Zuhause. Kristof Magnusson

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Название Zuhause
Автор произведения Kristof Magnusson
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783888978326



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nahm. Langsam wirkten die Tabletten, und die nach Beton schmeckende Limonade überdeckte den Holzgeschmack des selbst gebrannten Gins. Ich fuhr einen Mazda 323, der fünfzehn Jahre alt war, doch den Spoiler und die Aufschrift GTI auf der Kofferraumklappe immer noch mit Würde trug. Ich hatte ihn von einem Rocker mit schütterer blonder Mähne gekauft, dem die Polizei den Führerschein entzogen hatte. Ganze Winter konnte ich ihn hier stehen lassen, und er sprang immer wieder an, obwohl der Tacho schon vor zwei Jahren beim Stand von 205.323 Kilometern den Geist aufgegeben hatte. Dass ein Mazda mit einem so guten Motor keine einfache Persönlichkeit haben konnte, war klar. Da war zum Beispiel die Zentralverriegelung, die alle Türen automatisch öffnete, aber keine wieder verschloss. Der Regen fiel jetzt kreuz und quer. Mitten in der unendlichen Dunkelheit zeichnete plötzlich ein Schild mit roten Neonröhren das Wort Motel in die Einöde wie eine Botschaft von David Lynch. Dann kamen zwei Tankstellen, die amerikanische Kaserne, die First Baptist Church und die Stadt Keflavík, die als Liverpool Islands galt, weil sie viele Rockbands hervorgebracht hatte. There’s a plane at JFK, to fly you back from far away, all those dark and frantic transatlantic miles, sang Neil Tennant. Als wir auf den Parkplatz vor dem Ankunftsgebäude fuhren, trommelte der vom Wind getriebene Regen unregelmäßig auf mein Autodach. Matilda hatte mir in ihrem Auto erzählt, dass sie Svend verlassen hatte. Nun musste ich ihr in meinem Auto erzählen, dass Milan mich verlassen hatte. Doch Matilda war bereits ausgestiegen.

      Ich beugte mich nach hinten, um die abgegriffenen schwarzen Knöpfe an den hinteren Türen herunterzudrücken. Dann stieg auch ich aus. Ich hatte mich, schief gegen den Wind gelehnt, schon auf den Weg zum Ankunftsgebäude gemacht, da rief Matilda mir hinterher:

      »Hey! Wollen wir keine Gepäckkarre nehmen?«

      »Ja doch, klar«, sagte ich und holte einen Gepäckwagen, an dem vorne ein Plastikschild mit der Aufschrift Willkommen zu Hause wünscht VISA hing, das sich im immer gleichen Abstand vor mir her bewegte, obwohl ich Schritt für Schritt darauf zuging. »Willkommen zu Hause«, hatte der isländische Zollbeamte gestern zu mir gesagt, nachdem er in meinen Pass gesehen hatte. Dann hatte er genickt, wie um meine Zweifel zu zerstreuen. Die Stewardess hatte das auch schon gesagt: »Willkommen zu Hause«, und dann hatte ich genau so einen Gepäckwagen bekommen.

      Wir betraten die Ankunftshalle: Autovermietungen, eine Geldwechselstube, eine Touristeninformation – ein merkwürdiger Ort für die unausweichliche Wahrheit.

      »Guck mal, er ist pünktlich! Trotz des Sturms«, sagte Matilda. Ihre Rose hielt sie nach oben. Ich kannte auf Island niemanden, der Blumen nach unten hielt wie es die Deutschen taten.

      »Freust du dich nicht, Lárus?« Ich nahm ihren Arm. »Lárus? Ich habe nochmal darüber nachgedacht. Es tut mir leid, dass ich dir das nicht gleich gesagt habe. Mit Svend. Wo du dich doch so gefreut hast, auf Weihnachten mit uns. Ich wollte das nur … aus der Welt räumen. Bevor Milan kommt.«

      Wir standen vor der großen holzverkleideten Automatiktür, die sich gelegentlich zur Seite schob und einen kurzen Blick auf die Zollbeamten erlaubte und auf die Fluggäste, die an den Bändern auf ihr Gepäck warteten. Dann glitt die Tür wieder zu, und es war, als müsste man Geld einwerfen, um einen erneuten Blick zu bekommen.

      »Die ganze Welt, alles, ist poetry«, hatte meine Schwester Erla einmal in einer Regionalbahn zu mir gesagt und dazu auf eine halb volle Flasche Schokomilch gezeigt, in der zwei Zigarettenkippen verschiedener Marken schwommen. Sie rauchte. Ich war dafür noch zu jung, aber alt genug, dass sie mir auf die Nerven ging auf den fünfundvierzig Minuten zwischen Tornesch und Hamburg-Altona; mit ihrem Gerede über die Macht des Schicksals und dieser ewigen, elendigen Mentholzigarettenraucherei. Ich dachte nicht oft an Erla, doch in diesem Moment fiel sie mir ein, weil sie öfter E-Mails von ihren Buddhistenfreunden oder anderen vernetzten Positivdenkern an mich weiterleitete. Neulich machte mich eine solche E-Mail darauf aufmerksam, dass es dumm sei, sich Sorgen zu machen. Sorgen hätten zur Folge, dass es einem schlecht ginge, und in der Zukunft ginge es einem dann auch schlecht, weil man sich daran erinnern würde, wie schlecht es einem damals gegangen sei. Machte man sich hingegen keine Sorgen, könnte dies der beste Tag des ganzen Lebens sein und alle folgenden Tage auch, weil man sich dann an den Tag erinnere, an dem man sorglos gewesen sei. Das Leben sei gewissermaßen die Kunst, einen besten Tag an den nächsten zu reihen, weil der Mensch hauptsächlich aus Erinnerungen bestehe.

      Vielleicht war es also doch eine gute Idee gewesen, dass ich mit aller Kraft versucht hatte, die letzte Zeit zu vergessen. Bei den beiden Freunden vor Milan hatte es immerhin funktioniert. Sofort nachdem sie mich verließen, zwang ich mich, an etwas anderes zu denken, sobald sie mir in den Kopf kamen. Auch Dinge, die ich in diesen Zusammen-Zeiten alleine erlebt hatte: Kinobesuche, Bücher, kleine Reisen – alles bekam einen Betonfuß und wurde versenkt. Ich behandelte meine Erinnerungen wie die Mafia ihre Mordopfer. Sogar die Filme, die ich in diesen Zeiten gemacht hatte, sah ich nie wieder an, weil sie mich daran erinnert hätten, wer damals so untrennbar zu mir gehörte. Dadurch hatte jede Liebe ganze Jahre meines Lebens rückwirkend kontaminiert. Was von meinem Leben übrig blieb, waren die Zeiten, in denen ich alleine war. Die Alleine-Zeiten, die Matilda-Zeiten.

      Die Holztür zur Ankunftshalle schob sich erneut auf. Als Erstes kam eine nach geologischen Vorkenntnissen aussehende Reisegruppe hindurch: Ein knappes Dutzend älterer Frauen in knitterfreien Hosen, mit Bergstiefeln und Wanderstöcken, die erbarmungslose Fitness ausstrahlten. Ihnen folgten ähnlich gekleidete Männer, wobei es insgesamt weniger Männer waren als Frauen. Wer zu wem gehörte, ließ sich an den Farben der Allwetterjacken zuordnen. Ich stand neben einem Mann in einem Fleecepullover, der ein Schild mit der Aufschrift »Mr. Schulz for Lundi Tours« in den Händen hielt. Es gab viele solcher Männer mit Schildern: »Lucio Gregoretti, LTU Hotel-Transfer, Mrs. Minwhi Lee«. Nachdem alle diese Menschen erschienen waren, überlegte ich einen Moment, mir ein Schild mit der Aufschrift »Milan« zu schreiben.

      »Vielleicht kauft er sich noch was, oben, zollfrei«, sagte ich.

      Als nach Milans Flugzeug auch die Maschinen aus Oslo, Helsinki und London gelandet waren, wollte Matilda ihn ausrufen lassen, da spürte ich, wie sich die Wahrheit nicht mehr unterdrücken ließ. Ich hatte meine Wohnung verlassen, die Stadt und schließlich das Land. Hier war das Ende der Halbinsel Reykjanes. Weiter konnte ich nicht mehr fliehen. Ich konnte nicht mal ein Flugzeug nehmen, denn das hier war die Ankunftshalle.

      »Wir können fahren.« Ein Nilpferd sprang auf mein Herz. Auf den Flügeln der Drehtür stand »Nicht anfassen«.

      Draußen blieb ich an einem der Betonaschenbecher stehen. Irgendwo dort in der Dunkelheit, auf den weiten Lavafeldern, hatten die Amerikaner vor über dreißig Jahren ihre Mondautos ausprobiert.

      »Er hat mich verlassen.«

      »Wann?«

      »Vorgestern.«

      »Das erzählst du mir jetzt?«

      »Es war nicht ganz eindeutig.«

      »Inwiefern?«

      »Er hat mir den Zweitschlüssel zu meiner Wohnung zurückgegeben.«

      »Klingt ziemlich eindeutig.«

      »Er hat nur gesagt, er macht Schluss. Er hat nicht gesagt, er macht Schluss mit mir.«

      »Lárus … «

      »Ich dachte, man soll die Dinge nicht unnötig dramatisieren.«

      »Idiot!«

      Matilda sprach deutlich lauter als sie musste, um den Lärm der Flugzeugturbinen zu übertönen.

      »Ich habe dir nichts verheimlicht«, sagte ich.

      »Du hast tagelang direkt vor meiner Nase den glücklich verliebten Helden gespielt …«

      »… einen Tag.«

      »… einen Tag den glücklich verliebten Helden gespielt.«

      »Ich habe nichts gespielt. Ich habe mir nur vorgestellt, dass ich nicht alleine bin, sondern nur woanders«, sagte ich.

      »Und mir ein schlechtes Gewissen gemacht. Ein doppelt schlechtes Gewissen sogar: Erstens, weil ich mit Svend Schluss