Zuhause. Kristof Magnusson

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Название Zuhause
Автор произведения Kristof Magnusson
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783888978326



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raus zu diesem sturmumtosten Arschloch von internationalem Flughafen … Du Idiot! Und ich erst! Ich kam mir vor wie das letzte Schwein, weil ich dich nicht sofort angerufen habe.«

      »Okay, du bist nicht das letzte Schwein. Ich bin das letzte Schwein. Aber du bist das vorletzte Schwein!«

      »Wie meinst du das?«

      »Ich kann wenigstens nichts dafür. Milan hat mit mir Schluss gemacht.«

      »Lárus«, sagte sie, mit einem Lächeln, das mich an Kindergärtnerinnen denken ließ, »das war doch klar.«

      »Was kann ich dafür, dass er sich nicht damit abfinden konnte, dass es schön war?«

      »Das kommt mir irgendwie bekannt vor. Genau das hast du mir gestern vorgeworfen.«

      »Wenigstens mache ich nicht auf einmal alles anders.«

      »Was meinst du damit?«

      »Suppen. Überhaupt. Warum muss immer alles anders sein. Ich dachte, wir sind doch jetzt … «

      »Was?«

      Ich schwieg.

      »Erwachsen? Fertige Menschen?«, sagte Matilda und fragte dann: »Warum hat er dich verlassen?«

      Auf dem Gehweg vor mir platt getretene graue Kaugummis.

      Aus ihren Jackentaschen friemelte Matilda Papierreste und Zigarettensilberfolien, die sie in den Aschenbecher legte, die dann wegflogen. Wieder einmal hatte Matilda verlassen, und ich war verlassen worden. Diesmal waren wir sogar gleichzeitig Single geworden, ohne voneinander zu wissen. Als würden wir über die Entfernung miteinander kommunizieren, ähnlich verschränkten Quantenzuständen. Diskrete Zustände. Auf einmal hatte ich das Gefühl, Matilda sehr nahe zu sein. Vielleicht sahen wir auch deswegen zusammen hässlich auf Fotos aus, weil wir zwei verschiedene Liebeskonzepte verkörperten: Matilda war die Katze, der man hinterherlief. Ich war der Hund, der jemandem auf den Schoß springen und ihm das Gesicht ablecken wollte.

      Ich nahm noch eine Halstablette. Die Plastikfolie um die gelbe Rose in Matildas Hand knisterte. Ich rieb mir die Augen. Matilda sah mich an, lächelte, und ich erschrak ein wenig, denn sie hob nur einen Mundwinkel. Ich kannte dieses halbe Lächeln: Sie sah mich an wie eine wahnsinnige Ingenieurin, die mich entworfen und nun eine neue Fernsteuerung für mich gebaut hatte, mit einem großen roten Knopf darauf, den sie begierig war auszuprobieren. Ein roter Knopf, der mir den Befehl gab, trinkend durch das Land zu ziehen und in einem Anfall von melancholischer Tobsucht die Siedlungen der Schafbauern zu verwüsten und über die Söhne der aufs Meer hinausgefahrenen Fischer herzufallen, wonach man mich ins Hochland verbannen und noch nach Generationen warnend von mir sprechen würde.

      »Komm«, sagte sie und legte einen Arm um mich. »Wir fahren.«

      Zurück in Reykjavík hielten wir bei dem staatlichen Alkoholladen neben IKEA, kauften finnischen Gin und dicken Moorbeerensaft. Dann wurde es fünfzehn Uhr und dunkel. Wir fuhren in meine Wohnung und erklärten den Nachmittag zum Abend.

      »Und was machst du jetzt an Weihnachten?«, fragte Matilda.

      Eine Frau, die mir einmal in Hamburg half, einen Film zu schneiden, hatte ich vor fünf Jahren mit einer ähnlichen Frage sehr aufgeregt. Es war Dezember, und ich fragte sie in einer Rauchpause, ob sie Weihnachten nach Hause fahre. Daraufhin war die Frau, die sechs oder sieben Jahre älter war als ich, so beleidigt, dass sie mich fast mit dem halbfertigen Film aus ihrem Studio geworfen hätte. Was ich denn denke, wo sie zu Hause sei, wenn nicht hier! Sie sei jedes Weihnachten bei sich zu Hause, wo auch immer sie sei, wenn Zuhause nicht sowieso ein Konstrukt sei, genau wie freier Wille und Geschlechter.

      »Ich weiß nicht«, sagte ich.

      Matilda legte Múms Album loksins erum við engin – endlich sind wir niemand auf, das schon ein Klassiker geworden war.

      »Ich finde, das klingt wie die Weiterentwicklung der Musik, die wir als Kinder hörten«, sagte Matilda. Sie hatte Recht. Irgendwas in Múm ließ auch mich an die Zeit denken, als wir noch Musik hörten, von der man große Augen bekam. Bevor wir angefangen hatten, Musik zu hören, zu der man die Augen zusammenkniff und in dunklen Räumen umhersprang. Jetzt waren wir offensichtlich alt genug, um wieder Lust zu haben auf Musik, von der wir große Augen bekamen.

       svefn/sund – schlaf/schwimmen

       grasi vaxin göng – gras bewachsener tunnel

      Es tat gut, Matilda anzusehen. Sie gab mir das Gefühl, dass ich mit ihr wirklich überall hingehen konnte, ohne Angst zu haben, dass sie schockiert oder verärgert wäre. Wir saßen das ganze grasi vaxin göng hinüber still da. Auf einmal kam mir das Lied sehr typisch für das moderne Island vor, das sowohl auf Tunnel als auch auf Grasbewuchs großen Wert legt.

       við erum með landakort af píanóinu – wir haben eine landkarte vom klavier

      »Apropos«, sagte Matilda, ohne dass jemand in den letzten Minuten etwas gesagt hätte. »Ich hab mir das ausgerechnet. Auf Island gibt es 140.000 Männer. Knapp 140.000 Männer. Von denen sind 20.000 zwischen 25 und 35. Von denen sind maximal 2.000 schwul, 10.000 verheiratet, 5.000 hässlich, 1.000 geisteskrank, weitere 1.000 leben im Ausland.«

       ekki vera hrædd, þú ert bara með augun lokuð – habe keine angst, du hast nur die augen geschlossen

      »Was ist mit Frikki?«, fragte ich. »Der ist schwul, geisteskrank und lebt im Ausland.«

      »Ziehen wir den noch ab«, sagte Matilda. »Von den verbleibenden 999 wollen viele nichts von mir.«

      »Ziehen wir zehn ab.«

      »Danke.«

      á bakvið tvær hæðir,,,, sundlaug – hinter zwei hügeln,,,, schwimmbad

      »Ziehen wir 100 ab: 899. Davon lebt die Hälfte nicht in Reykjavík, bleiben 449,5. Da kann man bestimmt noch mal 200 von abziehen, die zwar nicht hässlich sind, aber zu denen ich mich nicht hingezogen fühle: Bleiben 249,5. 200 davon werde ich nie über den Weg laufen. Und wie viele von den verbleibenden 49,5 sind zu betrunken, um zu reden, wenn man sie denn mal trifft? Bleiben 9,5. Von denen sind zwei katholische Priester, einer in irgendeiner Sekte und sechs dauernd auf See. Bleibt ein halber Mann übrig.«

       k/hálft óhljóð – k/halb lärm

      Als wollte sie das Husarenrittartige ihrer Theorie unterstützen, führte sie ihr Glas mit einer so unkontrollierten Kreisbewegung zum Mund, dass der erste Schluck der neuen Mischung in ihr Haar schwappte.

       nú snýr óttinn aftur – nun kommt die furcht zurück

      »Was soll ich denn sagen«, sagte ich. »Gucken wir uns die 2.000 Männer zwischen 25 und 35 an. Von denen hatte die Hälfte noch nicht ihr Coming Out, weil sie in der konservativen Partei sind, verheiratet, katholische Priester oder Judotrainer.«

      Bleiben 1.000. Von denen sind 500 ins Ausland gegangen.«

      »501, mit Frikki«, bemerkte Matilda, und zurecht.

      sundlaug í buskanum – schwimmbad in der ferne

       ég finn ekki fyrir hendinni á mér, en það er allt í lagi, liggðu bara kyrr – ich spüre meine hand nicht mehr, aber das ist in ordnung, lieg einfach ganz ruhig

      »Bleiben 499. Von denen wohnt die Hälfte nicht in Reykjavík: 249,5. Wenn du jetzt die Verliebten und die enttäuschten Wracks abziehst, kannst du das ruhig noch mal durch drei teilen, macht: 83. Von denen ist die Hälfte hässlich oder dumm. 41,5 – von denen wollen 20 nichts von mir, und weitere 20 sind Stewards, Piloten und Seemänner, daher nie da. Bleiben 1,5 Männer.«

       loksins erum við engin – endlich sind wir niemand

      »Das ist besser als bei mir«, sagte Matilda.

      »Aber einer davon bin ich«, sagte ich.

       sveitin