Der Bruch. Sabine Deubler

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Название Der Bruch
Автор произведения Sabine Deubler
Жанр Сделай Сам
Серия
Издательство Сделай Сам
Год выпуска 0
isbn 9783702580841



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geflossen. Der erste dieser neun Vorbereitungstage ist ein Montag gewesen. Er hat „Tag minus 9“ geheißen. Die Tage nach dem Eingriff heißen Plustage. Das hat sich angehört, als wären diese Tage ein Geschenk.

      Die neun Vorbereitungstage sind bis ins Detail durchgetaktet. Arno Fischbacher ist fasziniert. Der penible Ablauf von früh bis spät erinnert ihn an einen großen Flugbetrieb. Eineinhalb Jahre lang hat er für die Austrian Airlines fliegendes Personal trainiert. Da war auch alles durchgetaktet. In die Klinik hat er sich seinen Laptop mitgenommen. Der hilft ihm, noch ein letztes Mal vor der Transplantation den Kalkulationsmodus einzuschalten. Im Internet liest er nach, was er alles noch wissen will. Sucht Antworten auf die Fragen, die ihn jetzt im Moment betreffen: Was genau fließt da in mich hinein? Was macht es mit mir? Die Flüssigkeiten zerstören seine Blutproduktion und fahren sein Immunsystem herunter. Der Berliner Stammzellenspender hat eine andere Blutgruppe als er. Würde Arno Fischbachers Körper die gespendeten Zellen abstoßen, wäre alles vorbei. Da sein Körper dann nicht mehr selbst Blut produzieren kann, würde er sterben.

      Bis dahin habe ich die Umstände der Transplantation noch hochkomplex und total interessant gefunden. Nun ist mir klar geworden: Wenn die Transplantation schiefgeht, habe ich Pech gehabt. Das hat mich schon beschäftigt. Das lässt auch mich nicht kalt. Aber ich habe keine Angst gespürt. Das muss an den Erfahrungen liegen, die ich in drei besonderen Phasen meines Lebens gemacht habe. In meiner Jugend ist vieles nicht rosig gewesen. Ich bin verschreckt gewesen. Damals habe ich kaum Selbstwert empfunden und stark unter Migräneattacken gelitten. In dieser Zeit habe ich lernen müssen, in schwierigen Phasen mit mir selbst klarzukommen. Mit anderen umzugehen, habe ich dann im Zivildienst in einem burgenländischen Spital gelernt. Dort bin ich oft zu den Sterbenden geschickt worden, wenn die Krankenschwestern keine Zeit hatten. Wenn es bei jemandem zu Ende gegangen ist, bin ich da gewesen. Am Amazonas in Peru bin ich Jahre später meinen eigenen Ängsten aufden Grund gegangen. Nachdem ich sie im Dschungel bei einem Curandero (Naturheiler) zum ersten Mal wirklich zugelassen habe, habe ich meine Ängste besiegt. Sie sind nicht wiedergekommen. Rückblickend hatte ich mich also schon einige Male in Ausnahmesituationen erlebt. Diese Erfahrungen kamen mir jetzt zugute. Im Spital hatte ich keine Angst vor dem Sterben.

      Als der Tag Null kommt, ist Arno Fischbachers Blutproduktion zerstört. Ein Flugzeug hat zwei Beutel mit einer beigen Flüssigkeit von Berlin nach Graz gebracht. Es sind die Blutstammzellen des Spenders. Dieses Bild wird der Sprechtrainer nie vergessen: Er liegt im Bett. Ist an zig Monitore und Apparate angeschlossen. Sie überwachen alle möglichen Funktionen seines Körpers. Hier piepst es immer und immer wieder, dort surrt ein Gerät, daneben zeichnen Apparate Kurven auf Monitore. Sechs maskierte Ärzte stehen um ihn herum, sehen ihn mit sehr, sehr wachen Augen an. Dann tritt einer von ihnen ganz nahe an das Krankenbett. Er wird gleich die Transplantation einleiten. Ein Eingriff, für die kein Skalpell verwendet wird, bei der nicht ein Tropfen Blut fließt – außer schon bald die Blutstammzellen von ihren Plastikbeuteln in den Körper jenes Menschen, dessen Leben sie retten sollen. Der Arzt braucht nicht einmal eine Minute, um jene Handgriffe zu vollziehen, nach denen Arno Fischbacher entweder leben oder sterben wird. Alle Blicke sind auf seine Hände und auf den Patienten gerichtet. Es geht los. Der Arzt hängt die Blutstammzellenbeutel an den Infusionsständer. Schließt sie an den Infusionsschlauch mit dem Dauerzugang an, der direkt in den Brustkorb des Mannes vor ihm führt. Und lässt die Blutstammzellen in Arno Fischbachers Körper einlaufen. Alle warten.

       Niemand hat ein Wort gesagt. Das war eine unglaubliche Situation. Ich habe alles rund um mich wahrgenommen. Die gebannten Blicke der Ärzte in mein Gesicht, die blinkenden Monitore, die piepsenden Apparate. Ich habe mich gefragt: „Werde ich diese Prozedur überleben?“, „Was werde ich spüren, falls mein Körper nicht mitspielt?“, „Wird es nach dem Heute für mich noch ein Morgen geben?“, „Bekomme ich nach diesem Tag Null Plus-Tage geschenkt?“ In diesem Zustand ist es mir nicht gut gegangen. Die mentale Vorbereitung hat mir aber sehr geholfen. Nach einer halben Stunde sind die beiden Flüssigkeitsbeutel leer gewesen. Mein Körper hat die Stammzellen angenommen. Da ist mir langsam gesickert: Ich habe gerade eine neue Chance zum Weiterleben bekommen. Ich lebe weiter!

      Arno Fischbacher bleibt nach der Transplantation noch einen Monat lang im Spital. Das Spitalspersonal schirmt ihn völlig ab. Das muss so sein, da sein Immunsystem zu keinerlei Abwehr imstande ist. Wenn der Unternehmer heute über diese vier Wochen spricht, pausiert er immer wieder und klingt sehr nachdenklich. Nach dem Tag Null dauert es lange, bis er überhaupt wieder aufrecht stehen kann. Dass es so dramatisch wird, hat er trotz all seiner Vorbereitungen unterschätzt. Als ein Plus-Tag sich ganz langsam an den nächsten reiht, hat sich das Leben des quirligen Mannes auf den Kopf gestellt. Zum ersten Mal seit langer Zeit hat er die Dinge nicht in der Hand. Kalkulieren bringt jetzt nichts. Es wäre auch viel zu anstrengend. Arno Fischbacher schläft so viel, wie er in seinem Leben nicht geschlafen hat. Nur wenn ihn die Krankenschwester weckt, ist er kurz wach, dann sinkt er gleich wieder in den Schlaf. Sein Körper braucht Zeit, um sich von der Behandlung zu erholen. Mit der Immunsuppression wird er fast ein Jahr lang leben müssen. Und doch holt ihn sein alter Lebensstil bald schon wieder ein. Noch im Spitalsbett gibt er sein erstes Telefoncoaching. Nach einer halben Stunde Arbeit ist er stundenlang „streichfähig“. Er merkt: Ich muss ab jetzt erkennen, wann es genug ist.

      Plötzlich bin ich nicht mehr auf der Bühne gestanden. Das erste Jahr nach dem Spital bin ich körperlich parterre gewesen. Die meiste Zeit habe ich nicht einmal genug Kraft zum Sprechen gehabt. Ich bin nur mit mir selbst beschäftigt gewesen. Gewohnt habe ich im obersten Stock unseres Hauses. Meine Frau hat dort alle Pflanzen weggeräumt. Sogar die hätten mir schaden können. Wenn Besuch gekommen ist und ich in das Wohnzimmer gegangen bin, habe ich eine Maske tragen müssen. Ich bin dann mit am Tisch gesessen und schon nach einer Viertelstunde wieder in meine Etage gegangen. Mir ist alles zu viel gewesen. Ein Jahr lang habe ich fast nicht gesprochen.

      Der Stimmtrainer spricht nicht. Er, der sonst mit vollem Elan seinen Kunden beibringt, was alles mit der eigenen Stimme machbar ist. Doch es ist zu hart. Wieder prescht Arno Fischbacher los. Fährt bereits ein halbes Jahr nach dem Eingriff nach Stuttgart, um Kinderzahnärztinnen in Sachen Stimme zu schulen. Danach ist er wieder völlig fertig. Es ist ein Wendepunkt.

      Erst nach diesem Rückschlag habe ich mich in diesem schwachen Zustand akzeptiert. Ich habe gemerkt, ich muss jetzt auf mich achten. Da hat in mir ein Wandel eingesetzt. Meine Frau ist die größte Stütze für mich gewesen. Sie ist Kunsttherapeutin an der Psychiatrie der Christian-Doppler-Klinik, sie kennt sich mit Patienten aus. Ich habe Glück gehabt. Meine Frau hat es ausgehalten, mich ein Jahr lang als hilfsbedürftigen Patienten zu erleben und zu versorgen. Einen Ehemann, der ein Jahr lang in seiner Etage schläft und schläft und fast nicht spricht.

      Dieses Jahr verändert Arno Fischbacher. Wegen der Immunsuppression erlebt der Stimmcoach gesundheitliche Rückschläge. Zwei Reha-Aufenthalte helfen ihm danach sehr. Er lernt, mehr auf seine körperlichen Bedürfnisse zu achten. Wenn er müde ist, legt er sich, ohne lang zu überlegen, hin. Als er wieder kräftiger wird, ruht er mehr in sich selbst. Verbringt endlich mehr Zeit mit seiner Frau, investiert in die Beziehung. Sein Aufstehen feiert er seither gemeinsam mit seiner Frau immer wieder. Im Kleinen – bei einem Abendessen, bei einem Glas Wein. Nicht einmal die Covid-19-Krise, in der er wochenlang keine Seminare halten darf, macht ihm Angst. Mit neuen Angeboten kommt er bei seinen Klienten gut an, sein Geschäft läuft wieder. Seine finanziellen Reserven hat Arno Fischbacher in der Krankheitsphase verbraucht und dennoch bleibt er optimistisch.

      Da ist etwas Gravierendes in mir passiert. Ich verfüge heute über eine ganz große Gelassenheit. Die Covid-19-Krise erlebe ich als einen aufregenden Neubeginn. Ich arbeite mit Lust daran, meine neuen Geschäftszweige aufzubauen. Jetzt habe ich Zeit und Energie dafür. Die Bühnenrednerei ist nicht mehr mein Schwerpunkt. Ich muss mich nicht mehr vor anderen beweisen. Stattdessen konzentriere ich mich jetzt auf Coaching. Auf das ganz persönliche Arbeiten mit Menschen an heiklen Kommunikationsmomenten. Dafür habe ich mir letzten Herbst ein Live-Trainingsstudio eingerichtet. Als ich wegen der Veranstaltungsverbote Indoor-Seminare nicht mehr machen durfte, habe ich noch eine neue Idee entwickelt. Ich mache jetzt viel Online-Beratung. Das erweitert sogar meinen Aktionsradius.

      Jetzt, zweieinhalb Jahre nach der Transplantation, geht es dem Stimmcoach