ Die Krankenschwester verlässt den Raum. Ich werde lang umarmt, die Tränen meiner Mutter befeuchten mein Haar, sie reinigen mich. Mutter seufzt ganz stark, ihr warmer Atem riecht nach Zimt, wie an Weihnachten.

      „Ich kann nicht glauben, dass du aufgewacht bist, ich weiß nicht, was ich sagen soll, oh mein Gott, wir hätten fast, wir hätten fast … die Hoffnung aufgegeben.“ Ihre Tränen färben ihre Worte, während Mutter spricht. Was für ein sinnliches Bild die Liebe abgibt. Grell, intensiv, tiefgehend ist jeder Atemzug, den wir nehmen, weil wir jetzt beieinander sind, Mutter und Kind. Ich möchte wieder in der sicheren Gebärmutter sitzen. Warm, dunkel in den Verbunden zu einem anderen Lebewesen, zwei Körper in einem und dieses Mal werde ich richtig geboren.

      Du wirst mich nicht mit einem fremden Mann betrügen, meine Sicherheit für deine Geilheit und Abenteuerlust auf Spiel setzen. Und ich werde im Gegenzug mit dem richtigen Geschlecht zur Welt kommen. Es wird keinen Streit zwischen dir und Vater geben und jeder Festtag kann gemeinsam gefeiert werden. Wir feiern weder Jesus noch die anderen Heiligen, sondern unsere Einigkeit.

      „Frau Stätter, wir müssen einige Untersuchungen durchführen, tut mir leid, dass ich Sie unterbrechen muss, aber es geht jetzt gleich los, könnten Sie ins Wartezimmer gehen? Ich zeige Ihnen, wo es ist.“

      „Natürlich, ist gut, ich komme gleich wieder.“ Mutter küsst meine Hand und sagt, dass sie