Winzige Gefährten. Ed Yong

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Название Winzige Gefährten
Автор произведения Ed Yong
Жанр Математика
Серия
Издательство Математика
Год выпуска 0
isbn 9783956142482



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versichert er mir.

      Der Zoowärter zeigt uns eine Kolonie von Nacktmullen. Die kleinen Nagetiere rennen in einem System aus miteinander verbundenen Plastikröhren herum. Es sind höchst unattraktive Tiere – sie sehen aus wie runzelige Würstchen mit Zähnen. Außerdem sind sie unglaublich seltsam: Unempfindlich gegen Schmerzen, resistent gegen Krebs, außerordentlich langlebig und kaum in der Lage, ihre Körpertemperatur zu steuern, besitzen sie auch noch missgebildete unfruchtbare Spermien. Sie leben wie Ameisen in Kolonien mit Königin und Arbeiterinnen. Außerdem graben sie Gänge, und deshalb sind sie für Knight interessant. Er hat sich gerade ein Forschungsstipendium gesichert, um die Mikrobiome von Tieren zu erforschen, die bestimmte Aspekte ihrer Lebensweise gemeinsam haben: Graben, Fliegen, Leben im Wasser, Anpassung an Hitze oder Kälte und auch Intelligenz. »Es ist ein recht spekulativer Gedanke, aber vielleicht liefern die Mikroben ja mit bereits vorhandenen Anpassungen die Energie, die man braucht, um solche exotischen Dinge zu tun«, sagt er. Spekulativ sicher, aber nicht allzu weit hergeholt. Mikroorganismen haben den Tieren so manche Tür geöffnet und sie in die Lage versetzt, sich alle möglichen eigenartigen Lebensweisen zu eigen zu machen, die ihnen sonst verschlossen geblieben wären. Und wenn Tiere die gleichen Gewohnheiten haben, stimmen häufig auch ihre Mikrobiome überein. Knight und seine Kollegen konnten beispielsweise nachweisen, dass Tiere, die Ameisen fressen, darunter Schuppentiere, Gürteltiere, Ameisenbären, Erdferkel und Erdwölfe (eine Art von Hyänen), in ihrem Darm ähnliche Mikroorganismen besitzen, obwohl sie schon seit rund 100 Millionen Jahren in ihrer Evolution voneinander unabhängig sind.24

      Wir kommen an einem Rudel Erdmännchen vorbei. Manche von ihnen stehen aufrecht und halten Wache, andere spielen zusammen. Das einzige unter ihnen, das Knight vielleicht abtupfen könnte, ist das einsame Weibchen – die Matriarchin der Gruppe –, aber sie ist alt und herzkrank. Das ist nichts Ungewöhnliches. Erdmännchen greifen manchmal die Jungen von Artgenossen an oder verlassen den eigenen Nachwuchs; wenn das geschieht, greift der Zoo ein, und die Jungtiere werden mit der Flasche großgezogen. Dann überleben sie zwar, aber wie der Zoowärter uns berichtet, bekommen sie im Alter häufig Herzprobleme. Die Gründe kennt man nicht. »Das ist sehr interessant«, sagt Knight. »Wissen Sie irgendetwas über die Milch von Erdmännchen?« Die Frage stellt er, weil die Milch von Säugetieren besondere Zuckerverbindungen enthält, die das Junge selbst nicht verdauen kann, während bestimmte Mikroorganismen dazu in der Lage sind. Wenn eine Menschenmutter ihr Kind stillt, füttert sie es nicht nur, sondern sie versorgt es auch mit den ersten Mikroben und sorgt so dafür, dass die richtigen Pioniere sich in seinem Darm ansiedeln. Knight fragt sich, ob das vielleicht auch für Erdmännchen gilt. Beginnt das Leben der verlassenen Jungtiere mit den falschen Mikro organismen, weil sie nicht die Milch ihrer Mutter bekommen? Und wirken sich diese frühzeitigen Veränderungen im späteren Leben auf die Gesundheit aus?

      Knight arbeitet bereits an anderen Projekten, mit denen er die Gesundheit der Zootiere verbessern will. Als wir an einem Käfig mit Silbernen Haubenlanguren – hübschen Kleinaffen mit zinngrauem Fell und silbrigem Gesichtsflaum – vorbeikommen, erzählt er mir, dass er derzeit herauszufinden versucht, warum manche Kleinaffenarten in Gefangenschaft so häufig an einer Entzündung des Dickdarms (Colitis) leiden, während dies bei anderen nicht der Fall ist. Es gibt stichhaltige Gründe für die Annahme, dass Mikroorganismen dabei eine Rolle spielen. Bei Menschen sind entzündliche Darmerkrankungen in der Regel von einer übergroßen Menge an Bakterien begleitet, die das Immunsystem anregen, während an denen, die es in die Schranken weisen, Mangel herrscht. Ähnliches beobachtet man auch bei mehreren anderen Gesundheitsstörungen, so bei Fettleibigkeit, Diabetes, Asthma, Allergien und Dickdarmkrebs. Man kann sich solche gesundheitlichen Probleme als ökologische Störungen vorstellen: Schuld ist nicht ein einzelner Mikroorganismus, sondern eine ganze Lebensgemeinschaft ist in einen ungesunden Zustand übergegangen. In solchen Fällen hat die Symbiose nicht funktioniert. Und wenn derart verformte Mikrobiome tatsächlich die verschiedenen Krankheiten verursachen, sollte es möglich sein, die Gesundheit durch Eingriffe in die Gemeinschaft der Mikroorganismen wiederherzustellen. Und selbst wenn die Lebensgemeinschaften der Mikroben sich erst als Folge einer Erkrankung verändern, könnten sie nützlich für die Diagnose einer Störung sein, bevor die Symptome offenkundig werden. Genau darauf hofft Knight bei den Kleinaffen: Er vergleicht Tiere verschiedener Arten mit und ohne Darmentzündung; damit will er herausfinden, ob die Krankheit charakteristische Kennzeichen hat, an denen Zoowärter ein symptomfreies, aber gefährdetes Tier erkennen können. Mithilfe solcher Studien werden wir eines Tages möglicherweise auch besser verstehen, wie sich das Mikrobiom bei Menschen mit entzündlichen Darmerkrankungen verändert.

      Schließlich gehen wir in ein Hinterzimmer, in dem mehrere Tiere vorübergehend untergebracht und den Augen der Öffentlichkeit entzogen sind. Einer der Käfige beherbergt einen riesigen Schatten: ein Tier von einem Meter Länge mit schwarzem Pelz, das die Form eines Wiesels und den Gesichtsausdruck eines Bären hat. Es ist ein Binturong, eine große, struppige Schleichkatze, die Gerald Durrell einmal als »schlecht gemachten Kaminvorleger« bezeichnete. Der Zoowärter geht davon aus, dass wir ihm Gesicht und Füße leicht abtupfen können, aber die eigentliche Aktion findet weiter unten statt. Binturongs haben beiderseits des Anus besondere Duftdrüsen, und der Geruch, den sie ausströmen, erinnert an Popcorn. Auch hier sind es aller Wahrscheinlichkeit nach Bakterien, die die Düfte erzeugen. Wissenschaftler haben bereits die Gerüche charakterisiert, die von Mikroben erzeugt werden und aus den Duftdrüsen von Dachsen, Elefanten, Erdmännchen und Hyänen dringen. Der Binturong wartet noch!

      »Können wir den Anus abtupfen?«, frage ich.

      Der Zoowärter betrachtet das furchterregende Tier in dem Käfig und wendet seinen Blick dann langsam wieder uns zu. »Eher … nicht«, sagt er.

      Wenn wir das Tierreich durch die Brille der Mikroorganismen betrachten, gewinnen selbst die vertrautesten Bereiche unseres Lebens eine erstaunliche neue Ausstrahlung. Wenn eine Hyäne ihre Duftdrüsen an einem Grashalm reibt, hinterlassen die Mikroorganismen dort ihre Autobiografie, sodass andere Hyänen sie lesen können. Eine Erdmännchenmutter säugt ihre Jungen und baut in deren Darm eine eigene Welt auf. Ein Gürteltier verschluckt einen Mundvoll Ameisen und füttert damit eine billionenköpfige Lebensgemeinschaft, von der es im Gegenzug mit Energie versorgt wird. Wenn ein Langur oder ein Mensch erkrankt, hat er ganz ähnliche Probleme wie ein See, der von Algen erstickt wird, oder eine Wiese, auf der das Unkraut wuchert – die Ökosysteme sind aus dem Gleichgewicht. Unser Leben wird stark von äußeren Kräften beeinflusst, die eigentlich in unserem Inneren liegen, von Billionen Wesen, die von uns getrennt und doch ganz und gar ein Teil von uns sind. Duft, Gesundheit, Verdauung, Entwicklung und Dutzende weitere Aspekte, die angeblich zur Domäne des Individuums gehören, sind in Wirklichkeit die Folge eines komplexen Wechselspiels zwischen Wirt und Mikroorganismen.

      Wie können wir angesichts dessen, was wir wissen, überhaupt ein Individuum definieren?25 Beschreibt man das Individuum anatomisch als den Besitzer eines bestimmten Körpers, muss man einräumen, dass die Mikroorganismen den Raum mit ihm teilen. Man könnte es mit einer Definition auf der Grundlage der Entwicklung versuchen: Dann ist ein Individuum alles, was aus einer einzigen befruchteten Eizelle hervorgeht. Aber auch das funktioniert nicht, denn der Körper mancher Tiere – von Tintenfischen über Mäuse bis zu Zebrafischen – wird auf der Grundlage von Anweisungen aufgebaut, die sowohl in ihren eigenen Genen als auch in ihren Mikroorganismen codiert sind. In einer sterilen Blase würden sie nicht normal heranwachsen. Man könnte eine physiologische Definition zur Debatte stellen, in der das Individuum aus Teilen – Geweben und Organen – besteht, die zum Wohle des Ganzen kooperieren. Das stimmt schon, aber wie steht es mit Insekten, in denen Bakterien- und Wirtsenzyme bei der Herstellung lebenswichtiger Nährstoffe zusammenwirken? Diese Mikroben sind in jedem Fall ein Teil des Ganzen, und ein unentbehrlicher Teil noch dazu. Die gleichen Probleme wirft eine genetische Definition auf, wonach ein Individuum aus Zellen besteht, denen das gleiche Genom gemeinsam ist.

      Jedes einzelne Tier enthält sein eigenes Genom, darüber hinaus wirken sich aber auch viele Mikrobengenome auf sein Leben und seine Entwicklung aus. In manchen Fällen können die Genome von Mikroorganismen sich auf Dauer im Genom des Wirtsorganismus festsetzen. Ist es demnach wirklich sinnvoll, sie als eigenständige Gebilde zu betrachten? Wenn wir mit unserem Latein am Ende sind, können wir den Schwarzen Peter dem Immunsystem zuschieben,