About Shame. Laura Späth

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Название About Shame
Автор произведения Laura Späth
Жанр Социология
Серия
Издательство Социология
Год выпуска 0
isbn 9783948819514



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zu sein.

      Gehen wir noch mal kurz zurück zu Sartre, der schreibt, dass für Scham eine irgendwie geartete negative Beurteilung notwendig ist. Entweder sie wird uns von außen direkt kommuniziert oder aber wir wissen, dass wir garantiert negativ beurteilt werden, würde uns jemand sehen. Eine dritte Möglichkeit ist, dass wir selbst uns negativ bewerten – dass unsere eigene Bewertung immer abhängig davon ist, was wir bisher gelernt und mitbekommen haben, ist klar. Wie wir mit diesen negativen Beurteilungen oder auch nur ihren Annahmen umgehen, bestimmt mit, wie wir Erfahrungen verarbeiten. Und das wiederum hängt auch von unserer individuellen Psyche ab: Theoretisch wäre es denkbar, Ausgrenzung hinzunehmen, ohne am eigenen Selbstwert zu zweifeln. Dann würde Scham vermutlich nur begrenzt oder gar nicht auftreten. Das ist aber vor allem natürlich im späteren Kindesalter und in der Jugend nur sehr schwer möglich. Ich für meinen Teil weiß, dass ich die Ausgrenzung der anderen stark auf mich bezogen habe und auf die Frage danach, was ich eigentlich wert bin. Zu wenig, schließe ich aus ihrem Verhalten mir gegenüber. Und weil ich glaube, dass es nicht eine konkrete Verhaltensweise an mir ist, die man nicht mag, oder ein Charakterzug, den ich an mir habe, sondern mein gesamtes Selbst, kommt Scham über mich. Sie ist – wie wir bereits wissen – das Gefühl, das auftritt, wenn du nicht eine Sache falsch machst, sondern insgesamt und komplett, als Ganzes falsch bist.

      Cut. Anmerkung zu dem, was ich bisher geschrieben habe: Meinem Schreibprozess sehe ich den Schmerz an. Meine Therapeutin fragt mich, wie ich so nüchtern über alles sprechen kann, was damals war. So als hätte ich bereits mit allem abgeschlossen, mich damit arrangiert, dass die Umstände suboptimal waren, besser hätten sein können.

      Und im Schreiben wird deutlich, was eigentlich tief sitzt. Ich schlucke immer wieder, muss ständig Pausen machen, lenke mich ab, schließe das Dokument, öffne es wieder, gehe laufen, litere Tee und Kaffee in mich hinein, um den Hunger nach dem zu stillen, was aufkommt, wenn ich über diese Vergangenheit nachdenke. Um das Loch zu schließen, das die Scham in meinen Körper gefressen hat. Wenn ich laufe, laufe ich weg von meiner Erinnerung. Und gleichzeitig hin zu einem Umgang mit ihr, der weniger schmerzhaft, aber dafür vermeidend-abwehrend ist.

      Wenn es zu hart ist, rufe ich eine Freundin an, die weiß, womit ich damals gekämpft habe. Spreche darüber, um nicht darüber schreiben zu müssen. Spreche, weil ich vor ihr nicht mehr erklären muss, sondern reden kann. Die Erklärung ist das Problem. Die Darstellung bis zur vollkommenen Nachvollziehbarkeit entzieht sich mir. Ich kann nicht lange am Stück hieran schreiben. Auch weil es viel Anstrengung kostet, sich an alles zu erinnern. Denn mein Gedächtnis hat beschlossen, das, was damals war, hinter einen sehr schweren Vorhang zu packen. Es weigert sich, ihn zu lüften. Wäre es nicht besser, die Scham begraben zu lassen, im Vertrauen darauf, dass mein Bewusstsein ganz genau weiß, womit es umgehen kann und womit nicht?

      Andererseits: Ich trage Verantwortung. Gegenüber dem Mädchen, das damals so verzweifelt nach Antworten gesucht hat. Eine Verantwortung zur Beantwortung ihrer Fragen. Es hat all das durchgestanden und hatte nicht den Schutz, den die Vergangenheitsform als Abwesenheit beinhaltet. Es hatte keinen ermutigenden Blick in die Zukunft und die Gewissheit, dass es eine geben wird. Es hatte nur sich und seinen naiven Blick auf die Welt.

      Dritte Klasse. Die beiden ersten furchtbaren Jahre sind vergangen und immer noch habe ich die Message nicht verstanden: »Du gehörst nicht hierher. Weil du nicht so bist wie wir.« An der Stelle ein Lob der Naivität: Sie ist mehr als nur ein Mittel zur Verschleierung von Offensichtlichem. Sie ist eine Überlebensstrategie. Sie ist ein Schutzmechanismus.

      In der vierten Klasse beschließe ich, dass die Zugehörigkeitsfragen endgültig geklärt werden müssen. Und dass ich diejenige bin, die zu entscheiden hat, wer zu wem gehört. Ich bilde Fronten, wiederhole das, was ich von den anderen schon kenne. Ich suche mir die Leute aus, die um mich sein sollen, und ich binde sie an mich, indem ich ihnen das Gefühl gebe, sie zu verstehen, als Einzige. Ich gebe ihnen das Gefühl von Exklusivität, weil ich verstanden habe, dass viele Menschen genau das suchen. Ich mache mir die Gruppendynamik unbewusst zunutze, die mir die ersten beiden Jahre meiner Schulzeit so zugesetzt hat. Ich bestimme das Innen, das Außen und die Grenze. Beschämen, um nicht beschämt zu werden. Die Scham abwehren, von der eigenen Scham ablenken, indem man sie anderswo produziert. Es bilden sich zwei Gruppen unter den Mädchen der Klasse, maßgeblich vorangetrieben durch mich. Kinder, die sich vorher den Heimweg geteilt haben, gehen nun getrennte Wege, weil sie nicht in derselben Gruppe sind. Wir versuchen die Willkür hinter der Gruppenbildung zu verbergen und tun so, als gäbe es wirklich Eigenschaften, die die Mitglieder der einen Gruppe gravierend von der anderen unterscheiden.

      Unser mit aller Mühe inszenierter »Bandenkrieg« dauert vielleicht ein paar Wochen und findet jäh sein Ende, als meine Klassenleitung uns alle zu einem klärenden Gespräch vor die Klassenzimmertür ruft. Ein Junge aus meiner Klasse hatte ihr gesagt, dass sich die Mädchen der Klasse in Cliquen aufgeteilt haben, einander ignorieren und ausschließen. Diese Erfahrung ist für mich die erste und einzige, bei der ich mich aktiv an Ausgrenzungsprozessen beteilige. Mein Versuch, mich zur Wehr zu setzen gegen Menschen, die mir zuvor das Gefühl gegeben hatten, nicht dazugehören zu können.

      Die beiden Cliquen vertragen sich noch am selben Tag und ich gehe wieder mit meiner Nachbarin nach Hause. Über diese ganze Bandensache verlieren wir nie wieder ein Wort. Die eigens ausgedachten Geheimschriften, das inszenierte Selbstverständnis und diese kleinen Objekte, die die Zugehörigkeiten festlegen sollten, verschwinden in einer Kiste, die wiederum irgendwann im Müll landet. Eigentlich faszinierend, wie wenig nachtragend Kinder manchmal sind. Und wie willkürlich ihre Grenzziehung funktioniert, fast schon banal. Trotzdem ist sie nicht folgenlos, sie macht etwas mit denen, die ins Abseits verfrachtet werden. Jahre später schreibe ich in ein Notizbuch, dass man eine Person dann kontrolliert, wenn man ihre Scham kontrolliert.

      Fast wünsche ich mir, es hätte weiterhin genügt, das coolere Pausenbrot dabeizuhaben. Oder sich mittels einer Geheimsprache zu verständigen, in der man sich doch letztendlich nichts zu sagen hat; die man nur verwendet, um Zugehörigkeit zur Schau zu stellen.

      Aber aus der Geheimsprache wird Alltagssprache. Und aus den kleinen Objekten werden körperliche Merkmale, Verhaltensweisen, Besitztümer, Markenklamotten, Statussymbole. Über all diese Dinge verhandeln wir tagtäglich Zugehörigkeit. Für all diese Dinge bekommen wir Anerkennung – oder eben nicht.

      Die jüngere Version meines Selbst kommt ins Gymnasium. In der fünften und sechsten Klasse denke ich nicht über Zugehörigkeiten nach. In diesem Zeitraum schäme ich mich nicht, weil mich meine Naivität weiterhin schützt. In dieser Zeit bemerke ich vielleicht erneut, dass ich anders bin, aber ich hadere deshalb nicht mit mir selbst und wünsche mir auch nicht, eine andere zu sein.

      Am ersten Schultag im Gymnasium bin ich eines der wenigen Mädchen, die sich absichtlich neben eine Unbekannte setzen. Ich nehme mir vor, direkt neue Freundinnen finden zu wollen, Kontakte zu knüpfen, mich nicht nur mit den Mädchen zu umgeben, die ich sowieso schon aus meiner Grundschule, meinem Ort kenne.

      Und es funktioniert. Ich finde Freundinnen. Ich finde sogar Freundinnen, die mich am liebsten für sich allein hätten. Ich halte mich an die Mädchen, die mich als ihre »beste Freundin« bezeichnen. Sie schützen mich vor Scham, indem sie mir Zugehörigkeit signalisieren. Ich werde für kurze Zeit eines dieser Mädchen vom Typ »Doppelpack«.

      Den Ausdruck nehme ich wörtlich: Eine »beste Freundin« zu sein heißt, die Beste in etwas zu sein, perfekt, unfehlbar. Es heißt, dass Menschen zufrieden mit mir sind, mich gerne bei sich haben. Man wird gemocht. Man passt.

      Eine »beste Freundin« ist auch diejenige, die verlässlich ist und Verantwortung trägt. Spannenderweise sucht sie sich ihre Position nicht aus: Die Rolle der »besten Freundin« ist ein Zuschreibungsphänomen. Und diese Rolle kann sie nicht verneinen ohne einen Konflikt, Streit oder den Bruch der Beziehung heraufzubeschwören. Ich war nie die Richtige für ein Doppelpack – so sehr ich sie sein wollte.

      Scham ist also anerzogen, für jüngere Kinder ist sie unbekannt. Man könnte sich nun zurücksehnen zu dieser »Zeit der Schamlosigkeit«, um es mal so pathetisch auszudrücken. In dieser Zeit sind sie aber nur vermeintlich unschuldig: Genau aufgrund ihrer Schamlosigkeit sind Kinder so grausam. Die