Название | About Shame |
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Автор произведения | Laura Späth |
Жанр | Социология |
Серия | |
Издательство | Социология |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783948819514 |
AUnter anderem Richard Wollheim, Sighard Neckel, Caroline Bohn und Achim Geisenhanslüke, die im Laufe des Buches noch stärker zu Wort kommen werden, aber auch Klassiker der Soziologie wie Georg Simmel oder Norbert Elias.
Kapitel Zwei
KEIMEN
Sei wie alle, dann bist du sicher vor dem Ausschluss aus dem Rudel.
Benehme dich ordentlich, normal, unauffällig, zahl deine Steuern,
wasch deine Gardinen, sonst wird der Mob dich erschlagen mit
Fackeln in der Hand. Wenn es schon keine neue Welt gibt nach dem
schweren Jahr, dann kann man wenigstens klein beginnen – streichen
wir das Wort »normal« aus unserem Wortschatz, es hat schon so oft
zur Vernichtung, zu Hass und Krieg geführt.
SIBYLLE BERG
Raum einnehmen: Ich wachse. Mein Körper wird größer. Ich lerne zu sitzen, zu stehen, zu gehen, zu sprechen.
In meiner Familie bin ich das jüngste Kind, das sich darüber im Klaren ist, dass alle ihm Vorgaben machen dürfen. Wobei das trotzdem nie heißt, keine Wahl zu haben. »Zu folgen« ist zunächst nicht mein Ding. Ich bin relativ schnell der Überzeugung, es besser zu wissen als der Rest der Welt.
Kinder entwickeln meist im Alter von drei bis fünf Jahren ihr Schamgefühl. Zunächst schämen sie sich immer nur für sich selbst, Fremdscham kennen sie noch nicht. Um sich zu schämen, müssen sie sich in andere Menschen hineinversetzen können. Die ersten Empfindungen von Scham sind meistens an die Regeln gekoppelt, die sie in ihrer Familie lernen und mitbekommen: Was die Eltern schlecht, falsch oder eklig finden, lehnen die Kinder oft auch erst mal ab. Das kindliche Schamgefühl ist also eng verbunden mit einem »Regelverstoß«.9 Das Schamgefühl geht mit einem ersten Anflug von Moral einher und dem Bewusstsein darüber, dass es etwas gibt, was außerhalb des eigenen Empfindens liegt: Die Gefühle und Bedürfnisse anderer, meist der Familie. Dass es überhaupt eine Welt abseits des eigenen Kopfes gibt.
Dieses Bewusstsein weitet sich im Laufe der Zeit aus: Wir bemerken, dass es nicht nur die eigenen vier Wände und vielleicht noch die Straße vor dem Haus gibt, sondern viele Straßen, viele Häuser, ganze Städte, Länder, Kontinente, die sich dem eigenen Blick entziehen.
Das bedeutet auch, dass es für jeden Menschen eine Zeit ohne Scham gegeben haben muss. Auch für mich. Über diese Zeit kann ich nichts sagen und vielleicht kannst du das über deine auch nicht, denn: Erst in der Abgrenzung zu anderen, also dadurch, dass wir erkennen, dass wir nicht identisch mit anderen sind, dass wir uns von ihnen unterscheiden, können wir uns selbst wahrnehmen. Unsere Gefühle, unsere Bedürfnisse, unser individuelles Wesen. Byung-Chul Han schreibt in Die Austreibung des Anderen: »Der Andere ist konstitutiv für die Bildung eines stabilen Selbst.«10 Konflikte sind notwendig, um eine stabile Identität zu entwickeln, beständige Bindungen und Beziehungen aufzubauen. Das Problem des Menschen der Gegenwart sei aber, dass dieser nur den Zustand des Funktionierens oder Versagens kenne, aber nicht den Zustand des Konflikts.11 Bezogen auf Scham kann ich nicht uneingeschränkt mit Han mitgehen, der behauptet, wir würden »dem Anderen« nicht mehr wirklich begegnen, sondern in unseren immer gleichen Filterblasen verloren gehen.12 Aber dann dürfte es ja eigentlich auch nicht mehr zu Scham kommen, oder? Denn für Scham ist der Blick der anderen, entweder wirklich oder in der eigenen Vorstellung vorhanden, essenziell: Sighard Neckel, wohl einer der bekanntesten Soziologen, wenn es um Scham geht, macht deutlich »dass das menschliche Selbstbewusstsein auf die Wahrnehmung durch andere angewiesen und damit durch sie auch verwundbar ist. Das persönliche Selbstbewusstsein baut sich nicht nach der Logik des eigenen Ich auf. Das persönliche Selbstbewusstsein versichert sich seiner durch die Wertungen Dritter, und an diesen Wertungen geht es womöglich zugrunde.«13 Neckel und Han haben gemeinsam, dass sie um die Bedeutung der anderen für die Bildung einer eigenen Identität wissen. Erst dadurch, dass wir ein »Außen« definieren, also etwas, das außerhalb unserer eigenen Grenzen, unseres Körpers liegt, entwickeln wir ein Gefühl dafür, wer wir denn eigentlich sind, was uns als Individuen ausmacht. Aber genau mit dieser Abgrenzung von anderen wird gleichzeitig das Schamgefühl ermöglicht. Wir sind auf das angewiesen, was außerhalb unseres Selbst liegt. In der Scham zeigt sich, dass das vielleicht nicht so weit weg ist, wie Han denkt.
Wir lernen, dass wir nicht nur Beobachtende sind, sondern gleichzeitig auch immer die Objekte von Beobachtung. Und dass wir uns von anderen unterscheiden, möglicherweise auch in einer Art, die wir selbst oder aber andere nicht gutheißen. Es gibt also nicht nur unseren eigenen Blick, der sich beurteilend und bewertend auf andere richtet, sondern immer auch den Blick der anderen, der wiederum uns bewertet und beurteilt. In diesem Blick der anderen liegt laut Jean-Paul Sartre die erste Möglichkeit für Scham: »Die Scham aber ist […] Scham über sich, sie ist Anerkennung dessen, daß ich wirklich dieses Objekt bin, das der Andere anblickt und beurteilt.«14
… und beurteilt. Sartre beschreibt, dass der Blick kein neutraler ist, sondern dass dieser uns prüft. Und wenn andere und wir selbst merken, dass wir anders sind als jene oder als »die Norm«, wenn dieses Anderssein dann von uns selbst und anderen negativ beurteilt wird, schämen wir uns.
Das klingt komplex. Das klingt nach schwierigen Philosophen, die sich in ihren Studierzimmern irgendwas mit Blicken und Objekten und Subjekten überlegt haben. Deshalb sehe ich mir an, wann eigentlich meine Scham eingesetzt hat und worauf sie sich bezogen hat. In der Hoffnung, dass der Beginn des Schamgefühls verständlicher wird.
Mein Opa, bei dem ich als Kind die meiste Zeit verbringe, und ich haben unseren eigenen kleinen Kosmos, mit unseren eigenen Regeln: Wir sind gut zu anderen, tun uns und auch niemand anderem weh. Wir machen niemandem Ärger, entsprechen den an uns gestellten Erwartungen und streiten nicht mit Leuten, schon gar nicht mit unserer Familie. Am wichtigsten aber ist: Wir kümmern uns um andere. Vor allem kümmert er sich um mich und ich mich um ihn, aber auch sonst kümmern wir uns um andere. Meine Familie trägt Fürsorge für mich und ich gebe diese Fürsorge zurück, indem ich keinen Mist baue.
Im Kindergarten hätte es dank meiner Kindergärtnerin viel Potenzial für Scham gegeben, aber ich realisiere das damals nicht als Beschämung. Ich schlucke ihre Grausamkeiten schlicht runter, schiebe sie weg, befasse mich nicht damit. Dass meine Kindergärtnerin mir bedingungslosen Gehorsam auf ziemlich harte Art und Weise beigebracht hat, verstehe ich erst Jahre später. Aus ihren Erziehungsmethoden lerne ich, dass ich mich nach anderen zu richten habe, wenn ich nicht bestraft werden will. Auf ihre Methoden werde ich an anderer Stelle noch zurückkommen, denn deren Folgen zeigen sich erst einige Jahre später.
Weil ich im Kindergarten lerne, mich immer anzupassen und unterzuordnen, bin ich auch in Konflikten mit meiner Familie relativ wehrlos. Ich versuche, Streit zu vermeiden und weiß nicht, wie ich zu mir oder für mich einstehen soll. In ernsteren Streitsituationen mit Familienmitgliedern stehe ich immer nur da, den Tränen nahe und kann keine Widerworte geben. Ich schweige. Während dieser Zeit fühle ich mich oft schuldig, wenn man davon ausgeht, dass Schuld sich auf Handlungen bezieht und Scham auf das Selbst:A Ich nehme mich nicht grundsätzlich als falsch wahr, sondern ordne meine Handlungen dann als fehlerhaft ein (und mich als schuldig), wenn diese von außen so bewertet werden. Mein Verhalten richte ich vorsorglich immer anhand der Meinung anderer aus, ich bin ein Schwamm: Ich sauge einfach alles auf, was ich in meinem Umfeld wahrnehmen kann und entscheide danach, was ich eigentlich will und fühle. Ich lerne also nicht richtig, mich eigenständig und bewusst von anderen abzugrenzen, sondern ich werde abgegrenzt, von außen, von anderen. Zur Gänze erklären kann ich diese Prozesse auch heute nicht, aber meine mangelnde Fähigkeit zur Abgrenzung macht mich ziemlich schamanfällig, was nicht folgenlos bleibt: Ich lerne nicht, in der Differenz zu leben.
Im Kindergarten zeigt mir niemand, dass meine Gefühle und Bedürfnisse in Ordnung sind und dass ich bei Meinungsverschiedenheiten nicht gleich verlassen werde. Konflikte bedeuten für mich immer auch potenziell Alleinsein als Strafe, obwohl das gar nicht