Kunst des Lebens, Kunst des Sterbens. Yungdrung Wangden Kreuzer

Читать онлайн.
Название Kunst des Lebens, Kunst des Sterbens
Автор произведения Yungdrung Wangden Kreuzer
Жанр Сделай Сам
Серия
Издательство Сделай Сам
Год выпуска 0
isbn 9783867813464



Скачать книгу

      Wenn ein Therapeut sich selbst vergessen und sein Rat und Hilfe suchendes Gegenüber so ohne Vorbehalte und Vorwissen annehmen und empfangen kann wie ein leerer und klarer Spiegel, so sind die idealen Voraussetzungen für eine einfühlsam-mitfühlende, intuitive Erkenntnis des imaginären Problemzusammenhangs seitens des Therapeuten und für ein vertrauendes Sichöffnen, befreiendes Erkennen und Loslassen seitens des Hilfesuchenden gegeben. Mit nichturteilendem Gewahrsein werden die psychischen Probleme des Gegenübers zwar mitfühlend als wirksam anerkannt und betrachtet, aber es wird ihnen keine Wirklichkeit zugestanden, indem man sie weiter konzeptualisiert und mit Aufmerksamkeit auflädt. Entsprechend dem wundervollen Diktum des Mahasiddha Tilopa – »Wisse, mein Schüler, nicht die Erfahrungen binden dich, sondern nur dein Anhaften an ihnen« –, kann sowohl die Vergänglichkeit eines jeden gedanklichen Konstrukts aufgezeigt werden wie auch die Möglichkeit, einschränkenden, selbstreferenziellen Vorstellungen und Strukturen keine Aufmerksamkeit mehr zu widmen und die Aufmerksamkeit stattdessen auf heilsame, selbsttranszendierende Ideen zu lenken.

      Der Gordische Knoten einer Problemvorstellung muss und kann nicht auf derselben Bewusstseinsebene gelöst oder durchschnitten werden, auf der er geflochten wurde. Ich möchte dies hier darauf beziehen, dass jeder illusionäre Knoten im Bewusstsein geflochten und im Unterbewusstsein festgehalten wird, seine Lösung aber liegt im Gewahrsein und in der entschiedenen Loslösung, dem Durchschneiden der problematisierenden Gedanken. Die intuitive Fähigkeit, das richtige Wort zur richtigen Zeit zu finden, erübrigt lange Analysen, welche ja selbst neue Konstrukte sind. Dieses erlösende Wort kommt spontan aus einem freien und offenen Geist, es kommt vom Herzen, und es zeigt in der fiktiven, vom Denken immer wieder verdichteten, erdichteten Wand der jeweiligen Konstrukte auf die immer offene Tür, die übersehen wurde, weil die Aufmerksamkeit bisher unnötigerweise auf eine gedankliche Struktur oder Erinnerungsspur fixiert war. Es zeigt auf das in diesem Augenblick ganz offene, frische und heile Gewahrsein des in Gedanken und Gefühle verstrickten, Lösungen suchenden Menschen. Es zeigt direkt auf den Himmel, auf den Raum zwischen zwei Gedanken, der unsere wahre, ungeborene Natur ist, während alles andere immer fließend geboren wird und stirbt. »Nur das, was sich nicht verändert, ist wirklich«, so lehrten schon die Upanishaden. »Was ist es, das all dieser vergänglichen Erfahrungen gewahr ist?« Diese Fragestellung führt uns direkt zurück in unsere unvergängliche Mitte und in den Zustand der Luzidität.

      Dr. Roberto Assagioli erklärte die Herangehensweise seines therapeutischen Systems der »Psychosynthese« einmal so: Es gehe darum zu erkennen, dass man einen Körper habe, aber nicht sein Körper sei. Man habe Gefühle, aber sei nicht seine Gefühle. Man habe Wünsche, aber sei nicht seine Wünsche. Man habe einen Geist, aber sei nicht sein Geist – sondern ein Zentrum aus reinem Bewusstsein. Daraus schließe ich, dass Assagioli, inspiriert vom Advaita-Vedanta, bereits in eine Richtung gearbeitet hat, die mir für eine künftige Psychotherapie nun möglich scheint. Ich möchte dabei aber im Sinne des Dzogchen Bewusstsein und Gewahrsein, Psyche und Gewahrsein klar unterschieden wissen und dann die Betonung auf Gewahrsein legen, insofern von dort Heilung kommt – ja, Heilsein in unserem nichtkonzeptuellen Zustand bereits immer verwirklicht ist. Wenn wir nun von dieser grundlegenden Gesundheit ausgehen und bei ihr ansetzen wollen, so ist es gut, von »Gewahrseinstherapie« zu sprechen.

      Energie fließt immer dahin, worauf die Aufmerksamkeit sich richtet. Gewahrseinstherapie vollzieht eine völlige Wende der therapeutischen Sicht- und Vorgehensweise, indem der Fokus des Therapeuten weniger auf die Probleme als auf die ursprüngliche Gesundheit, auf das reine Gewahrsein des Patienten gerichtet ist. Der Patient lernt im Gespräch, wie er seine Gefühle und Gedanken achtsam betrachten kann, ohne auf sie mit Verdrängung, mit Anhaften oder Aversion zu reagieren, und erfährt dadurch Selbstdistanzierung und Freisein von diesen Inhalten. Mithilfe der Fragestellung »Wer ist sich dieser Gefühle und Gedanken gewahr?« kann er direkt in den Zustand reinen Gewahrseins eingeführt werden, der in der grundlegenden Offenheit der Sinne und des Geistes zwar immer gegenwärtig ist, aber bisher übersehen wurde.

      Ist der Patient in der Anwendung dieser Fragestellung instruiert worden, so kann er sie selbst in allen Situationen verwenden und sich so seiner ursprünglichen Freiheit von allen Gefühlen und Gedanken erinnern.

      Die Schwierigkeiten des Hilfesuchenden werden zwar vorsichtig erfragt und gemeinsam betrachtet, die Therapie beschäftigt sich aber nicht weiter mit den Symptomen, sondern weist erstens auf die Möglichkeit hin, die belastenden Inhalte loszulassen, da diese sich ja von selbst auflösen, wenn man sie nicht festhält. Zweitens verweist sie darauf, dass das Gewahrsein des Patienten von diesen immer schon frei ist, weil er fähig ist, sie zu erkennen, weil er ihrer gewahr ist.

      Eine natürliche Distanz zu unserem psychischen Erleben und zu der Vorstellung, die wir von uns selbst haben, also zu unserem vorgestellten oder erfahrbaren Selbst, ist in jedem Menschen bereits immer gegenwärtig. Wir können einen Gegenstand ja auch nur dann sehen, wenn er eine gewisse Distanz zu unserem Auge hat.

      Wie ich schon sagte, ist die Leerheit all unserer Sinne und des ihnen zugrunde liegenden Gewahrseins die Conditio sine qua non aller Wahrnehmung und Vorstellung. Unsere wahre Natur oder unser wahres Selbst ist also nicht etwas, was sich entwickelt oder von uns entwickelt werden kann. Es geht lediglich darum zu entdecken, was wir immer schon sind.

      Diese unsere ursprüngliche Freiheit kann in jeder Wahrnehmungs­situation entdeckt werden. Dieser Raum, in dem alles geschieht, ist immer und überall gegenwärtig – in jeder Situation. Oder besser: Jede Situation geschieht ja nur im Raum. Unsere Leiden können nur bestehen, wenn wir uns auf eine Erfahrung, Idee oder Vorstellung fixieren und den Raum, in dem das Ganze geschieht und in den sich jeder Gedanke ja sofort wieder auflöst, noch nicht oder gerade nicht mehr sehen. Eine solche therapeutisch-initiierende Vorgehensweise setzt natürlich voraus, dass der Therapeut selbst den Zustand nichtkonzeptuellen Gewahrseins gut kennt, selbst darin eine gewisse Stabilität erreicht hat und ihn deshalb einem anderen Menschen aufzeigen kann. Es werden solche meditierenden Psychologen sein – und es gibt sie bereits –, die diesen Ansatz weiterentwickeln werden.

      Einen weiteren solcher Gewahrseinstherapie verwandten Ansatz sehe ich in der Logotherapie von Viktor E. Frankl. Ich weiß nicht viel über seine Lehre, denn mein eigentliches Studiengebiet ist der Buddhismus, nicht die westliche Psychologie, aber es gibt eine interessante Aussage von ihm, die mir zeigt, dass er die Natur des Geistes gesehen hat, ja – dass er ausgehend von dieser »Satori-Erfahrung« wohl seinen Begriff der »Selbst-Transzendenz« entwickelt hat.

      Jemand fragte ihn einmal, was das in wenigen Worten sei, und er antwortete, der Mensch könne sich nur da verwirklichen, wo er sich selbst vergesse. Selbsttranszendenz »seien« unsere Augen: Die Fähigkeit unserer Augen, optisch wahrzunehmen, stehe und falle mit der Unfähigkeit, sich selbst wahrzunehmen, von Spiegelungen von uns selbst abgesehen. In dem Maße, wie unser Auge etwas von sich selbst bemerke und sehe, sei es krank. Wenn man Wolken sehe, sei es grauer Star oder eine Linsentrübung und so weiter. Das normale Auge sehe nicht sich selbst. Genauso sei es mit dem Menschsein. Selbst-Transzendenz heiße, dass der Mensch ganz Mensch werde, genau in dem Maße, in dem er sich selbst übersehe und vergesse. In diesem Maße sei er offen für den Dienst an einer guten Sache, bezogen auf den Sinn oder offen für andere Menschen. Da werde er ganz er selbst.

      In dieser Aussage wird offensichtlich, dass Frankl »sein eigenes Gesicht« geschaut hat, das er bereits hatte, bevor seine Eltern geboren wurden. In einem spontanen Erleuchtungserlebnis hat er eines Tages sich selbst erkannt. Selbstlos ist es, offen, leuchtend, und nichts im Universum wird von ihm zurückgewiesen. Weil unsere wahre Natur leer ist und selbstlos, kann sie alles erkennen und besitzt unbehindertes, grenzenloses Mitgefühl. Sie besitzt ungehinderte Responsibilität und ist erleuchtet vom intuitiven Erkennen des Sinns.

      Buddhismus: Sich selbst studieren

      Der große Zen-Meister des 13. Jahrhunderts Dogen Zenji sagte, die buddhistische Lehre zu studieren bedeute, sich selbst zu studieren. Sich selbst zu studieren bedeute,