Wirtschaft, die arm macht. Horst Afheldt

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Название Wirtschaft, die arm macht
Автор произведения Horst Afheldt
Жанр Зарубежная деловая литература
Серия
Издательство Зарубежная деловая литература
Год выпуска 0
isbn 9783888979194



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mit seinen weitgehend zerstörten Städten, zerstörten Straßen und Eisenbahnen, seinen zerstörten oder demontierten Fabriken in ein funktionierendes Industriesystem erforderte eine Unzahl von Investitionen, ehe sich bei den Verbrauchern Wohlstand einstellen konnte. Einem funktionierenden Industriesystem müsste lineares Wachstum daher erst recht reichen. Es müsste mit sehr viel weniger Wachstum wachsenden Wohlstand schaffen können. Es sei denn, das Wirtschaftssystem lenkt die Erträge in Sackgassen.

      Welche Rolle spielt die Konjunktur?

      Und die »Konjunktur«, die berühmte, die »lahmt« oder »nicht anspringen will« – wo kommt die in diesem Bild (Grafik A) vor? Sie zeigt sich an den Punkten und Sternchen der realen gemessenen Sozialprodukte. Ist sie einmal »gut oder sehr gut«, liegen diese Punkte nahe an der Geraden – oder darüber, wenn der Vorjahreswert schon nahe oder über der Geraden lag. Wenn sie dann »lahmt«, sinken die Werte wieder. Wie eben jetzt.

      1974/75 zum Beispiel war das jährliche Wachstum gleich o (1974) und sogar negativ (1975: -1%). In den Jahren 1976–1979 folgten hohe jährliche Wachstumsraten und brachten das Sozialprodukt wieder auf »seine Linie«. Die Jahre 1980–1982 zeigten abermals schwaches bis negatives Wachstum. Die Punkte sanken unter die »Linie« und verlief dann bis 1987 »auf dem alten Kurs« nur etwas unterhalb parallel zur »Linie«. Erst die Jahre 1988–1992 brachten mit herausragend hohen jährlichen Wachstumsraten das Sozialprodukt wieder zurück auf seine seit 1950/60 bekannte »Linie«. (Was eigentlich nicht auf ein besonders schweres Opfer für die deutsche Einheit hindeutet.)

      Das Sozialprodukt des vereinigten Deutschland (Sternchen) ab 1991 liegt dann natürlich höher als die Linie der alten Bundesrepublik. Aber alsbald zeigte sich: Der Anstiegswinkel ist der alte. Die Entwicklung verläuft nun zwar etwas oberhalb, aber wieder parallel zur altbekannten »Linie«.

      Das Auf und Ab der Konjunktur ist nicht bedeutungslos. Auch die Arbeitslosenzahlen sinken und steigen mit steigender oder sinkender Konjunktur (konjunkturelle Arbeitslosigkeit). Aber diese Schwankung ist weltweit sehr begrenzt.19 Für die Bundesrepublik schätzt man diesen konjunkturellen Anteil an der Arbeitslosigkeit auf etwa 600 000 Personen. Ob über eine halbe Millionen Menschen mehr oder weniger arbeitslos sind, ist selbstverständlich alles andere als unwichtig. Doch gemessen an dem »Sockel der strukturellen Arbeitslosigkeit«, der von der Konjunktur unbeeinflusst bleibt – und seit 20 Jahren wächst –, das sekundäre Problem.

      Was aber keinesfalls bedeuten darf, das Problem der Konjunktur als unwichtig beiseite zu schieben. Diese Konjunktur ist nun nicht allein von den äußeren Bedingungen des Weltmarkts diktiert. Sie ist beeinflussbar. Steuersenkungen, die mehr Kaufkraft bei der Bevölkerung lassen, können sie ebenso positiv beeinflussen wie Lohnerhöhungen. Steuersenkungen, die dazu führen, dass die öffentliche Hand ihre Nachfrage nach Investitionen einschränken oder Angestellte und Beamte frühpensionieren, Gehälter, Weihnachtsgelder oder Pensionen senken muss, »würgen die Konjunktur ab« – wie Brünings Notverordnungen Ende der 20er Jahre.20 Steuern auf hohe Einkommen oder Vermögen und Einsatz dieser Steuermittel für Zukunftsaufgaben, Schulen, Universitäten, öffentlichen Nahverkehr, Kindergärten, schaffen Arbeitsplätze und dienen so der Konjunktur – oder schaden ihr, wenn sie die Kapitalbesitzer verscheuchen.

      Mehr Wachstum als das, was erzielt wurde, war nicht zu erreichen – und wird nach allen Erfahrungen in allen Industrienationen aller Voraussicht nach auch in der Zukunft nicht zu erreichen sein. Weniger ist allerdings sehr wohl möglich. Wenn die Nachfrage nachhaltig absinkt, gibt es auch weniger Gewinne und weniger Investitionen. Dauerhaft sinkende Masseneinkommen – aus welchen Gründen auch immer – führen so zu einer Wirtschaftsentwicklung deutlich unter der Linie, sie vereiteln die zur Korrektur notwendigen Phasen übernormalen Wachstums.

      Der Traum vom ewigen Wachstum – ein Alptraum?

      Stetiges exponentielles Wachstum mit den jährlichen Wachstumsraten der ersten Nachkriegsperiode ist also eine Fata Morgana. Aber ein solches Wachstum hätte ohnedies zu vollständig unsinnigen Folgen geführt. Wirtschaftlich und ökologisch. Hätte jede deutsche Familie vielleicht ein von Straßen und Plätzen startfähiges kleines Privatflugzeug21 in der Garage haben sollen, um dem hoffnungslosen Lastwagenstau zu entgehen? In »Wohlstand für niemand?« schrieb ich 1993:22

      » … der feste Glaube an exponentielles Wachstum war bis weit in die 70er Jahre unantastbare Bedingung dafür, in der wissenschaftlichen Diskussion der Ökonomen ernstgenommen zu werden.23 Und aus diesem Glauben wurden für Politik, Technik und Umwelt folgenschwere Entscheidungen abgeleitet. Wenn die Wirtschaft exponentiell wachsen sollte, dann mußte z.B. nach der damals herrschenden Lehre auch der Energieverbrauch exponentiell wachsen.24 Denn, so lautete ein weiterer Glaubenssatz: Energieverbrauch und Wirtschaftswachstum sind fest aneinander gekoppelt. Noch 1978 erwarteten daher die Institute DIW und RWI sowie das Energiewissenschaftliche Institut der Universität Köln bei einem exponentiellen Wirtschaftswachstum von 3,2–4% jährlich ein Wachstum des Stromverbrauchs zwischen 4,2% und 5,6%. Diese Schätzungen wurden dann dem damaligen Energieprogramm der Bundesregierung zugrunde gelegt.

      Die Schätzungen der frühen 70er Jahre lagen noch höher. So beruhte das Kernenergieprogramm der sozialliberalen Koalition auf der Annahme, der Stromverbrauch müsse jährlich um 7% steigen. Was bedeutet hätte, daß er sich bis 1985 auf das 15fache, bis 2000 auf das 42fache und bis 2030 auf das 319fache hätte steigern müssen. Der bekannte Physiker Alwin A. Weinberg berechnete damals den Energiebedarf der Welt und kam zu dem Resultat: Wenn die Weltbevölkerung sich auf einem Niveau von 15–20 Milliarden Menschen stabilisiert, kann ihr Energie- und Rohstoffbedarf gedeckt werden, wenn jährlich 1000 Kernkraftwerke auf- und nach 30-jähriger Betriebsdauer abgebaut werden.25 Wenn man sich spaßeshalber vorstellt, daß dann jeden Tag in der Welt drei Kernkraftwerke hätten gebaut und abgerissen werden müssen, wird der Unsinn solcher Annahmen andauernden exponentiellen Wachstums offensichtlich.«26

      Doch dieses ewige Wirtschaftswachstum findet nicht statt. Es gibt offensichtlich innere, ökonomische Grenzen des Wachstums. Die Horrorvorstellung des Club of Rome, der der Wirtschaft ökologische Grenzen des Wachstums entgegenhielt, war – zum Glück – ein Trugbild.

      Auf mehr als das bisherige lineare Wachstum zu setzen heißt deshalb, auf Wunder zu hoffen. Die Wirtschaftspolitik einer Nation auf ein Wunder zu gründen, widerspricht so evident der wirtschaftlichen Erfahrung, dass zumindest von grober Fahrlässigkeit gesprochen werden muss.

      Aber selbst wenn es dieses »Wachstumswunder« gäbe, würden die Probleme unserer Volkswirtschaft dadurch nicht gelöst. Denn nicht nur das ewige Wachstum, sondern auch die Umsetzung von Wirtschaftswachstum in »Wohlstand für alle« entpuppte sich als Fata Morgana.

      Warten auf Wachstum für Arbeitsplätze

      ist Warten auf Godot

      Arbeitslosigkeit, Pleite der öffentlichen Hand und schnell wachsende Ungleichheit kennzeichnen die Krise des »Sozialstaats BRD« zum Jahrtausendbeginn. Das Aufbrechen verkrusteter Strukturen am Arbeitsmarkt, Steuersenkungen und allgemein weniger Pessimismus sollen die Wirtschaft ankurbeln, den Aufschwung bringen. Aufschwung schafft neues Wirtschaftswachstum und damit Arbeitsplätze. Wer glaubt das etwa nicht – wo es doch jeden Tag in den Zeitungen steht?

      Nur: Selbst die Verdopplung des Sozialprodukts von Anfang der 70er Jahre bis zur Jahrtausendwende war mit zunehmender Arbeitslosigkeit, öffentlicher Armut und wachsender Ungleichheit verbunden. 1993 schrieb ich in »Wohlstand für niemand?«:

      »Seit mehr als zwei Jahren erinnert das Stück, das Wirtschaftswissenschaftler, Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsjournalismus aufführen, auffallend an Becketts Godot. Da wird ausgeschaut und ausgeschaut, der Aufschwung angekündigt, immer wieder sieht man einen Silberstreif im beginnenden Wirtschaftsaufschwung in den USA. Hoffen, die zentralen Probleme Abwanderung von Industrie, Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung würden sich durch eine Konjunkturbesserung lösen, wird so zum Warten auf Godot – und