Ich bin Vera. Marah Malakai

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Название Ich bin Vera
Автор произведения Marah Malakai
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783991077909



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darf und sich wie Gott fühlt. Eines fehlt mir doch, in mir gibt es keine Zeit. Keine Zeit, Reue zu spüren, keine Zeit, nach wahrer Intimität zu suchen, keine Zeit, sich selbst zu hinterfragen, dafür habe ich keinen Raum. Darum entscheide ich spontan, dass ich Karussell fahren will, so schnell, dass ich mich übergeben muss. Ich ziehe mich an, nehme etwas mehr meiner köstlichen giftigen Substanzen und stürme hinaus. Es ist 00:30 Uhr und der Jahrmarkt nebenan vibriert vor Leben. Geschrei, Gelächter und Assifamilien mit Kindern sind überall, alle tragen noch Schutzmasken und mir fällt auf, dass ich keine habe. Die lassen mich nicht mit den Bahnen fahren, wenn ich keine trage, ich möchte am liebsten alle anhusten. Siehe da, ein Eimer steht neben mir und in dem Eimer eine gründlich gebrauchte Maske. Ich fische sie heraus, es ist egal, wer mich anstarrt, in diesem Zustand zählt nur, was ich will. In der Warteschlange kann ich alles beobachten, was ich sonst ignoriere, wie dick der Hintern der Frau vor mir ist, wie viele Pickel der Teenager vor mir hat und so weiter. Schon komisch, dass wir alles Negative sehen und bemerken. Hat, glaub ich, mit Überlebens-Modus zu tun oder so. Wenn wir uns auf positive Dinge konzentrieren würden, wäre es einfacher, angegriffen zu werden und wir könnten somit weniger schnell reagieren. Macht Sinn, wenn wir in der Wildnis ausgesetzt sind, wie wir es für Jahrtausende auch waren. Auch wenn wir heute nicht mehr nach Futter jagen, ist der Überlebenskampf nicht vorbei. Er geht weiter in uns drin, ständig auf der Hut. Nur wenn wir uns berauschen ist all dies egal. Wir überleben, bis wir sterben, mit kleinen Pausen dazwischen. Endlich bin ich an der Reihe, die Bahn, die ich ausgesucht habe, macht Riesenspaß. Wir sitzen alle in Stühlen und werden geschleudert, ganz viele Meter hoch in der Luft. Ich freue mich wie ein Kind, ein degeneriertes, unverantwortliches Kind. Siehst du mich, Stadt? Ich tanze über dir, siehst du mich, Himmel? Ich bin nah bei dir. Siehst du mich, Leben? Jetzt bin ich in dir. Adrenalin, Schweiß, Genuss, alles dreht sich und für einen Augenblick ist alles in Ordnung. Einen Moment lang kann ich frei sein. Aber nur einen einzigen, denn was zu viel ist zu viel, selbst wenn es guttut. Ich ahne schon, dass die Fahrt bald vorüber sein wird, also kann ich auch jetzt aufhören, mich zu freuen. Das sagte meine Mutter stets, es ist besser, zu wissen, wann man aufhört, sich für Sachen zu interessieren, die vergänglich sind, bevor sie dich verlassen. Es ist besser, schon vorher aufzuhören als enttäuscht zu sein. Es ist vorbei, ich tanz nicht über der Stadt, meine Füße sind am Boden. Dem Himmel sag ich auf Wiedersehen, das Leben lebe ich wieder neben mir. Siehe da, ich bin doch enttäuscht. Ich steh nun in der Menschenmenge und starre in die Luft. Spürbar macht sich die sorgenfreie Entspannung der Leute um mich herum. So nahe, die Nähe zwischen ihnen, so greifbar ist sie, dass ich meine Hand ausstrecke und nichts davon halten kann. Alles um mich bewegt sich, nur ich bleibe stehen mit nichts zwischen meinen Händen, nichts zu sagen und nichts zu denken. Es gibt eine Art Einsamkeit auf dieser Welt, die kann man nicht mit Menschenmengen füllen. Wir haben sie alle schon irgendwann erlebt. Wir alle waren schon so verletzt, dass wir dachten, nur wir selbst allein können verstehen, was es heißt, so viel Leid zu ertragen. Und es stimmt, niemand kann wissen, was Schmerz für dich bedeutet, was er mit dir macht, wie er sich für dich anfühlt und wohin er dich trägt. Ich ziehe meine Maske aus, kotze auf den Boden und entscheide zu gehen. Ich laufe ziellos durch die Straßen, die Nachtlichter sind mein Kompass. Ich laufe kilometerweit, ohne irgendwo jemals anzukommen, bis ich einen Spielplatz sehe. Die Schaukel macht mich an, ich sitz auf ihr. Als Kind hatte ich keine Freunde, was heißt als Kind? Ich hatte nie welche. Die unbelebte Natur wurde meine Gefährtin. Schaukeln, Steine, Rutschen waren meine Brüder und Schwestern. Sie können mich nicht verletzen, egal, wie und wann ich mich mit ihnen abgebe. Sie können nicht einfach sterben und mich wundernd zurücklassen. Egal was, liebe Welt, versprich es mir, lass mich nicht gehen. Lass mich nicht sterben mit dem Gefühl der Reue in meinen Magen. Bitte bleib bei mir, für immer und ewig, lass mich nie mehr los. Tina, ich vermisse dich. Ich vermisse deine nervige Stimme am frühen Morgen, ich vermisse deinen Gesang unter der Dusche, der schräger war als alle Kurven auf der Welt. Ich vermisse deine Angst vor dem Dunkeln, darum hab ich dein Nachtlicht behalten und als einzige Erinnerung. Das Flackern des Lichtes bist du, die vom Jenseits hustet nach der X-ten Marlboro-rot-Zigarette. Es ist aus. Ich kann nicht mehr. Zweieinhalb Jahre sind nun vergangen, keinen Tag davon war ich nüchtern, zufrieden oder lebendig. Kein Arbeitstag ist mir entgangen, kein „mein Beileid“ habe ich ertragen. Wieso bin ich noch hier? Meinen Liebenden kann ich gestohlen bleiben. Wir leben eh aneinander vorbei. Meine Mutter wird morgen wie jeden Sonntag anrufen und mir die gleichen Fragen wie immer stellen und ich werde schön nach Skript dieselben Antworten liefern. Ich schaue auf die Uhr und stelle fest, dass morgen schon lange heute ist. 3 Uhr, ich verlasse den Spielplatz, zünde den Restjoint an, rauch ihn fertig und mache ihn aus, indem ich den Stümmel gegen meinen Arm presse. Wenn etwas so weh tut, dass du dich mit weiterem Schmerz ablenken musst, wärst du eigentlich reif für die Klapse. Als würden die helfen. Ich habe gesehen, was sie mit Tina gemacht haben. Sechs Jahre Therapie, Medikamente, Ärzte, Kliniken, wofür?

      Ich laufe an einem Wohnblock vorbei mit einer Notfalltreppe. Da muss ich rauf. Wenn ich erst mal oben angekommen bin, geht es nur noch bergab. Wie viel Frische hier oben herrscht. Hast du die auch gespürt, kurz bevor du dich aufgehängt hast? Die Frische und Leichtigkeit, die einen packen, wenn man weiß, dass es gleich zu Ende ist. Das Hupen der Autos ist mein Abschiedslied, auf dem Rand des Daches, auf dem ich stehe, ziehe ich meine Maske ab, als stünde ich auf einer Bühne. Applaus für die Show, die nun vorüber geht. Und der Oscar für den besten Möchtegern-Helden geht an mich. Ich danke allen Menschen, die mir nie geholfen haben und nie für mich da waren. Ich danke meiner Mutter für ihre miserable Erziehung, ich danke meinem Vater für seine Absenz. Ohne euch hätte ich dieses Meisterwerk des Versagens nie hinbekommen. Ich dreh mich mit dem Rücken zur Straße, strecke die Arme aus wie die Jesusstatue in Rio, lasse mich fallen. Ich muss halluzinieren, denn meinen letzten Moment erlebe ich in Zeitlupe, sodass ich meine Tränen in der Luft beobachten kann. Sie hängen mit mir in diesem Zeitraum-Zirkus. Auf Wiedersehen Weinen, leider darf ich dich nicht mitnehmen ins Grab, denn Kummer ist für die Lebenden. Mir kommen Bilder meiner Vergangenheit hoch, wie in jeder Nahtod-Erfahrung klischeehaft beschrieben, löse ich mich auf, indem alles sich ein letztes Mal wiederholt. Wie schön diese Tragödie doch war, wie sehr habe ich bereut, dass ich einem Mädchen in der Primarschule den Zopf mit der Schere abgeschnitten hab. Wie oft habe ich aus dem Fenster geschaut, als es regnete, wie viele Schläge habe ich kassiert, wie viele Küsse habe ich geteilt. Ich sehe alles, bis zu meiner Geburt. Wie viele Male habe ich dieses Leben gewählt, um meine Entscheidung doch noch zu ändern. Der Boden rückt näher und näher. Ich darf gehen und nie wiederkommen und falls ich doch zurückkehre, sehe ich dieses Mal ein, dass ich kein Held sein muss. Ehrlich, offen über meine Gefühle und den Menschen nahe, wirklich nahe, wäre ich in einem hypothetischen zweiten Leben. Nur nicht in diesem. Mein Körper prallt schlussendlich am Boden auf. Die Knochenbrüche geben einen hohlen Klang, mein Blut fließt aus dem Kopf heraus und bemalt den Straßenrand in feurigem Rot. Mein Leid ist zu Ende und der Schrei einer Passantin fängt damit an. Nun kannst du mich sehen, Welt, wie niemals zuvor, ich war der Schmerz, den niemand dir anmerkt, niemand anspricht, niemand anfasst und niemand sieht. Ich war die Trauer, die in einem herrscht und dich immer besiegt. Ich bin das Leid, das unausweichliche, das jeder von uns versucht auszutricksen. Die Ambulanz kommt, die Sirenen rufen nach mir, doch ich bin schon fast ganz weg, darf von oben alles noch mitansehen. Das Grauen in den Gesichtern der Leute ist das gleiche Grauen, das ich vor mir selbst hatte. Der Lärm, der sich bildet, ist der Lärm meiner inneren Stimme, die nach Gnade suchte. Die Leere, die ich in mir trug, ist die Leere, die ich hinterlasse. Sieh mich an, Welt, jetzt gehöre ich dir, jetzt gehöre ich mir. Mein Körper wird von der Ambulanz ins Spital gefahren, mein Geist schwingt zwischen Leben und Tod. Irgendetwas hängt noch fest. Trotz des Sturzes klebt ein Teil von mir immer noch an diesem Dasein. Ich komme in der Notaufnahme an, tatsächlich schaffen es diese Schwachköpfe, mich zu reanimieren und in ein Koma zu versetzen. Oder ich verfalle ganz von allein ins Koma, keine Ahnung, bin ja kein Arzt. Schön ist es hier, ich meine nicht das Krankenhaus, sondern die Dimension, in welcher ich mich befinde. Ruhe herrscht hier, kein Kampf gegen mich selbst. Es ist fast so, als könne ich all die Trauer und den Schmerz von hier aus akzeptieren, ja sogar sehen, wie er eine Funktion erfüllt. Ach du meine Scheiße, mein Leid hat ja Bedeutung. Und was jetzt?

      Eine warme, ruhige Präsenz begegnet mir. Die Stimme einer Frau erklingt: „Na du, schon lange nicht gesehen.“ Es ist Tina. Ich bleib fassungslos vor ihr und sage nichts. „Willkommen am Choicepoint, von