Winzige Gefährten. Ed Yong

Читать онлайн.
Название Winzige Gefährten
Автор произведения Ed Yong
Жанр Математика
Серия
Издательство Математика
Год выпуска 0
isbn 9783956142482



Скачать книгу

dass man sie nicht nur zerstörte oder unterdrückte, sondern auch studierte. Aber das war einfacher gesagt als getan. Schon damals war klar, dass unsere Mikroorganismen entmutigend große Lebensgemeinschaften bilden. Theodor Escherich, der Entdecker des Bakteriums E. coli, das zu einer Hauptstütze der Laborwissenschaft werden sollte, sagte einmal: »Es scheint eine sinnlose, zweifelhafte Übung zu sein, die offenbar zufällig auftretenden Bakterien in normalem Stuhl und im Verdauungstrakt zu untersuchen und zu entwirren, wo sie in einer Situation sind, die anscheinend von tausend Zufällen abhängig ist.«16

      Dennoch taten Escherichs Zeitgenossen, was sie konnten. Schon hundert Jahre bevor Mikrobiom zum Schlagwort wurde, charakterisierten sie Bakterien aus Katzen, Hunden, Wölfen, Tigern, Löwen, Pferden, Rindern, Schafen, Ziegen, Elefanten, Kamelen und Menschen.17 Sie skizzierten die Grundzüge des mikrobiologischen Ökosystems im Menschen, und das mehrere Jahrzehnte bevor das Wort »Ökosystem« 1935 überhaupt geprägt wurde. Sie zeigten, dass sich von Geburt an in unserem Organismus Mikroorganismen ansammeln und dass in den einzelnen Organen unterschiedliche Arten die Vorherrschaft haben. Sie erkannten, dass insbesondere der Darm reich an Mikroorganismen ist und dass seine Bewohner sich verändern, wenn die Tiere unterschiedliche Nahrung zu sich nehmen. Kendall bezeichnete den Darm 1909 als »einzigartig vollkommenen Brutschrank« für Bakterien, deren Tätigkeiten »nicht in aktivem Gegensatz zu denen des Wirtes stehen«.18 Sie mochten vielleicht opportunistisch Krankheiten verursachen, wenn die Widerstandskraft des Wirtes geschwächt war, aber ansonsten waren sie harmlos.

      Konnten sie möglicherweise auch nützlich sein? Genau das glaubte paradoxerweise Pasteur, der Mann, der überhaupt erst die Waffe für die langwierige Schießerei mit den Mikroben entsichert hatte. Er vertrat die Ansicht, Bakterien könnten für das Leben hilfreich oder vielleicht sogar unentbehrlich sein, denn man wusste bereits, dass der Magen einer Kuh die Cellulose aus Pflanzen verdaut und nahrhafte Säuren produziert, die das Wirtstier dann aufnimmt. Kendall äußerte die Vermutung, die Mikroorganismen im Darm des Menschen könnten ihrem Wirt helfen, indem sie fremde Bakterien bekämpfen und verhindern, dass diese Fuß fassen (dass sie eine Rolle für die Verdauung spielen, bezweifelte er allerdings).19 Der russische Nobelpreisträger Elias Metschnikoff trieb diese Sichtweisen ins Extrem. Er wurde einmal als »hysterischer Charakter aus einem Roman von Dostojewski« bezeichnet20 und war ein Musterbeispiel des inneren Widerspruchs: Einerseits versuchte er als abgrundtiefer Pessimist mindestens zweimal, sich das Leben zu nehmen, andererseits schrieb er ein Buch mit dem Titel Beiträge zu einer optimistischen Weltauffassung. In diesem 1908 erschienenen Buch projizierte er seine eigenen Widersprüche auf die Welt der Mikroorganismen.

      Einerseits erklärte Metschnikoff, Darmbakterien würden Giftstoffe produzieren, die Krankheit, Senilität und Alterung verursachen und »die Hauptursache für die kurze Dauer eines Menschenlebens« seien. Andererseits glaubte er aber auch, manche Mikroorganismen könnten das Leben verlängern. In diesem Punkt bezog er seine Anregung von bulgarischen Bauern, die regelmäßig Sauermilch tranken und weit über hundert Jahre alt wurden. Die beiden Aspekte, so Metsch ni koff, hingen zusammen. Die gärende Milch enthielt Bakterien, dar unter eine Art, die er als bulgarischen Bazillus bezeichnete. Diese stellten Milchsäure her, die im Darm der Bauern die schädlichen, lebensverkürzenden Mikroorganismen abtötete. Metschnikoff war von seiner Idee so überzeugt, dass er anfing, selbst regelmäßig Sauermilch zu trinken. Andere wiederum waren von dem angesehenen Wissenschaftler Metschnikoff so überzeugt, dass sie es ihm nachmachten. (Seine Behauptungen führten sogar dazu, dass künstliche Darmausgänge in Mode kamen, und inspirierten Aldous Huxley zu seinem Roman Nach vielen Sommern: Darin spritzt sich ein Hollywoodmagnat den Darm von Karpfen, um so die Mikroorganismen in seinem eigenen Darm zu verändern und die Unsterblichkeit zu erlangen.) Natürlich tranken Menschen schon seit Jahrtausenden vergorene Milchprodukte, aber jetzt dachten sie dabei an die Mikroorganismen. Die Mode überlebte Metschnikoff: Er starb mit einundsiebzig Jahren an Herzversagen.

      Aber trotz aller Bemühungen von Kendall, Metschnikoff und anderen kam die Erforschung der symbiontischen Bakterien von Menschen und anderen Tieren durch die zunehmende Konzentration auf Krankheitserreger unter die Räder. Die Öffentlichkeit wurde durch Gesundheitstipps ermutigt, Keime mit bakterientötenden Produkten und übertriebener Hygiene von ihrem Körper und aus der Umgebung zu entfernen. Zur gleichen Zeit wurden die ersten Antibiotika entdeckt und in großen Mengen hergestellt, Wirkstoffe, die sowohl die Keime als auch alles, was darüber berichtet wurde, hinwegfegten. Endlich hatten die Menschen eine Chance, diese winzigen Feinde zu besiegen. Und angesichts solcher Aussichten setzte, was die Erforschung der symbiontischen Bakterien anging, eine lange Durststrecke ein, die bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts andauerte. Eine 1938 erschienene, detaillierte Geschichte der Bakteriologie erwähnte die in unserem Organismus ansässigen Mikroorganismen überhaupt nicht.21 Das führende Lehrbuch des Fachgebiets widmete ihnen ein einsames Kapitel, erläuterte aber vor allem, wie man sie von Krankheitserregern unterscheiden kann. Erwähnenswert waren sie nur, weil man sie von ihren interessanteren Kollegen trennen musste. Wenn Wissenschaftler sich mit Bakterien beschäftigten, dann meistens zu dem Zweck, andere Lebewesen besser zu verstehen. Wie sich herausstellte, sind viele Aspekte der Biochemie, beispielsweise die Aktivierung von Genen oder die Speicherung von Energie, im Stammbaum des Lebens überall gleich. Durch Erforschung von E. coli wollte man auch die Elefanten verstehen. Bakterien wurden zu »Stellvertretern für eine allgemeingültige, reduktionistische Einstellung gegenüber dem Lebendigen«, schrieb die Historikerin Funke Sangodeyi. »Die Mikrobiologie wurde zu einer dienenden Wissenschaft.«22

      Auf dem Weg zu größerer Bekanntheit ging es nur langsam voran. Dazu trugen neue Methoden bei, unter anderem solche zur Zucht der sauerstoffhassenden Mikroorganismen, die im Darm von Tieren vorherrschen; jetzt konnte man große Gruppen wichtiger Mikroorganismen erforschen, die zuvor für die Wissenschaft nicht zugänglich gewesen waren.23 Auch die Einstellungen änderten sich. Dank der ökologischen Mikrobiologen der Delfter Schule wurde den Wissenschaftlern klar, dass man Bakterien nicht als Einzelorganismen erforschen sollte, die man in ein Reagenzglas werfen kann, sondern als Gemeinschaften, die in Lebensräumen – in diesem Fall ihren Wirtstieren – zu Hause sind. Vertreter spezialisierter Zweige der Medizin wie Zahnheilkunde und Dermatologie studierten die Ökologie der Mikroorganismen in den jeweiligen Organen.24 Sie »stellten sich mit ihren Arbeiten gegen die dominierende Mikrobiologie ihrer Zeit«, schrieb Sangodeyi. Aber sie waren noch isoliert. Auch Botaniker beschäftigten sich mit Mikroorganismen auf Pflanzen, und Zoologen erforschten sie bei Tieren. Die Mikrobiologie war in mehrere kleine Fachgebiete zersplittert, deren bruchstückhafte Bemühungen leicht zu übersehen waren. Es gab keine einheitliche Wissenschaftlergemeinde, die sich mit symbiontischen Mikroorganismen beschäftigt hätte – keine Wissenschaftsdisziplin sozusagen. Im Geist der Symbiose musste jemand die Teile zu einem größeren Ganzen zusammen fügen.

      Dieses Ziel nahm der Mikrobiologe Theodor Rosebury, ein Experte für die Mikroorganismen im Mund, seit 1928 für die Mikrobiome des Menschen in Angriff. Mehr als dreißig Jahre lang sammelte er alle Forschungsergebnisse, die er finden konnte, und 1962 verwob er die zarten, hauchdünnen Fäden zu einem robusten Teppich: dem bahnbrechenden Werk Microorganisms Indigenous to Man.25 »Soweit mir bekannt ist, hat noch nie jemand versucht, ein solches Buch zu schreiben«, schrieb er. »Es scheint sogar das erste Mal zu sein … dass das Thema als zusammengehörige Einheit behandelt wird.« Damit hatte er recht. Sein Werk war detailliert, umfassend und ein unentbehrlicher Vorgänger des hier vorliegenden Buches.26 In vielen Einzelheiten beschrieb er die häufigsten Bakterien in allen Körperteilen. Er schilderte, wie die Mikroorganismen ein Baby nach der Geburt besiedeln. Er äußerte die Vermutung, sie könnten Vitamine und Antibiotika produzieren und so Infektionen verhüten, die von Krankheitserregern verursacht werden. Er erklärte, das Mikrobiom kehre nach einer Antibiotikabehandlung in seinen Normalzustand zurück, könne sich aber bei einer chronischen Anwendung solcher Wirkstoffe auch längerfristig verändern. Und mit den meisten seiner Aussagen behielt er recht. »Vieles von der Verachtung, mit der die normale Flora seit langer Zeit gestraft wurde, ist noch nicht wiedergutgemacht worden«, schrieb er. »Dieses Buch soll unter anderem den Vorschlag machen, genau das zu tun.«

      Es gelang. Roseburys zusammenfassende Darstellung erweckte ein daniederliegendes Fachgebiet zu neuem Leben und wurde zum Anlass für