Der Bruch. Sabine Deubler

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Название Der Bruch
Автор произведения Sabine Deubler
Жанр Сделай Сам
Серия
Издательство Сделай Сам
Год выпуска 0
isbn 9783702580841



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ein. Die Sonne strahlt vom Himmel, es ist ein herrlicher, warmer Frühlingsvormittag. Der Unternehmer steuert zügig den Rosenhügel an. Dann verlangsamt er seine Schritte. Auf der Lehne einer Sitzbank legt er sein dunkles Businesssakko ab und lässt sich nieder. Der Frühling ist in vollem Gange. Fliederduft umgibt ihn, die Rosenbüsche zeigen ihr erstes Grün. Spatzen und Amseln trällern um die Wette. Der Stimmcoach lässt seinen Blick erst zur Festung Hohensalzburg schweifen, dann auf die Rosen. Er hört den Vögeln zu, lässt sich die Sonne ins Gesicht scheinen und schließt für einen Moment seine Augen. Er genießt es: Das Gefühl, wieder richtig im Leben angekommen zu sein.

       Vor seiner Erkrankung suchte Arno Fischbacher Bühne und Applaus.

      Die Krankheit hat etwas in mir verändert. Ich gehe jetzt besser mit mir selbst um. Ich achte mehr auf die Beziehungen zu den Menschen, die mir wichtig sind. Und auf die kleinen Dinge, die geben mir Sicherheit. Oft steckt hinter einer Angst einfach ein Bedürfnis nach Sicherheit. Das wird einem aber erst dann klar, wenn man sich mit seinen Ängsten konfrontiert. Ich weiß jetzt: Man kann aus schwierigen Lebensphasen gestärkt hervorgehen. Was mir heute Sicherheit gibt, sind so kleine Dinge wie Spaziergänge. Da bleibe ich stehen und höre einem Vogel zu oder schaue mir eine Blume an. Mein Gedankenkarussell stoppt. Ich steige aus und genieße den Moment.

       „Schwester Michaela, es ist dringend!“

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       Nach überstandener Depression ist Schwester Michaela selbstbewusster als früher und wieder voller Lebensfreude. Ihre Ministricksocken zeigen psychisch Erkrankten: Mit kleinen Schritten wird man wieder gesund.

      Sie ist ihr Leben lang sorgende „Schwester“. Zuerst als ältestes Kind einer Bergbauernfamilie, später als Ordensschwester, als Krankenschwester und als Pflegedienstleiterin einer Seniorenresidenz. Dort muss sie mit immer weniger Personal auskommen, was die bis dahin fröhliche, engagierte Frau innerlich zerreißt. Doch auf ihre Grenzen zu achten, hat Schwester Michaela nie gelernt. Sie arbeitet sogar noch, als sie aufgrund einer schweren Depression Suizidgedanken hegt. Nach einem völligen Zusammenbruch dauert es Jahre, bis sie ganz genesen ist. Doch sie wird wieder lebensfroh und lernt, auch sich selbst zu lieben. Heute ist die Ordensschwester eine wertvolle Stütze für andere Menschen, die psychisch erkrankt sind.

      Auf einem Bergbauernhof in 1 300 Metern Seehöhe muss jeder mitanpacken. Ganz besonders Michaela, die älteste von fünf Geschwistern. Die „große“ Schwester. Nicht nur die Mithilfe im landwirtschaftlichen Betrieb ist ihr Tagewerk. „Pass auf die anderen auf“, sagen die Eltern. „Du könntest doch gescheiter sein“, bekommt sie, die Älteste, zu hören. Sie hat ihre Aufgabe und die muss erfüllt werden. Für Michaelas Bedürfnisse gibt es zu wenig Zeit, zu wenig Geld und zu viel Arbeit.

      Meine eigenen Gefühle habe ich nicht gekannt und durfte sie auch nicht wahrnehmen. Ich habe gar keine eigenen Bedürfnisse gehabt, weil ich immer geschaut habe, was die anderen brauchen.

      Als junge Erwachsene verlässt die große Schwester den Bergbauernhof. Doch ihr Weg scheint schon festgeschrieben zu sein. Sie tritt in eine Ordensgemeinschaft ein und wird somit immer für andere da sein.

      Nein sagen habe ich noch nie können. Außerdem habe ich immer gerne geholfen. Ich habe einen guten Hausverstand und bin geschickt. In vielen Notsituationen habe ich eine Lösung gewusst.

      Die junge Frau entscheidet sich für ein weiteres Schwesterndasein: Sie wird Krankenschwester. Für diesen sorgenden Beruf empfindet sie Leidenschaft. Sie ist in ihrem Element. Viele Jahre arbeitet sie mit großer Freude in zwei Salzburger Landspitälern. Ihren Tagesablauf – beten, arbeiten, essen – und einen Teil der freien Zeit verbringen die Mitschwestern miteinander. Sie wohnen im Personalhaus auf dem Spitalsgelände. Im Orden haben die Schwestern neben ihrer Arbeit Spaß beim Kartenspielen oder bei Theaterprojekten. Das Leben miteinander zu gestalten genießt die Bergbauerntochter. In ihren Urlauben geht sie mit einer Freundin jeden Tag Schwammerl suchen und genießt es, beim Wandern die Natur zu erleben. Auf der Männerstation arbeitet die Krankenschwester besonders gerne. Wenn sie heute an die Zeit zurückdenkt, huscht ein Lächeln über ihr Gesicht. Nach einer kurzen Nachdenkpause schildert sie im Lungauer Dialekt, wie erfüllend sie diese fordernde Arbeit empfunden hat.

      Wir haben sehr viel Spaß gehabt. Auf der Männerstation ist es lustig gewesen, wir haben aber auch sehr viel gearbeitet. Abends oder nach zwölf Stunden Nachtdienst bin sehr müde, aber auch sehr zufrieden ins Bett gefallen. Meine Mitschwester und ich waren immer zu irgendeinem Blödsinn aufgelegt. Humor hat mir bei der Arbeit immer geholfen. Meine christliche Lebenseinstellung hat mein Leben geprägt. Ich war von Anfang an Krankenschwester aus Leidenschaft. Was die Patienten brauchten, was sie wollten – das habe ich immer genau gewusst. Ihre Dankbarkeit hat mich motiviert. Ich bin für andere da gewesen, habe immer Zeit gehabt und meine eigenen Grenzen nicht gekannt. Aber das ist für mich in dem Alter kein Problem gewesen. Es ist mir ja gut gegangen. Ich habe alles gehabt, was ich zum Leben gebraucht habe. Meine Aufgaben habe ich erfüllt.

      Ihre Aufgaben erfüllt die Bergbauerntochter so gut, dass ihr eine Führungsposition übertragen wird. Ohne lange zu überlegen, willigt die Ordensschwester ein, die Pflegedienstleitung einer großen Seniorenresidenz zu übernehmen. Zwar vermisst sie den täglichen Umgang mit den Spitalspatienten, doch es gilt jetzt, neue Herausforderungen zu bewältigen. Schwester Michaela muss dafür sorgen, dass die Heimbewohnerinnen und -bewohner bestmöglich betreut und gepflegt werden. Sie hat auch darauf zu achten, dass es dem Personal gut geht. Diesen Spagat zu meistern erweist sich als sehr schwierig. Weitere Umstände verschärfen die Lage: Das Alter und die Pflegebedürftigkeit der Bewohner steigen mit den Jahren, die Anzahl des Pflegepersonals dagegen wird ständig reduziert. Wie so oft geht es ums Sparen.

       In das Seniorenheim sind immer mehr sehr alte und schon sehr pflegebedürftige Bewohnerinnen und Bewohner gekommen. Das Haus hat vier Stockwerke gehabt. Überall, wo ich im Haus hingekommen bin, hat mir das Pflegepersonal gesagt: „Schwester Michaela, wir brauchen ganz dringend mehr Personal. Unsere Bewohner brauchen immer mehr Pflege. Wir schaffen das nicht mehr.“ Ich als Krankenschwester weiß, was für eine professionelle Pflege nötig ist. Darum habe ich in den Sitzungen mit der Heimleitung ständig gesagt: „Wir brauchen mehr Personal, die Arbeit ist zu viel geworden.“ Aber meine Bitten sind völlig ins Leere gegangen. Der Sparkurs ist sogar noch verschärft worden. Es hat nur geheißen: „Michaela, wie stellst du dir das vor? Das Personal ist das Teuerste im Haus. Wir können keine Stellen mehr nachbesetzen.“

      Während die Ordensschwester über ihre Jahre als Führungskraft erzählt, spricht sie leiser. Sie wirkt nachdenklich.

      Ich bin im Spagat zwischen Verwaltung und Pflegepersonal gestanden. Das hat mich innerlich zerrissen. In der Schwesterngemeinschaft hat es zusätzlich allerlei Arbeiten gegeben. Ich bin die Jüngste gewesen und habe allerlei Zusatzarbeiten übernommen. Irgendwann hat das Grenzen.

      Die machen sich aber erst bemerkbar, als Schwester Michaela sie bereits lange überschritten hat. Sie geht so weit über ihre physischen und psychischen Grenzen hinaus, dass sie sich immer weniger spürt und schließlich ihre einstige Lebensfreude verliert. An einem sonnigen Apriltag 1994 kommen ihr zum ersten Mal Suizidgedanken.

      Ich habe gedacht: Jetzt schaffe ich es nicht mehr. Ich habe mich ausgebrannt gefühlt und daran gedacht, mein Leben zu beenden. Es ist so aussichtslos gewesen. Damals bin ich in eine lange suizidale Lebensphase gerutscht. Aber kaum jemand hat davon etwas bemerkt. Ich bin eine ausgezeichnete Schauspielerin gewesen. Meine Familie hat am wenigsten davon erfahren. Die Mitschwestern haben es teilweise mitbekommen. Sie sind aber mit dieser schwierigen Situation überfordert gewesen.

      Gewohnt, keine Schwäche zu zeigen, überspielt die Pflegedienstleiterin ihre Depression und ihre bedrohliche Situation. Sie ist am Ende, kann es sich aber nicht leisten, vor 100 Angestellten schwach und psychisch